01.03.1999
Im Namen der Opfer
Von Christine Horn
Gegen einen besseren Schutz von Opfern gibt es auf den ersten Blick nichts einzuwenden. Schließlich sind sie es, die unter einer Straftat leiden und oft auch noch vor Gericht enormen seelischen Belastungen ausgesetzt sind. Dennoch ist der Trend zu mehr Opferschutz im Strafverfahren, den die neue Bundesregierung beschleunigen will, äußerst problematisch. Christine Horn über die aktuelle Diskussion und ihre Hintergründe.
“Der Schutz der Schwächeren durch das Recht wird einen Schwerpunkt meiner Arbeit bilden”, erklärte die sozialdemokratische Justizministerin Herta Däubler-Gmelin anläßlich des Inkrafttretens des Zeugenschutzgesetzes im Dezember letzten Jahres. Bereits ihr Vorgänger Schmidt-Jortzig (FDP) hatte zuvor einen Perspektivenwechsel im Strafgesetzbuch zum Standpunkt des Opfers angekündigt. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, stand dem in nichts nach. Er monierte wiederholt, daß die Befugnisse von Zeugen in Strafverfahren und die Handlungsmöglichkeiten von Opfern nicht ausreichend seien. Die “Entmachtung und Enteignung” der Verbrechensopfer müsse zurückgenommen werden, sagte er.
Es zeichnet sich ab, daß die Auseinandersetzung um mehr Opferschutz in Strafverfahren in den kommenden Monaten weiter an Bedeutung gewinnen wird. Hierfür spricht die anhaltende Diskussion in den Medien über Verbrechensopfer. Sei es zum Thema Kindesmißbrauch oder zu Jugendkriminalität: es herrscht ein breiter Konsens darüber, daß die Stellung des Opfers im Gerichtssaal noch weiter verbessert werden muß. So hieß es kürzlich in einem Kommentar in der Frankfurter Neuen Presse:
“Unsere Rechtspolitiker müssen grundsätzlich den Opfern von Gewalttaten endlich das demütigende Gefühl nehmen, daß vor Gericht oft die Empfindsamkeiten der Täter verständnisvoller beurteilt werden, als die eigenen Qualen”. (3.12.98)
KRITIK AM STRAFVERFAHREN
Am Strafrecht wird vor allem kritisiert, daß es zu sehr um das Wohl des Täters besorgt sei und die Interessen und Belange des Opfers weitgehend ignoriere. Verfechter einer Strafrechtsreform fordern, daß das Opfer nicht in der Stellung eines bloßen “Der Schutz der Schwächeren durch das Recht wird einen Schwerpunkt meiner Arbeit bilden”, erklärte die sozialdemokratische Justizministerin Herta Däubler-Gmelin anläßlich des Inkrafttretens des Zeugenschutzgesetzes im Dezember letzten Jahres[1]. Bereits ihr Vorgänger Schmidt-Jortzig (FDP) hatte zuvor einen Perspektivenwechsel im Strafgesetzbuch zum Standpunkt des Opfers angekündigt. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, stand dem in nichts nach. Er monierte wiederholt, daß die Befugnisse von Zeugen in Strafverfahren und die Handlungsmöglichkeiten von Opfern nicht ausreichend seien. Die “Entmachtung und Enteignung” der Verbrechensopfer müsse zurückgenommen werden, sagte er[2].
Es zeichnet sich ab, daß die Auseinandersetzung um mehr Opferschutz in Strafverfahren in den kommenden Monaten weiter an Bedeutung gewinnen wird. Hierfür spricht die anhaltende Diskussion in den Medien über Verbrechensopfer. Sei es zum Thema Kindesmißbrauch oder zu Jugendkriminalität: es herrscht ein breiter Konsens darüber, daß die Stellung des Opfers im Gerichtssaal noch weiter verbessert werden muß. So hieß es kürzlich in einem Kommentar in der Frankfurter Neuen Presse:
“Unsere Rechtspolitiker müssen grundsätzlich den Opfern von Gewalttaten endlich das demütigende Gefühl nehmen, daß vor Gericht oft die Empfindsamkeiten der Täter verständnisvoller beurteilt werden, als die eigenen Qualen”. (3.12.98)
KRITIK AM STRAFVERFAHREN
Am Strafrecht wird vor allem kritisiert, daß es zu sehr um das Wohl des Täters besorgt sei und die Interessen und Belange des Opfers weitgehend ignoriere. Verfechter einer Strafrechtsreform fordern, daß das Opfer nicht in der Stellung eines bloßen Beweismittels belassen werden dürfe. In seinem Gutachten zum 62. Deutschen Juristentag in Bremen 1998 beklagte der Kölner Professor Thomas Weigend die Einstufung des Zeugen als bloßes Mittel zur Beweisführung[3].
Von den Kritikern der gängigen Strafrechtspraktiken wird häufig thematisiert, daß das Opfer bei Gericht enormen psychischen Belastungen ausgesetzt sei, um die sich Staat und Gesellschaft bislang zu wenig gesorgt hätten: Belastungen, hervorgerufen durch die Anonymität des Gerichts, durch Ängste, die mit der Aussage einhergehen oder durch Schuldgefühle, die das Opfer unter Umständen durch die Fragen der Verteidigung bekommt: “Immer wieder wird berichtet, daß die psychischen Belastungen tief sitzen, länger andauern, von Zeit zu Zeit wiederkommen und vielleicht ein ganzes Leben lang nicht mehr zu verdrängen sind.”[4]
Obwohl diese Beschreibungen - wenn auch manchmal übertrieben dargestellt - im allgemeinen sicherlich zutreffend sind, ist es bedenklich, daß die Frage, warum dem Opfer bei Strafverfahren früher nur eine Rolle als Beweismittel zuteil wurde, heute unbeantwortet im Raume stehen bleibt.
Daß sich der Begriff “bloßes Beweismittel” unterdessen wie ein Schimpfwort anhört und dem Gesetzgeber in dieser Sache selbst auf dem Juristentag mit einem gewissen Unverständnis gegenübergetreten wird, gibt Anlaß zur Vermutung, daß die notwendige sachliche Distanz zu einer in den Medien emotional geführten Debatte über Opferschutz selbst in juristischen Kreisen fehlt.
DAS OPFER ALS BEWEISMITTEL
Straftrechtstheoretisch entspringt die Stellung des Opferzeugen als Beweismittel vor Gericht der Vorstellung, daß das Opfer im modernen Strafrecht neutralisiert ist. Im Gegensatz zu früheren Rechtsordnungen sollte es nicht mehr selbst, etwa durch Rache und Fehde, die Strafverfolgung in die Hand nehmen. Vielmehr nahm der Staat ihm diese Sache ab (siehe hierzu die Erläuterungen unter “Die Neutralisierung des Opfers”). Das Opfer trat daher im Strafverfahren auch nicht als Partei, sondern als Zeuge bzw. Beweismittel auf. In Anbetracht der gravierenden Konsequenzen eines Strafverfahrens für den Angeklagten sollten Bedingungen hergestellt werden, die ein möglichst gerechtes Verfahren garantieren würden. Da die Aussage des Opferzeugen im Strafverfahren eine wichtige Rolle spielt, oft sogar das einzige Beweismittel ist, sollte sie möglichst unbeeinflußt vom Gericht geprüft werden können. In dieser Rolle wurden dem Opfer durch das Strafrecht zwar gewisse Pflichten auferlegt. Dies kann aber nicht als eine Mißachtung seiner Person interpretiert werden. Die Neutralisierung des Opfers bedeutete nicht, daß es als Opfer mißachtet wurde. Schließlich ist der Rechtsbruch gegen das Opfer sogar der Auslöser für die staatliche Strafverfolgung. Auch seine Rolle als Beweismittel ist, wie selbst Vertreter des Weissen Rings, einer Opferschutzorganisation, die sich seit ihrer Gründung Mitte der siebziger Jahre für die Belange von Verbrechensopfern einsetzt, erklärt haben, nicht gleichzusetzen mit schlechter Behandlung oder Diskriminierung:
“Verschiedene Erhebungen haben gezeigt, (...) daß die konkreten Opfer, die ein Verfahren durchgemacht hatten, überwiegend, von ganz wenigen Deliktseigentümlichkeiten abgesehen, recht zufrieden waren damit, wie man mit ihnen umgegangen war. Also, es ist kein Problem, daß überwiegend, wie manchmal in den Medien gesagt wird, mit den Opfern rüde umgesprungen würde, daß Opfer wirklich diskriminiert würden.”[5]
DAS OPFER WIRD ZUR PARTEI
Bezeichnend für die aktuelle Debatte über die Stellung des Opfers ist, daß sich die Forderung nach weiterem Ausbau von Opferschutzrechten und einer Verbesserung der Subjektstellung des Zeugen immer mehr durchsetzt (wenngleich eine vollständige Gleichstellung von Angeklagtem und Opferzeugen in der Regel abgelehnt wird). Die Problematik soll anhand des 1986 verabschiedeten ersten Opferschutzgesetzes betrachtet werden. Damals fand ein grundlegender Perspektivenwechsel statt, auf dem die heute diskutierten Forderungen aufbauen. Vor allem auf drei Entwicklungen soll hier hingewiesen werden:
1. Zeugen, bzw. Opferzeugen, wurde für einen vollkommen neuen Bereich ein allgemeines Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt - und zwar dann, wenn es sich um Fragen handelt, die den persönlichen Lebensbereich betreffen. Die Frage darf nur dann dennoch gestellt werden, wenn der Richter meint, daß sie zur Wahrheitsermittlung unerläßlich ist. Wie schwierig es sein dürfte, dies zu entscheiden, wird unter “Das Opferschutzgesetz 1986: Die Stärkung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren” erläutert.
2. Die Belastung des Zeugen durch die direkte Konfrontation mit dem Angeklagten kann erstmals als Begründung dienen, den Angeklagten für die Zeit der Vernehmung des Zeugen aus dem Gericht zu entfernen - und zwar dann, wenn die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen besteht (§247 StPO). In diesem Fall sagt der Zeuge zwar vor Gericht aus und kann auch vom Verteidiger weiterhin befragt werden. Da der Angeklagte sich aber zu dem Zeitpunkt nicht im Gerichtssaal befindet, kann er zum einen die Befragung nicht mehr unmittelbar beeinflussen. Zum anderen wird auch die Möglichkeit des Gerichts, bei der Zeugenaussage die Interaktion zwischen Opferzeugen und Angeklagten zu beurteilen, eingeschränkt.
3. Durch das Gesetz von 1986 wird die Personengruppe, der gewisse Rechte im Verfahren zugebilligt werden, wesentlich erweitert. Zum einen wurde der Katalog der Straftaten, die zum Anschluß als Nebenkläger berechtigen, vergrößert. Nebenkläger haben im Vergleich zum normalen Opferzeugen eine privilegierte Position (Akteneinsichtsrechte, Beweisantragsrechte, etc.). Zum anderen wurde allen Verletzten, die ein berechtigtes Interesse darlegen können, die Möglichkeit eingeräumt, einen rechtlichen Beistand zu beantragen und damit ein begrenztes Akteneinsichtsrecht in Anspruch zu nehmen. Auch hier wurde einschränkend festgelegt, daß dies unter anderem vom Richter verweigert werden kann, wenn der “Untersuchungszweck gefährdet scheint”. Dies ändert aber nichts daran, daß die Stellung des Verletzten generell gestärkt wird.
Warum diese Verbesserung der Stellung des Verletzten zwar für den einzelnen mit Sicherheit von Vorteil, aber deshalb noch lange nicht vorbehaltlos zu begrüßen ist, wird deutlich, wenn man sich die Folgen einer Ausweitung der Schutzrechte und des Akteneinsichtsrechts seitens des Opferzeugen vor Augen führt: Ein wichtiger und richtiger Grundsatz des Strafverfahrens, der besagt, daß die Zeugenaussage möglichst spontan und unvoreingenommen sein sollte, wird dadurch nachhaltig durchbrochen. Der Opferzeuge, der zwangsläufig, ebenso wie der Angeklagte, parteiisch ist und seinen Standpunkt vor Gericht geltend machen will - streng genommen wollen beide das Gericht von ihrer Version der Wahrheit überzeugen -, bekommt nun die Möglichkeit, sich auf seine Aussage vorzubereiten und eine Strategie zu entwickeln. Seine Aussage ist nicht mehr unvoreingenommen, sondern strategisch durchdacht und daher für das Gericht schwerer zu durchschauen. Dadurch wird zum einen die Wahrheitsermittlung des Gerichts erschwert, denn der Zeuge ist eben nicht mehr nur Beweismittel, sondern tritt quasi als Partei auf. Durch seine Vorbereitung ist seine Aussage für das Gericht erheblich schwerer zu bewerten. Zum anderen aber tangiert dies zwangsläufig auch das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren. Die Gefahr, daß der Angeklagte aufgrund einer durch den vorbereiteten Opferzeugen konstruierten Wahrheit fälschlicherweise für schuldig gesprochen oder das Strafmaß zu hoch angesetzt wird, ist dadurch unbedingt gegeben. Ein für den demokratischen Rechtsstaat wichtiges Prinzip, das besagt, daß die Wahrheitsermittlung möglichst weitreichend sein muß, wird durch die Verbesserung der Stellung des Opfers somit automatisch geschwächt.
Zwar ist offensichtlich, daß sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung damals wie heute darauf bedacht sind, den Opferschutz auf ein möglichst geringes und stark reglementiertes Maß zu beschränken, um das notwendige Hauptziel des Strafverfahrens, die Ermittlung der Wahrheit, nicht nachhaltig zu gefährden. Der Ausbau des Opferschutzes vor Gericht relativiert allerdings zwangsläufig die neutralisierte Stellung des Opfers im Strafverfahren, denn das Opfer wird mit Schutzrechten und Ansprüchen im Strafverfahren ausgestattet, die seine Rolle als zuverlässiges Beweismittel gefährden können. Das Kräftegleichgewicht zwischen Angeklagtem und Opfer im Strafverfahren wird verschoben.
Bedenklich ist vor allem, daß die Forderungen nach einer besseren Stellung des Opferzeugen auf dem Hintergrund dieses Perspektivenwechsels im Strafverfahren keineswegs befriedigt wurden. Bereits heute zeichnet sich ab, daß immer weitreichendere Forderungen zur Verbesserung der Stellung des Opfers im Strafverfahren erhoben werden. So werden die konkreten Maßnahmen, die der Gesetzgeber ergriffen hat, um einer zu starken Verlagerung des Gleichgewichts im Strafverfahren zugunsten des Verletzten entgegenzuwirken, von den Befürwortern von mehr Opferschutz heute kritisiert. Dieter Eppenstein vom Weissen Ring hat beispielsweise schon 1992 moniert, daß in den Gesetzesentwürfen zum Opferschutzgesetz von 1986 der Standpunkt vertreten wurde, daß die Verteidigungsbefugnisse des Beschuldigten aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit nicht eingeschränkt werden dürften. Dies zeige seiner Meinung nach, daß der Gesetzesentwurf auf halbem Wege stehengeblieben sei[6]. Ein weiteres Beispiel dafür, daß die Stellung des Opferzeugen für viele noch lange nicht ausreichend scheint, ist der 1996 zum zwei Jahre später verabschiedeten Zeugenschutzgesetz vorgelegte “Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit”. Darin wurde vorgeschlagen, daß Zeugen ein “absolutes Zeugnisverweigerungsrecht” bei Fragen eingeräumt werden sollte, wenn “die Offenbarung von Informationen aus dem Kernbereich der Persönlichkeitssphäre” drohe[7].
Bedenklich ist im übrigen auch, daß Teile von Bündnis 90/Die Grünen das Spannungsverhältnis zwischen den Grundprinzipien des rechtsstaatlichen Verfahrens und dem Opferschutz mittlerweile gänzlich wegdefinieren wollen. Der frühere hessische Justizminister Rupert von Plottnitz erklärte beispielsweise auf der letzten Herbsttagung des Weissen Rings, daß er froh sei, daß auf dieser Tagung nicht von der Existenz eines Widerspruchs zwischen rechtsstaatlichen Prinzipien und dem Opferschutz ausgegangen worden sei.
NEUES VERSTÄNDNIS VON STAAT UND RECHT
Problematisch an dieser Entwicklung ist nicht nur, daß durch die weitere Aufwertung des Verletzten im Strafverfahren zwangsläufig größere Probleme für die Rechtspflege aufkommen würden. Problematisch ist vor allem auch, daß sich in der Gesellschaft merklich ein neues Verständnis von Staat und Recht durchsetzt, das sich im Strafrecht stückweise etabliert.
Die Vorstellung, daß es ein Fortschritt für die Gesellschaft ist, wenn Strafverfahren, soweit es geht, von den Interessen des individuell Betroffenen unbeeinflußt bleiben, ist dem heutigen Zeitgeist zusehends fremd. Im Gegenteil: Man beklagt die “Verobjektivierung” und die “Entindividualisierung” des Schadens und die sogenannte Entmachtung und Enteignung der Opfer. Dies ist vor allem auf dem Hintergrund zu verstehen, daß übergeordnete gesellschaftliche Strukturen und Instanzen heute nicht mehr als Garant von demokratisch legitimierten und überprüfbaren Entscheidungen angesehen werden, sondern als bürokratisch und den Interessen des Individuums entgegenstehend.
Aus der einstmals politisch motivierten Staats- und Institutionenkritik, die sich in den siebziger Jahren entwickelte, ist längst eine unpolitische Ablehnung von Mehrheitsprinzipien und formaler Demokratie geworden. Politische Parteien und kollektive Institutionen sind diskreditiert, und der Bürger sucht sein Heil mangels Alternativen in dem Bereich, in dem er vermeintlich mehr Einfluß nehmen kann. Daher ist es kein Wunder, daß sich die traditionelle Vorstellung, der Einfluß des Opfers müsse im Strafverfahren auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt sein, heute keiner großen Popularität erfreut und kaum noch artikuliert werden kann, ohne daß man sich dem Vorwurf der Unmenschlichkeit aussetzt.
Gleichzeitig sind staatliche Institutionen aber auch zusehends zum Ansprechpartner für den ängstlichen Bürger geworden. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verunsicherung und einem Mißtrauen gegenüber anderen Mitmenschen wird die Forderung, daß der Staat schützend in die Gesellschaft eingreifen soll, stärker. Wurde der Staat früher als Garant für Freiheitsrechte gesehen und wurde versucht, den Einfluß des Staates auf die Gesellschaft auf ein notwendiges Mindestmaß zu begrenzen, so wird er heute aufgefordert, in immer mehr Bereiche des Privatlebens der Menschen einzugreifen. Der Staatsminister für Justiz in Sachsen, Steffen Heitmann, brachte diese Sicht auf den Punkt:
“Die Gefahr für den Rechtsstaat liegt heute weniger in einer Bedrohung der Rechte des einzelnen seitens des Staates als vielmehr in dem unzureichenden Schutz dieser Rechte durch den Staat.“er[8]
Nicht zuletzt liegt es in der Logik dieser Entwicklung, daß das Opfer in den Augen der Gesellschaft eine ungemeine Aufwertung erfährt. Es ist die Inkarnation des passiven und verunsicherten Individuums, das staatlichen Schutz benötigt. Daß dabei immer neue Opfer und immer neue Schutzgüter entdeckt werden, zu deren Wohl die Rechte anderer eingeschränkt werden sollen, liegt auf der Hand. Das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung richtet sich gegen die zu große Freiheit der Eltern bzw. das Erziehungsrecht. Und beim Strafrecht wird das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren in Widerspruch gesetzt zum Recht des Opferzeugen auf eine menschenwürdige Behandlung. Dem modernen, emotionalisierten und mitunter kompromißlosen Einsatz für die Rechte von Opfern sollte daher mit gebotener Distanz und Sachverstand entgegengetreten werden. Nicht alles, was im Namen der Opfer legitimiert wird, ist für die Gesellschaft ein Fortschritt.