01.11.2003
Loblied auf den Kuhdung
Essay von Thomas DeGregori
Vandana Shiva proklamiert einen Weg zurück in eine Vergangenheit, die es nie gab, und in eine Zukunft, die niemand will
Einst galt das postmoderne anti-wissenschaftliche Gedankengut primär als Eigentum europäischer und nordamerikanischer Geisteswissenschaftler. Heute ist sein Einfluss nicht nur international, er hat sich auch auf Diskurse über Globalisierung, Gentechnologie in der Landwirtschaft und über Umweltschutz ausgedehnt.
Niemand kann die vorherrschende Internationalisierung des Postmodernismus und seinen Respekt vor anderen Kulturen und Völkern anzweifeln (sieht man von den Kulturen ab, die sich der modernen Wissenschaft und Technologie und ihren Vorzügen verschrieben haben). Auch können wir die Aussage nicht widerlegen, dass wir alle Vorurteile haben, obwohl es gerade wissenschaftliche Methoden sind, die uns helfen, persönliche und kulturelle Begrenzungen zu überwinden. Der postmoderne Glaube an den Wert und die Würde aller menschlichen Wesen ist tadellos. Dennoch: Was hier beleuchtet werden soll, ist der grundlegende Widerspruch zwischen dem, was das postmoderne Gedankengut propagiert, und seinen praktischen Konsequenzen in den Entwicklungsländern. Dieser Widerspruch ist oft so eklatant, dass er alle Verdienste überschattet. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Respekt für „traditionelles Wissen“ befördert nicht etwa Multikulturalismus, sondern resultiert in der Unterstützung haarsträubender Formen von kulturellem Chauvinismus und von Intoleranz, die schnell auch in Gewalt umschlagen können.
Traditionelles Wissen und reaktionäre Politik
Vandana Shiva ist wohl eine der bekanntesten Ökofeministinnen weltweit: Ihr Denken ist zutiefst ökologisch und ganzheitlich, postmodernistisch und technologiefeindlich. Sie ist eine führende Globalisierungsgegnerin und Sprecherin derjenigen, die ihrer Ansicht nach keine Stimme haben. Als ausgebildete Wissenschaftlerin agiert Dr. Shiva als lebendiger Gegenbeweis für eine Fülle anti-wissenschaftlicher Ansichten sowie für das Misstrauen gegen wissenschaftliche Methoden per se (es sei denn, diese unterstützen ihre eigene ideologische Agenda).
„Der Respekt für „traditionelles Wissen“ befördert nicht etwa Multikulturalismus, sondern resultiert in der Unterstützung haarsträubender Formen von kulturellem Chauvinismus und von Intoleranz, die schnell auch in Gewalt umschlagen können.“
Zeitgemäße ökofeministische Literatur ist fast unlesbar, vor allem, wenn es um die Grüne Revolution in der Landwirtschaft, von der gesagt wird, sie sei ein Reinfall, oder um „organische“ Landwirtschaft geht. In der Lage zu sein, Shiva als Autorität zu zitieren, ermöglicht den Vertretern dieses Denkens, über globale Landwirtschaft zu reden, ohne genaue Kenntnisse darüber zu besitzen, wie die Völker der Erde Getreide anbauen und ihre Familien ernähren.
Eine Anführerin allein definiert mit Sicherheit noch keine Bewegung, aber Shiva ist mit ihrer Verdammung des „wissenschaftlichen Reduktionismus” innerhalb der globalen ökologischen und ökofeministischen Bewegung derart prägend, dass ein ernsthaftes Hinterfragen ihrer Person in vielerlei Hinsicht Fragen zur gesamten Bewegung aufwirft. Shivas Ideen, die in der westlichen Welt von Ökofeministinnen und anderen als radikal und revolutionär angesehen werden, führen in der Praxis oft zu reaktionären Konsequenzen.
Dies mag für gutmeinende Anhänger ein Schock sein, für viele jedoch ist der Glaube an die fundamentale Richtigkeit von Shivas Botschaft so stark, dass es schier unmöglich ist, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die indische Wissenschaftsphilosophin Meera Nanda zeigt auf, dass der viel gepriesene „ganzheitliche Weg des Wissens ... tief im Herzen des indischen Kastenwesens und der Geschlechterhierarchie verwurzelt ist“[1]: „Die Rolle, die die Göttinnen und Ideen der Heiligkeit der Natur dabei gespielt haben, Frauen bis heute zu unterdrücken, wird von den Enthusiasten alternativer Wissenschaften nicht richtig verstanden.“[2] Es ist das hochverehrte „lokale Wissen” der Hindu-Kosmologie von „Karma und Kaste”, das benutzt wurde, die Unterdrückung der Dalits (die Unwürdigen, Unterdrückten und Unberührbaren) zu rechtfertigen. Die Befreiung der Frau ist verknüpft mit dem Überwinden genau der kulturellen Ansichten über Heiligkeit und Ganzheitlichkeit, die von Shiva propagiert werden.
Viele von denen, die heute „regionale Wege des Wissens” propagieren, waren zu vor-postmodernen Zeiten, wie wir hoffen, selbst deren Gegner: Von 1948 an, seit der Wahl der National Party in Südafrika, bis in die frühen 90er-Jahre, nannte man eine ähnliche Verehrung traditionellen Wissens „Bantu-Erziehung“. Dieses System war hierzulande besser bekannt unter dem Namen „Apartheid“, und viele von uns verbrachten einen Großteil ihres Erwachsenseins in aktivem Widerstand dagegen, ähnlich den Aktivisten, die heute die Tugenden regionalen Wissens preisen.Eine von vielen Begründungen für den Widerstand gegen die Apartheid und ihre vielen unterdrückenden Programme war, dass die so genannte „Bantu-Erziehung” selbst einen weißen Studenten daran hinderte, sich rationales Wissen anzueignen, mit dem er in der modernen Welt Erfolg hätte haben können. Heute gibt es etwas, das fälschlich als „Wissenschaftsstudien“ bezeichnet wird und eine „Navajo-Methode des Wissens“ (die „gewiss spiritueller und ganzheitlicher ist als europäische Methoden“) beim Lernen von Mathematik propagiert. Diese Methode zeichnet sich aus durch das Lehren der Integralrechnung vor der Bruchrechnung. Eines von vielen Problemen dieser Lehrmethode ist die Schwierigkeit, die Krümmung einer Linie – eines der fundamentalen Dinge der Integralrechnung – anders als mittels Bruch- oder Dezimalrechnung auszudrücken. „Während also wohlmeinende Lehrer sich derlei Schwierigkeiten ausdenken, müssen Navajo-Kinder aufwachsen, ohne gelernt zu haben, wie man eine Mehrwertsteuer berechnet.“[3] Von den Elitebezirken westlicher Universitäten ausgehend hat sich der „Multikulturalismus“ in weitere Teile der Welt ausgebreitet. Während also in Indien Shivas Ökofeminismus den Hindu-Chauvinismus unterstützt, berufen sich auf der anderen Seite der Grenze pakistanische Befürworter der „islamistischen Wissenschaft“ in ihren Kampagnen auf die Arbeiten feministischer Wissenschaftskritiker, um Schulen von westlichen Ideen zu säubern. Und gewisse feministische Professoren im Westen – vielleicht geschmeichelt von der Tatsache, dass ihre Arbeiten am anderen Ende der Welt zitiert werden – zitieren ihrerseits wiederum auf freundliche Weise die Islamisten.[4]
Doch damit nicht genug: Als die rechtsgerichtete indische Bharatiya Janata Partei (BJP) in Uttar Pradesh 1992 an die Macht kam, wollte sie den „Nationalstolz“ erwecken, indem sie „wedische Mathematik zum Pflichtfach in indischen High Schools machte“.[5] Diese „Hindu-Methoden des Wissens“ umfassten regierungsgeprüfte Texte, die die Standardalgebra und die Integralrechnung durch sechzehn Sanskrit-Verse ersetzte.
Die Hinduisierung geht weit über die Mathematik hinaus: sie propagiert die Überlegenheit der „arischen Rasse“ und die Abscheu gegen alle Fremden, Moslems eingeschlossen. Die BJP ist ein Ableger der RSS (Organisation Nationaler Freiwilliger), die aktiv den Hass gegen Moslems und Christen in Indien geschürt hat, an der Zerstörung moslemischer und christlicher Andachtsstätten beteiligt war und tödliche Aufstände gegen Nicht-Hindus unterstützte. Postmoderner ökofeministischer Multikulturalismus mag in manchen Bereichen ein wertvolles Ansinnen sein. Wenn es jedoch durchsetzt ist von der „Verdächtigung moderner Wissenschaft als einer Metabeschreibung von binärem Dualismus, Reduktionismus und konsequenter Beherrschung der Natur, Frauen und der Dritten-Welt-Bevölkerung“, unterstützt es reaktionäre Hindu-Modernisten in ihrer Forderung nach den „gleichen ganzheitlichen, nicht-logozentrischen Wegen des Wissens, und dies nicht als Anleitung für die Unterdrückten, sondern zum Ruhme der Hindu-Nation selbst“.[6]
Die „Chipko-Bewegung“
Viele lokale Aktivisten wie Shiva, die im Westen von globalisierungskritischen grünen Kreisen gefördert werden und unkritisches Lob erhalten, sind in ihren eigenen Ländern massiver Kritik ausgesetzt – eine Tatsache, die weitgehend unter den Teppich gekehrt wird. Nachdem ein höchst schmeichelhafter Artikel in einer malaysischen Zeitung Shiva als Anführerin der Chipko-Bewegung (Baumschützer) in Indien bezeichnet hatte, schickten die örtlichen Chipko-Aktivisten Protestbriefe an den Herausgeber, in denen sie kritisierten, dass Shiva „nachweislich Falschaussagen über Chipko in der ausländischen Presse publiziere“.
Shiva bezeichnete Chipko als Modell radikalökologischer und ökofeministischer Ideologien. Für den Wissenschaftler und Umweltschützer Jayanta Bandyopadhyay sind solche Ideologien „Mythen ohne faktische Basis“. Als aktiver Unterstützer der Chipko-Dörfer sieht er diese Bewegung „verwurzelt in wirtschaftlichen Konflikten über die Nutzung von Bergwäldern“ und als „soziale Bewegung basierend auf der Zusammenarbeit der Geschlechter“, sie ist somit alles andere als eine „feministische Bewegung basierend auf Geschlechterkonflikten“.[7]Chipko ist nur ein Beispiel dafür, wie externe Aktivisten und wohlmeinende Idealisten eine Bewegung für sich und die eigene ideologische Agenda vereinnahmen. Ursprünglich wollte man „an den Chipko-Protesten teilnehmen“, um die regionale Kontrolle über die Baumbestände zu erlangen, um eine forstwirtschaftliche Industrie zu errichten und den Himalaya-Dorfbewohnern die Möglichkeit zu eröffnen, Arbeit zu finden, ohne in die großen Städte abwandern zu müssen.
Nicht nur werden lokale Belange beiseite gewischt, oftmals verschlechtert sich die Situation der Ortsansässigen sogar durch die „Unterstützung von außen“. Dies trifft vor allem auf Umweltschutzprojekte zu, sei es in Afrika, in Zentralamerika oder in Indien.
Eine von Shivas „Chipko-Frauen“ stellte verbittert fest, dass die Bewegung das Leben im Tal verschlechtert hat: „Jetzt sagen die mir, dass die Strasse [zu unserem Dorf] nicht gebaut werden kann, weil alles jetzt parovarian [Umwelt] ist ... Wir bekommen nicht einmal Holz, um ein Haus zu bauen… Unsere ha-haycock [Rechte und Konzessionen] wurden uns entrissen.“[8]
Die Grüne Revolution
Vandana Shiva tendiert häufig dazu, in seitenlangen Schmähschriften gegen die Grüne Revolution und ihr unersättliches Verlangen nach chemischen Düngemitteln zu Felde zu ziehen und zu behaupten, es gebe bessere Wege, die gleichen Erträge in der Landwirtschaft zu erzielen (Shiva 1991). Aber Pflanzen benötigen Nährstoffe, um zu wachsen. Jedes Molekül und jeder Bestandteil einer Pflanze muss von irgendwo herkommen. Pflanzen entnehmen alle notwendigen Nährstoffe dem Boden, Ausnahmen sind das Kohlendioxid aus der Luft oder das atmosphärische Nitrogen, das über Zyanbakterien aufgenommen wird. Ein höherer Pflanzenertrag bedarf demzufolge einer höheren Nährstoffzufuhr. Der oft wiederholte Vorwurf Shivas, gentechnisch veränderte Pflanzen bedürften mehr Düngemittel, ist ungefähr so gewichtig wie der, dass drei Kinder mehr essen als eines. Wenn der Boden nicht genügend Nährstoffe bereithält, müssen diese zugesetzt werden. Vandana Shivas Argumente bedeuten letztlich, dass man Pflanzen ohne Nährstoffe ziehen oder mit herkömmlichen Pflanzen den gleichen Ertrag erzielen könne wie mit gentechnisch veränderten, wenn man Nährstoffe zuführe, die „organischen“ Quellen entstammten. Dies ist offenkundig unsinnig und widerspricht unserem grundlegenden Verständnis der Physik.
„Vandana Shiva und ihre Kollegen sind eher bereit, Hungersnöte in Kauf zu nehmen, als ihre Vorurteile gegenüber moderner Technik zu überdenken.“
Über die Jahre hat Shiva eine große Anzahl solcher Unsinnigkeiten über Erträge in der traditionellen indischen oder in anderen traditionellen Landwirtschaften geäußert. Schon bevor die Grüne Revolution die Nachfrage nach synthetischen Düngemitteln dramatisch steigen ließ, gab es eine große Differenz zwischen der Menge an Nährstoffen, die dem Boden in Indien entzogen, und den verfügbaren „organischen“ Nährstoffen, die ihm wieder zurückgegeben werden. Tatsächlich wurde dem Boden doppelt soviel entzogen, wie zurückgeführt wurde. Entgegen Shivas Behauptung kann man diesen Prozess auf Dauer nicht fortsetzen. Angesichts des dramatischen Anstiegs der landwirtschaftlichen Erträge in Indien in den vergangenen vier Jahrzehnten – bedingt durch die Verdoppelung der Einwohnerzahl – wird das Defizit an „organischen“ Nährstoffen in Zukunft weiter wachsen.
Shiva hängt auch dem Glauben an, dass die lokale Getreideproduktion „wassersparend“ sei.[9]Dabei gilt für gentechnisch veränderte Pflanzen, dass sie, gemessen an ihrem Gesamtgewicht, einen höheren Fruchtanteil produzieren (Ernteindex) und somit insgesamt eine geringere Nährstoff- und Wasserzufuhr pro Ertragseinheit nötig ist. Es ist diesen Zugewinnen an landwirtschaftlicher Effizienz und Ertrag pro Hektar - im Besonderen durch den Einsatz biotechnologisch veränderter Pflanzen - zu verdanken, dass heute die Versorgung einer doppelt so großen Weltbevölkerung mit 30 Prozent mehr Nahrung möglich ist, und dies bei einem nur geringen Zuwachs an kultivierter Ackerbaufläche (etwa vier Prozent für Getreide). Bei Reis waren die Steigerungen der Wasserproduktivität bemerkenswert: Gemäß eines kürzlich veröffentlichten Berichts der UN Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) „besitzen die modernen Reisvariationen einen dreifachen Zuwachs an Wasserproduktivität im Vergleich zu traditionellen Sorten“.[10]Für den Gesamtwasserverbrauch in der Landwirtschaft gilt, dass „die Wasserproduktivität zwischen 1961 und 2000 um mindestens 100 Prozent gestiegen ist“, während sich der Pro-Kopf-Wasserverbrauch halbiert hat.[11]Was die FAO vorrangig beschreibt, ist der Ertragszuwachs und die gesteigerte Pflanzen-Effizienz durch Technologien der Grünen Revolution, die Shiva so vehement kritisiert.
„Die Moderne gibt uns die Freiheit, vollständig an ihr teilzuhaben und gleichzeitig eine lokal orientierte persönliche Identität zu wahren. Dies ist eine Toleranz, die in traditionellen Gesellschaften, wie sie Shiva proklamiert, nur selten existiert.“
Biotechnologen arbeiten an der Züchtung noch effizienterer Pflanzen – ein Ziel, gegen das Shiva und ihre Gefolgschaften heftig opponieren. In Lobgesängen auf den Kuhdung beschreibt Shivas prä-Grüne Revolution der indischen Landwirtschaft einen gesunden, autarken, mit ausreichend Kalorien versorgenden, nährstoffreichen Nahrungsmittelvorrat auf ökologisch nachhaltiger Basis. Warum Hunderte Millionen indischer Landbauern diese utopische Existenz verweigern und stattdessen gentechnisch verändertes Getreide sowie moderne landwirtschaftliche Technologien befürworten, wird hingegen nie erklärt. Gleichsam unerklärt bleibt, warum, wenn moderne Technologien die Bevölkerung in Armut und in vielen Fällen in den Selbstmord treiben, wie Shiva behauptet, die Lebenserwartung sowohl der Land- wie auch der Stadtbevölkerung in ganz Asien so stark gestiegen ist. Vielleicht wissen diejenigen, die tatsächlich Getreide anbauen und ihre Familien damit ernähren, etwas über die Landwirtschaft, was Shiva und ihre Aktivistenkamerad(inn)en nicht wissen.
Widersprüche, Fehler und doppelte Standards
Widersprüche und Fehler sind in Shivas Arbeiten und derer, die sie verehren, vorherrschend. So behauptete sie beispielsweise in einer öffentlichen Lesung im kanadischen Toronto, dass das Preisniveau für Nahrungsmittel in Indien sowohl sich verdopple als auch sinke. Mit der Begründung, dass die Technologien der Grünen Revolution versagt hätten, lässt sie den Preis für Nahrungsmittel in Indien sich verdoppeln, so dass die Konsumenten sich angeblich nichts mehr leisten können. Wenn sie jedoch die Vereinigten Staaten dafür kritisieren möchte, Nahrungsmittel in den indischen Markt zu „dumpen” und dadurch indische Bauern in den Selbstmord zu treiben, behauptet sie, dass subventionierte ausländische Nahrungsmittel die „Preise nach unten drücken“.[12]Shiva-inspirierte Technologiekritik erreichte ihren Höhepunkt, als humanitäre Hilfe für Menschen in Not für den Einsatz von moderner Technologie kritisiert wurde. Nach einem verheerenden Wirbelsturm sammelten Mitarbeiter von Shiva im Rahmen von „Hilfsarbeiten” Muster gespendeten Getreides ein und ließen diese auf genetische Modifikationen testen. Nach der Behauptung, sie seien genetisch modifiziert, verlangte Shivas Organisation „Diverse Women for Diversity“, dass das indische Parlament die Getreide-Soja-Mischung von Orissa unverzüglich zurücknehmen solle. Offensichtlich sind Shiva und ihre Kollegen eher bereit, den Hungertod der Wirbelsturmopfer in Kauf zu nehmen, als ihre Vorurteile gegenüber angeblich kontaminierten (für sie ein Synonym für „genmanipulierten“) Nahrungsmitteln zu überdenken.[13]Shiva bewegte sogar Umweltaktivisten wie Prinz Charles dazu, für Hungerhilfe vorgesehene Gelder in Höhe von jährlich mehreren zehn Millionen Dollar direkt in die Fonds von Greenpeace und anderen Umweltorganisationen umzuleiten. Man darf sich fragen, wie vielen Bauern von Shivas „Diverse Women for Diversity“ oder ihrem „Research Foundation for Science, Technology and Ecology“ geholfen wurde, um mehr Getreide anzubauen. Wie viele Bedürftige haben diese Organisationen ernährt? Und im Namen der Transparenz: Welches sind die Quellen ihrer Finanzierung?
Regionales vs. modernes Wissen
Diejenigen, die regionales Wissen favorisieren, respektieren es oftmals nur so lange, wie es konform läuft mit ihrer eigenen ideologischen Agenda. Ideen, die der Befreiung dienen, enden als Instrumente der Unterdrückung. Ihre Befürworter in entwickelten Ländern scheinen in virtuellen Potemkinschen Dörfern zu leben, in seliger Unwissenheit darüber, dass regionales Wissen traditionelle Eliten (tendenziell zusammengesetzt aus der männlichen Oberklasse) privilegiert. Diese nutzen den rhetorischen Ökofeminismus für ihre Zwecke, hegen jedoch keinen Wunsch nach Klassen-, Rassen- und Geschlechtergleichstellung. Jeder, der an der ökonomischen Entwicklung teilhat, ist sich der Wichtigkeit regionalen Wissens bewusst und der Notwendigkeit, es zusammen mit anderem verfügbaren Wissen anzuwenden. Es gibt jedoch einen sehr großen Unterschied zwischen der Anwendung regionalen Wissens und der Tatsache, von ihm dominiert und limitiert zu werden.
Der Modernismus, der Gesellschaften geöffnet hat und ethnischen und anderen Minoritäten erlaubte, gleiche Rechte zu fordern und der es nicht zuletzt Frauen ermöglichte, die männliche Vorherrschaft herauszufordern, wird nun denen verweigert, die in den ärmeren Ländern am meisten des Wandels bedürfen. Die Unterdrückten und Benachteiligten brauchen weniger eine herablassende Würdigung ihres Wissens als vielmehr Möglichkeiten, dieses Wissen herauszufordern.
Modernes Wissen erlaubte es Menschen wie Meera Nanda, sich von Praktiken wie erzwungener Heirat und anderen Formen der Vorherrschaft zu lösen und dennoch ein Gefühl der Identität mit ihrer Ursprungskultur zu wahren. Genau diese Rationalität der Aufklärung, Wissenschaft und Moderne ist es, die zur Bildung toleranterer multikultureller Gesellschaften beitrug. Wie Nanda sagt: „Wir sind jetzt alle Hybriden.“14 Ich würde hinzufügen, dass wir bereits seit einiger Zeit Hybriden sind. Vor mehr als 60 Jahren skizzierte der Anthropologe Ralph Linton den „soliden amerikanischen Bürger“, der aufwacht in einem „Bett, entstanden aus einer Vorlage, die dem Nahen Osten entstammte“, der durch den Tag geht und Gegenstände seiner täglichen Routine, die diversen globalen Ursprungs sind, als gegeben hinnimmt, und ihn beendet, indem er einer „jüdischen Gottheit in einer indo-europäischen Sprache dafür dankt, ein hundertprozentiger Amerikaner“ zu sein.[15]
„Die Unterdrückten und Benachteiligten brauchen weniger eine herablassende Würdigung ihres Wissens als vielmehr Möglichkeiten, dieses Wissen zu entwickeln.“
Wichtiger noch: die Moderne gibt uns die Freiheit, vollständig an ihr teilzuhaben und gleichzeitig eine lokal orientierte persönliche Identität zu wahren. Dies ist eine Toleranz für Diversivität, die in traditionellen Gesellschaften, wie sie Shiva proklamiert, nur selten existiert. Moderne Wissenschaft und Technologie sind zentrale Bestandteile dieser Hybride. Wie viele von uns schon lange argumentieren (Nanda eingeschlossen), bedeutet die Bezeichnung von Wissenschaft und Technik als „westlich” nichts anderes, als dass man die Anmaßung des 19. Jahrhunderts der exklusiven Urheberschaft anerkennt, obwohl doch der Fortschritt ein universelles Bemühen ist und bleibt, zu dem alle Völker beigetragen haben, genauso wie sie zu Lintons Artefakt des hundertprozentigen Amerikaners beitrugen.
Shiva und die ihren mögen die moderne Wissenschaft einen logophallozentrischen Reduktionismus nennen und mit weiteren negativ besetzten Slogans belegen, die den feministischen Prinzipien entgegenstehen; dennoch aber ist modernes Wissen in der Tat befreiend. Shiva und ihre Kollegen mögen sich „fremdartigen” Ideen „geopfert” sehen, aber es ist zu bezweifeln, dass dies für so viele in der Welt zutrifft, die davon profitiert haben, sei dies durch mehr Getreide oder durch Impfungen oder Antibiotika.
Man kann darüber streiten, wie weit wir gekommen sind in Richtung einer gerechteren Gesellschaft und wie weit wir noch gehen wollen; unzweifelhaft ist aber, dass in Ländern wie den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa sich die rechtliche und soziale Situation von Minderheiten und von Frauen in den vergangenen Jahrzehnten enorm verbessert hat. Vandana Shiva proklamiert einen Weg zurück in eine Vergangenheit, die es nie gab, und in eine Zukunft, die niemand wirklich will, eingeschlossen diejenigen, die ihr blind folgen.