19.03.2013

Indigene Völker: Konservierte Rückständigkeit

Von Patrick Hayes

Eine europäische NGO will den Stamm der Jarawa auf der zu Indien gehörenden Inselgruppe der Andamanen vor der modernen Welt „schützen“. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs Indiens weist in eine andere Richtung. Patrick Hayes über den Export westlicher Fortschrittsfeindlichkeit.

Warum versuchen eine britische Zeitung und eine westliche NGO mit vereinten Kräften eine Straße zu sperren, die Tausende von Meilen entfernt auf einer kleinen indischen Inselgruppe, den Andamanen, liegt - eine Straße, die über 100.000 Menschen den Zugang zu lebenswichtigen medizinischen Einrichtungen ermöglicht?

Für die 105.000 Bewohner der mehr als 400 Dörfer von Diglipur bis nach Baratang im Norden und in der Mitte von South Andaman Island ist die Great Andaman Trunk Road ein unentbehrliche Verbindung zur Inselhauptstadt Port Blair. Die in den 1980er Jahren eröffnete Straße ist ein wichtiger Handels- und Kommunikationsweg für die Einheimischen. Sie ermöglicht es ihnen unter anderem, zum einzigen staatlichen Krankenhaus der Insel zu gelangen. Ohne diese Straße wäre dies für viele Inselbewohner nur über den Seeweg möglich.

Aber die Bedürfnisse von zehntausenden Menschen sollten nach Meinung der NGO Survival International (SI) und der Zeitung The Observer - beide in London ansässig - in den Hintergrund treten. Als selbst ernannte Beschützer der Jarawa, einem Stamm von Inselureinwohnern mit etwa 250 bis 400 Mitgliedern, beanstanden SI und der Observer, dass die Straße durch deren Land führt.

„Die angeblichen Interessen einer Handvoll Jawara über diejenigen alle anderen Inselbewohner zu stellen, ist absolut undemokratisch.“

Das Siedlungsgebiet der Jarawa ist über 1.000 Quadratkilometer groß. Das sind mehr als 12 Prozent der Fläche der Andamanen und Nikobaren. Dabei machen die Jawara nur 0,1 Prozent der Inselbevölkerung aus. Seit der Eröffnung der Straße halten sich viele Jawara in deren Nähe auf, weil sie auf Geschenke und Lebensmittel von den Reisenden hoffen. Bei diesen Interaktionen kam es zu einigen abstoßenden Vorfällen, von denen einer auf Video aufgezeichnet wurde. Der Observer berichtete, dass ein nicht im Dienst befindlicher Polizist dabei gefilmt wurde, wie er eine Jawarafrau dazu antrieb, für Essen zu tanzen und damit Touristen zu unterhalten.

Im Januar dieses Jahres reagierte der Oberste Gerichtshof Indiens auf den laut Observer großen „nationalen und internationalen Druck“. Er ließ die Andaman Trunk Road teilweise sperren und untersagte Touristen, das Jawara-Gebiet zu betreten. Bereits bisher durften nur sehr wenige Autos die Straße benutzen, nun wurde der Verkehr noch einmal um zwei Drittel eingeschränkt. Der Observer, der in einer Reihe von Artikeln die Schließung der Straße forderte, geriet deswegen geradezu ins Schwärmen: „Zum ersten Mal können die Stammesmitglieder durch ihren Dschungel wandern, ohne den neugierigen Blicken von zehntausenden Touristen ausgesetzt zu sein, die jedes Jahr zu den Inseln in der Bengal-Bucht reisen.“ SI begrüßte unterdessen die Entscheidung, die Straße teilweise zu sperren, und bezeichnete sie als einen „Sieg“.

Nun aber folgt das Oberste Gericht einem von Inselbewohnern eingereichten Antrag, wonach die Straße zu einer wichtigen “Lebensader“ der Insel erklärt wurde. Also wurde die Wiederöffnung der Straße angeordnet und streng überwachte Touristenausflüge über die Andaman Trunk Road zu den nahegelegenen Tropfsteinhöhlen und dem Schlammvulkan wurden wieder erlaubt. Die Abgeordneten der Inselgruppe äußerten sich dazu folgendermaßen: „Bei allen Sympathien für die Jarawa findet man es nicht sehr logisch, den Zugang von 400.000 Menschen zur Infrastruktur und anderen Vorzügen zu verhindern, um einer Gruppe von lediglich 300 Personen, die sich in einem primitiven Entwicklungsstadium befinden, die Ressourcenhoheit zuzugestehen.“

„Die Kampagne zur Konservierung der Jarawa nutzt denjenigen im Westen, die der Moderne ohnehin skeptisch gegenüber stehen.“

Voraussehbarerweise löste dieses Urteil bei den westlichen Aktivisten keine Freude aus. Der SI-Direktor nennt die Entscheidung „äußerst alarmierend “und verpflichtete sich, die Kampagne für die Schließung der Straße weiter energisch voranzutreiben.

Solche Kommentare zeigen, wie wenig das Engagement von SI humanistisch begründet ist. Welche Organisation, die von sich behauptet, im Interesse der Menschen zu handeln, könnte einfach so die Tatsache ignorieren, dass die Schließung einer solchen Straße für zehntausende von Menschen bedeuten würde, das einzige staatliche Krankenhaus der Insel nur noch über den Seeweg erreichen zu können?

Die angeblichen Interessen einer Handvoll Jawara über diejenigen alle anderen Inselbewohner zu stellen, ist absolut undemokratisch. Schließlich sind die Jarawa Menschen und keine bedrohte Tier- oder Pflanzenart (obwohl sie eine Organisation als „menschliche Ökologie“ bezeichnet). Und, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe („Finger weg von Eingeborenen, denn ‚Fortschritt tötet‘“), schützt die Isolation von der modernen Welt sie gerade nicht davor, zu Attraktionen in einem „Menschenzoo“ zu werden, tatsächlich hält sie erst die Isolation in genau einem solchen fest.

Die Aktivisten, die eine Abschottung der Jarawa von der modernen Welt fordern, behaupten, dass sie sich durch den Kontakt mit Menschen auf der Great Trunk Road mit Krankheiten infizieren könnten. Dabei ist offensichtlich, dass sie damit nicht nur Keime meinen, sondern auch die Verbreitung dessen, was die Aktivisten ebenfalls als Krankheit sehen - die Moderne. Die Webseite von SI enthält die Rubrik „Progress can Kill“ (Fortschritt kann töten), wo Entwicklung per se als schmutzig und krankmachend dargestellt wird. Das Fortschreiten in ein modernes Leben wird hier folgendermaßen dargestellt: „Fortschritt = HIV/AIDS, Hunger, Übergewicht, Selbstmord, Sucht und Tod.“

Offensichtlich handeln diese selbsternannten Beschützer der Jarawa nicht im Interesse der Bevölkerung der Andamanen und Nikobaren. Aber bei dem Versuch, die Jarawa in einer Art kulturellen Formaldehyd zu konservieren, ist es allerdings auch schwer zu erkennen, wie dies den Jawara hilft.

Die Kampagne zur Konservierung der Jarawa nutzt denjenigen im Westen, die der Moderne ohnehin skeptisch gegenüber stehen. Sie gehen mit unterentwickelten Stämmen, also echten Menschen, so um wie der britische Künstler Damien Hirst mit Haien: Sie werden für immer in der Vergangenheit eingefroren, damit reiche Leute sie anglotzen und sich dabei gut fühlen können. Der Oberste Gerichtshof Indiens handelte richtig, als er die Straße wieder öffnen ließ, denn die Versuche von SI sind wirklich ein Weg ins Nirgendwo.

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