14.09.2012
Libyen – Die Trümmer der US-Nahostpolitik
Kommentar von Karl Sharro
Der Angriff auf das Konsulat in Bengasi offenbart die Schwäche der USA im gesamten Nahen Osten. Die hiesigen Diskussion über den Mohammed-Film lenken nur vom eigentlichen Problem ab: Die US-Außenpolitik ist konfus und widersprüchlich. Eine Analyse des Nahostexperten Karl Sharro
„Wie konnte das geschehen? In einem Land, das wir zu befreien geholfen haben? In einer Stadt, die wir vor der Zerstörung bewahrt haben?“, fragte Hillary Clinton.
Der brutale Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi am späten Dienstagabend, bei dem vier Amerikaner starben, zeigt deutlich die Schwäche der amerikanischen Position im Mittleren Osten seit Beginn des Arabischen Frühlings. Die Verlautbarung der US-Außenministerin Hillary Clinton kurz nach dem Angriff drückte Schock und Unglauben der Obama- Administration angesichts der Ereignisse aus. Obama gab sein Zögern, in Libyen direkt zu intervenieren - fälschlicherweise von vielen als „Führung von hinten“ fehlinterpretiert - seinerzeit eilig wieder auf und dokumentierte schon damit den improvisierten Charakter seiner Nahost-Politik. Der Tod der US-Diplomaten ist ein dramatischer Hinweis darauf, dass genau dieses Improvisieren ohne klare Ziele die US im Nahen Osten in eine Position der Schwäche manövriert hat.
Überraschenderweise wurde von den meisten Kommentatoren der politische Kontext des Angriffs auf das Konsulat einfach ausgeblendet. Der Angriff, ebenso wie eine vorher vor der amerikanischen Botschaft in Kairo stattgefundene Demonstration wurden vor allem auf einen in den USA produzierten Film über den Propheten Mohammed zurückgeführt. Bereitwillig wurde die Auffassung akzeptiert, wonach die abfällige Darstellung des Propheten in diesem Film einen wütenden Mob zur Rache angeregt hatte. Dabei bedachte man allerdings weder die Wahl des Ziels noch das Timing des Angriffs (der Jahrestag des Terroranschlags vom 11. September 2001).
Es gibt Indizien dafür, dass es sich bei den Reaktionen auf den Film in der arabischen Welt um eine sorgfältig orchestrierte Kampagne handelt, die die Wut gegen den Film und seine Macher schürte, um sie dann in anti-amerikanische Aktionen zu kanalisieren. Der bereits 2011 produzierte und angeblich extrem beleidigende Film wurde bis jetzt fast nicht zur Kenntnis genommen – ein Indiz dafür, dass er nur als Vorwand diente, um den Volkszorn anzustacheln. Während der Proteste in Kairo, wo Demonstranten die US-Botschaft belagerten und eine US-Flagge verbrannten, tatsächlich wie das Werk einer wütenden Masse aussah, war der Angriff in Libyen ganz anderer Art.
Eine Operation mit einer großen Zahl mit schweren Waffen ausgerüsteter Kämpfer, bei der zehn libysche Sicherheitskräfte ums Leben kamen, kann man nur schwerlich über Nacht organisieren. Es mag möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Film und dem Anschlag geben, aber es gibt dafür bisher keine wirklich handfesten Hinweise. Es ist eher anzunehmen, dass der Angriff von einer Gruppe durchgeführt wurde, die in Opposition zur US-Präsenz in Libyen und deren Rolle in der libyschen Politik steht.
Dies wirft zum einen ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit der libyschen Behörden, für Sicherheit im Land zu sorgen und paramilitärische Gruppierungen zu entwaffnen, aber noch mehr auf die Unfähigkeit der USA, Kontrolle über die von ihnen mitverschuldete Situation in Libyen zu gewinnen. Die sich verschlechternde Sicherheitslage in Libyen innerhalb der letzten Monate wurde in westlichen Medien kaum beachtet. Daraus erklärt sich wohl auch, wieso sich viele Kommentatoren so schwer damit taten, den Angriff auf das Konsulat im Kontext der anhaltenden heftigen Machtkämpfe in Libyen zu deuten, statt ihn einfach als isolierten Wutausbruch der arabischen Straße zu interpretieren.
Das entscheidende an der Sache ist, dass die USA selbst durch ihre Intervention in Libyen, Gruppierungen unterstützten und wahrscheinlich auch bewaffneten, die den USA und ihrer Rolle in der Region unversöhnlich gegenüber stehen. Das Ergebnis war schon absehbar als beschlossen wurde, in Libyen zu intervenieren, aber noch entscheidender ist, dass die USA es seither versäumt haben, ihre Macht in Libyen auf eine Weise zu konsolidieren, die es ihnen erlaubt hätte, ihre Interessen zu verteidigen und ihre dortige Präsenz abzusichern. Dass die Geheimdienste es nicht fertig brachten, die Bedrohung rechtzeitig zu erkennen, ist bezeichnend für einen umfassenden Rückgang des Einflusses der USA in der Region und ihrer Fähigkeit, die dortigen Ereignisse zu kontrollieren.
Erschwerend kommt hinzu, dass es so scheint, als hätten die USA auch kaum noch Einfluss auf ihre regionalen „Verbündeten“, insbesondere Saudi-Arabien, das bewaffnete Gruppen in Syrien und Libyen finanziert, die sich als Gegner der USA verstehen. Die syrischen Rebellen klagen immer wieder über die unverhältnismäßige Macht kleinerer extremistischer Gruppen, die diese durch die „verzerrende“ Unterstützung der Saudis erlangt haben. Ähnliches ist auch in Ägypten zu beobachten, dort mit Hilfe politischer und finanzieller statt militärischer Unterstützung.
Die USA werden auf die Angriffe mit Druck auf die libysche und ägyptische Regierung reagieren, die Drahtzieher zu finden und zu verhaften, und sie werden zweifellos sehr lautstark versuchen, ihre verlorene Autorität wiederherzustellen. Sie werden auch, worauf frühere Berichte schließen lassen, ihre militärische und nachrichtendienstliche Präsenz in Libyen wieder ausweiten. Trotzdem gibt es keinen Zweifel, dass die USA erneut nur in der Lage sind, zu reagieren, statt den Lauf der Ereignisse in dieser strategisch so wichtigen Region zu bestimmen.
Augenscheinlich mangelt es der US-Politik im Nahen Osten an Kohärenz, und sie haben es versäumt, ihre Position seit dem schmählichen Rückzug aus dem Irak und dem Zusammenbruch der maßgeblich von ihr bestimmten regionalen Ordnung nach dem Sturz der Regimes in Ägypten und Tunesien erneut zu festigen. Und während republikanische Politiker Obama für seine Politik angreifen, ist es bemerkenswert, dass sie genau die gleiche Inkohärenz und mangelnde Klarheit an den Tag legen, wenn es um die Nahost-Politik geht. Dies geht über parteipolitische Streitereien weit hinaus. Es ist die grundlegende Frage, was die große Erzählung zur Legitimierung des amerikanischen Engagements in der Region wohl sein soll.
Die Ereignisse der vergangenen Jahre sollten den Mythos des großen US-amerikanischen Plans für den Nahen Osten gründlich zerstört haben. Dennoch beziehen sich weiter viele auf diese veraltete und sich immer und immer wieder als falsch erwiesene Vorstellung. Die Realität ist, dass die USA seit vielen Jahren willkürliche und oft auch widersprüchliche politische Ziele in der Region verfolgen und dass sich dieser Trend fortzusetzen scheint. Der Kern des Problems dabei ist die Unfähigkeit der USA zu bestimmen, was ihre langfristigen Interessen in der Region sind und wie sie diese mit minimalem Einsatz von Gewalt garantieren könnten.
Der Angriff auf das amerikanische Konsulat kann sich als ein Einzelfall herausstellen. Die junge libysche Regierung kann ihn in den Griff bekommen und weitere Nachspiele verhindern, aber es ist auf jeden Fall eine Illusion anzunehmen, dass die Rolle der USA bei der Vertreibung Gaddafis Amerika in eine angenehme Position in Libyen versetzt hätte. Es gibt Kräfte in Libyen, die offensichtlich bereit sind, mit allen, auch gewalttätigen Mitteln gegen den Prozess der Demokratisierung im Land vorzugehen, und möglicherweise auch fähig sind, diesen zum Entgleisen zu bringen, eine Aussicht, die auf weitere amerikanische und internationale Intervention hinauslaufen könnte. Die USA könnten sich bald in einer Situation befinden, die sie zwar nicht angestrebt, zu der sie aber dennoch unbeabsichtigt beigetragen haben.