01.05.2003

Libeskind: Das Trauma als Bauwerk

Analyse von Vicky Richardson

Eigentlich folgt auf Zerstörung Aufbau. Nicht so bei den Plänen zur Gestaltung von Ground Zero. Von Vicky Richardson

Es kommt nicht oft vor, dass Architekten in die Oprah Winfrey Show eingeladen werden. Doch als vor kurzem in einem Wettbewerb der Architekt ermittelt werden sollte, der den Auftrag zum Entwurf eines neuen World Trade Center bekommt, wurde das Thema Architektur zum Diskussionsgegenstand von Fernsehtalkshows und New Yorker Partys.
Kaum hatten sich die Staubwolken nach den Anschlägen in Lower Manhattan gelegt, da entwickelte sich eine emotionale und furiose Debatte darüber, was denn nun die untergegangenen Zwillingstürme ersetzen sollte. Manche Architekten meinten, es sollten aus Trotz sogar noch höhere Wolkenkratzer an der Stelle des ohnehin schon imposanten World Trade Center errichtet werden. Andere sagten, Ground Zero solle zu einer Gedenkstätte gemacht werden.
Die ersten Entwürfe, die die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) erstellt hatte, wurden als fad und langweilig abgetan. Die LMDC beugte sich der Kritik und organisierte schließlich einen Wettbewerb, an dem neun Stararchitekten teilnahmen.
Die konkurrierenden Entwürfe wurden im Dezember 2002 eingereicht. Im Februar 2003 hatte sich die Liste der in Frage kommenden Entwürfe auf zwei reduziert: auf den Entwurf von Daniel Libeskind sowie den einer multinationalen Gesellschaft namens THINK. Schon bevor Libeskind am 27. Februar zum Gewinner ausgerufen wurde, galt er als moralischer Sieger, da es ihm gelungen war, die Unterstützung der Überlebenden des 11. September und der Familien der Opfer zu gewinnen. Und das, obwohl nicht alle Architekturkritiker von seinem Entwurf überzeugt waren.
Das Konzept von THINK schlug vor, das World Trade Center durch ein „Welt-Kulturzentrum“ zu ersetzen. Viele favorisierten dieses großzügige Konzept: es sah ein Paar offener Gittertürme vor, zusammengesetzt aus Gebäuden, die mehrere Architekten entworfen hatten. Dies wäre auch eine sichere Wahl gewesen, denn das Team von THINK wurde von Rafael Vinoly und Frederic Schwarz geleitet, zwei der erfolgreichsten kommerziellen Architekten New Yorks.
Die Entscheidung zugunsten von Libeskind wurde als Sieg der Avantgarde gefeiert und war ein Schlag ins Gesicht des traditionellen Architektur-Establishments.

„Libeskinds Entwurf „Memory Foundations“ steht für Amerikas gegenwärtige morbide Konzentration auf Tod und Konflikt.“

Was war das Besondere an Libeskinds Ideen, die offenbar so sehr mit der New Yorker Stimmungslage einpendelten? Libeskinds Entwurf „Memory Foundations“ steht für Amerikas gegenwärtig morbide Konzentration auf Tod und Konflikt. Der Vorschlag nimmt die klaffende Wunde, die die Zwillingstürme hinterließen und aus der die Flammen noch Tage nach den Anschlägen loderten, zum Ausgangspunkt. Überreste der schwarz gesengten Betonmauern sollen an die Schrecken des 11. September erinnern. Dieser Teil des Entwurfs kam bei den Überlebenden der Anschläge und den Familien der Opfer gut an, die meinen, der Ort sei „heilig“ und solle deshalb erhalten bleiben.
In der Architektur sprechen Bilder eine deutlichere Sprache als Worte. Jedoch tat sich Libeskind besonders hervor, als er seine Gefühle zum Projekt äußerte:
„Ich kam, um mir den Ort anzuschauen, seine Kraft zu sehen und zu fühlen und seine Stimmen anzuhören, und das ist es, was ich hörte, fühlte und sah. Diese Wände sind ein Wunder, geschaffen, den Hudson River zurückzuhalten. Sie standen beim unvorstellbaren Trauma der Zerstörung, und sie sind so vielsagend wie die amerikanische Verfassung, indem sie die Dauerhaftigkeit der Demokratie und den Wert des Lebens jedes Einzelnen behaupten.“
Jeder Aspekt von Libeskinds Entwurf ist dazu gedacht, einem ans Herz zu gehen. Im „Park of Heroes“ sollen die Namen der bei den Anschlägen eingesetzten Feuerwehr- und Rettungsdienste im Gehweg eingeprägt sein: Sie werden auf einer Achse angeordnet, die zwischen dem Zentrum von Ground Zero und der Dienststelle des Rettungsdienstes verläuft.
So genannte „Lichtkeil“-Gebäude sollen so angeordnet sein, dass die Kreuzung der Fulton Street und der Greenwich Street einmal im Jahr von Sonnenlicht durchflutet wird – und zwar am Morgen des 11. September zwischen 8.46 Uhr und 10.28 Uhr, dem Zeitraum zwischen dem Einschlag des ersten Flugzeugs und dem Zusammenbruch des zweiten Turmes. Der Höhepunkt von Libeskinds Entwurf würde selbst Walt Disney mit Stolz erfüllen: Der vorgesehene Beobachtungsturm ist genau 1776 Fuß hoch (1776 als das Datum der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung).
Solche Art von Symbolik wird denjenigen vertraut sein, die Libeskinds Schöpfungen in Europa besichtigt haben: das Jüdische Museum in Berlin und das Imperial War Museum North in Manchester. Diese Gebäude sind durch ihre Zerrissenheit geprägt, sie haben verwinkelte Wände und spitz hervortretende Kanten. Deshalb erinnern sie eher an Gedenkstätten des Krieges als an herkömmliche Architektur. In der Tat: Laut Libeskind repräsentieren die oft als ein Motiv vorgesehenen Glasscherben den „andauernden Konflikt in unserer Gesellschaft“.

„Warum soll ein bedeutender Teil von Manhattan der artistischen Verkörperung eines feindlichen Angriffs gewidmet sein?“

Die Aufgabe, ein neues Gebäude auf Ground Zero zu errichten, ist für jeden Architekten die Chance seines Lebens. Aber Libeskind sieht sie als die Möglichkeit, seine emotionale Vorgehensweise bis zum Äußersten zu treiben. Libeskind spricht oft davon, wie Krieg und Leiden sein Leben geprägt hätten. Er wurde in Polen geboren, seine Eltern waren Überlebende des Holocaust, und er verbrachte seine Kindheit in Israel, bis seine Familie nach New York zog. Seine Frau lernte er in einem Sommer-Camp von Überlebenden des Holocaust kennen.
Mehrere Architekturkritiker haben darauf hingewiesen, dass die subjektive Natur seiner Arbeit etwas Neues sei, dass Architekten ihre Gefühle nur selten zum Ausdruck brächten und dazu neigten, lieber über die funktionalen und technischen Gesichtspunkte ihrer Arbeit zu sprechen. Der Unterschied zwischen Libeskind und einem kühlen, rationalen Architekten wie Norman Foster ist wie der Unterschied zwischen Prinzessin Diana und einem königlichen Staatsoberhaupt.
Wie Libeskind bei einer der zahlreichen öffentlichen Debatten während des Wettbewerbs sagte:
„Der Entwurf und der Wiederaufbau des World Trade Center muss ein spiritueller Prozess sein, nicht bloß ein die Architektur betreffender. Es geht nicht nur um die sichtbaren Winkel, sondern um die Verwinkelungen in der Seele. Die innere Entsprechung zur äußeren Haut ist entscheidend.“
Indem er seine eigenen Gefühle zum 11. September zum Ausgangspunkt seines Entwurfs macht, stellt sich Libeskind über jede Kritik. Ein Autor musste dies schmerzlich erfahren: Am 6. Februar 2003 brach der Architekturkritiker der New York Times, Herbert Muschamp, das Schweigen, als er Libeskinds Vorschlag einer umwerfenden Kritik unterzog und als „emotional manipulierend“ bewertete. Muschamp führte aus:
„Wäre der Wettbewerb dafür gedacht, den zerrissenen Eindruck des Schocks festzuhalten, den man kurz nach dem 11. September fühlte, so hätte Libeskinds Entwurf den ersten Platz tatsächlich verdient. Aber warum soll ein bedeutender Teil von Manhattan ständig der artistischen Verkörperung eines feindlichen Angriffs gewidmet sein? Dies ist eine erstaunlich geschmacklose Idee. Daraus ist ein vorhersehbar kitschiges Ergebnis hervorgegangen.“


Obwohl Muschamp als kontroverser und konflikterfahrener Kritiker bekannt ist, muss selbst ihn die Flut von Briefen an die New York Times überrascht haben, die seine Entlassung forderten. Viele der Briefe entstanden jedoch auf Anregung von Libeskinds Büro-Chef, der eine E-Mail an die Großen und Guten der Architektur zirkulierte und diese dazu drängte, den Herausgeber der New York Times zur Entlassung Muschamps aufzufordern. Die inquisitorische Debatte erreichte einen neuen Tiefpunkt, als Muschamps Kollege Martin C. Penderson vom Metropolis Magazine sein Editorial mit dem Titel „Warum die New York Times einen neuen Architekturkritiker braucht“ versah.
All dies gibt eher Muschamp Recht. Der Ansatz von Libeskind wirft uns in einen quasi-religiösen Zustand zurück, in dem Vernunft durch Emotion ersetzt und Kritik als solche als Beleidigung verdammt wird.

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