04.08.2015

Ikonoklasmus: Von der Geschichte befreien?

Von Alexander Adams

Denkmäler aus der Vergangenheit zieren noch heute viele öffentliche Plätze. Einst als kulturelles Erbe geschätzt, werden sie heute vermehrt als Gefahr interpretiert. Alexander Adams analysiert neue politische Beweggründe des alten Phänomens der Bilderstürmerei

Im April 2015 berichteten die Nachrichten über zwei Fälle von Ikonoklasmus. Darunter versteht man die Zerstörung heiliger Bilder oder Denkmäler der eigenen Religion oder, in einem weiteren Sinne, der eigenen Kultur. Der erste Vorfall ereignete sich in Kapstadt [1]. Dort wurde nach Protesten eine Statue von Cecil Rhodes vom Campus der Universität entfernt. Cecil Rhodes (1853–1902) war ein britischer Kolonialist und Gründer von Rhodesien, das heute als Simbabwe bekannt ist. Des Weiteren wurde in der Hafenstadt Port Elizabeth neben anderen Statuen eine Statue von Queen Victoria mit Farbe verunstaltet [2]. Die Behörden der Universität von Kapstadt hatten zunächst den Kompromiss [3] vorgeschlagen, die Statue von Cecil Rhodes an einen weniger auffälligen Platz zu versetzen. Am 8. April wurde die Statue entfernt. Jedoch gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen konkreten Plan für eine Versetzung. Die führenden Unterstützer der Zerstörung und Verunstaltung der Denkmäler sind Mitglieder der südafrikanischen dunkelhäutigen Mehrheit.

Der zweite Fall von Ikonoklasmus ereignete sich in der Ukraine. Die ukrainische Regierung verabschiedete ein Gesetz zur Beseitigung aller Statuen aus Zeiten der Sowjetunion. (Als kühnes Zeichen ihrer scheinbaren Ausgewogenheit verbannte die Regierung zudem alle öffentlichen Nazi-Denkmäler – obwohl es keine gibt). Alle öffentlichen Gebäude, Plätze und Straßen, die nach sowjetischen Führern benannt sind, werden umbenannt. Am 11. April 2015 nahm der Ikonoklasmus seinen Anfang, als drei Statuen in Kharkov von Aktivisten zerstört wurden. [4] Obwohl der Präsident das Gesetz zu diesem Zeitpunkt noch nicht genehmigt hatte, hielt sich die Polizei heraus. Sie unterließ es, die Statuen zu verteidigen.

„Die Bilderstürmereien in Südafrika und der Ukraine wurden aus politischen Gründen angezettelt“

Helden der sowjetischen Ära sind Angriffsziele der ukrainischen Nationalisten. Die Nationalisten fürchten sich keineswegs vor einer Neuauflage des sowjetischen Kommunismus. Die größere Gefahr stellt für sie der russische Nationalismus dar. Die militärische Stärke Russlands und die ethnisch gemischte Zusammensetzung der ukrainischen Bevölkerung befördern die Ängste der ukrainischen Aktivisten. Es gibt kaum öffentliche Symbole des russischen Nationalismus in der Ukraine. Darum werden stattdessen die Statuen aus der Sowjetzeit weggeschafft. Während der Stalinzeit wurden der ukrainische Nationalismus unterdrückt und die Bevölkerung unterworfen. Sowjetische Symbole werden daher als repräsentativ für den russischen Nationalismus angesehen.

Ikonoklasmus als Mittel zum Zweck

Die Bilderstürmereien in Südafrika und der Ukraine wurden aus politischen Gründen angezettelt und fanden nicht spontan statt. Sie waren Teil langfristiger Anstrengungen im Kampf um die politische Vorherrschaft zwischen ethnischen Gruppierungen.

Der Austausch von Symbolen ist kein neues Phänomen. Mit jeder Revolution oder auch nur mit jedem Regierungswechsel geht bis zu einem gewissen Grade ein Bildersturm einher, ob er stillschweigend oder gewalttätig stattfindet. Er kann von einer Münzprägung mit dem Profil des neuen Königs bis zum Sturm der Bastille reichen. Symbole früherer politischer Machthaber waren schon immer gute Angriffsziele, um nahezu ohne Konsequenzen politisch Rache zu üben. Statuen können sich schließlich nicht wehren. Wenn eine Statue erst einmal zerstört ist, wird eher selten die gesellschaftliche Bereitschaft oder finanzielle Unterstützung für eine Restaurierung aufgebracht. Unbeweglichkeit gewinnt die Oberhand. Wenn Machthaber offiziell oder stillschweigend die Unterdrückung aller Symbole, die im Widerspruch zu ihrer Ideologie stehen, fördern, ist dies immer ein Zeichen der moralischen und politischen Schwäche eines Regimes. Eine souveräne und stabile Regierung – und Bevölkerung – empfindet solche Symbole nicht als Bedrohung.

Öffentliche Plätze werden heutzutage weder in der Ukraine noch in Südafrika von Symbolen fremder Ideologien heimgesucht, die auf ihre Betrachter unterdrückend oder aufdringlich wirken sollen. Diese Länder befinden sich in keinem revolutionären Umbruch. Beide Staaten sind seit längerer Zeit unabhängig. Die Ukraine erreichte ihre Unabhängigkeit im Jahre 1991. Je nachdem, wie man es sehen möchte, ist Südafrika seit dem Jahre 1910, seit 1961 oder seit 1994 unabhängig. Seither errichteten beide Länder aus bürgerlichen, kommerziellen und politischen Gründen neue Denkmäler und veränderten die Struktur ihrer Städte. Viele Wahrzeichen vorheriger Regime wurden bereits zerstört. Was jedoch aufgrund einer ungewissen politischen Lage neu hinzukommt, ist der Drang nach vollkommener Vernichtung aller Denkmäler, die aus „politisch verwerflichen“ Zeiten stammen.

„Die Anstifter des Ikonoklasmus tragen nicht die Kosten“

Individuen und Gruppen nutzen die kulturelle Unterdrückung für ihren politischen Vorteil. Die Anstifter des Ikonoklasmus setzen sich weder mit den Konsequenzen auseinander, noch tragen sie die Kosten. Sie werden, wie auch ihre Anschauungen, in zehn bis zwanzig Jahren verschwinden. Welches Recht haben sie (oder wir), das historische Erbe für zukünftige Generationen zu verfälschen? Die Lebensbedingungen müssen sich verändern. Gesellschaften profitieren jedoch davon, wenn sie gewisse repräsentative Aspekte aller Epochen ihrer Geschichte beibehalten, selbst die unangenehmen.

Öffentliche Denkmäler sind nicht heilig. Wenn Monumente zu heruntergekommen oder gefährlich sind und nicht aktiv restauriert werden, müssen sie entfernt werden. Städte sind dynamisch, verändern ihre Straßenpläne und reißen Gebäude ab. Dabei müssen gelegentlich Denkmäler beseitigt werden. Die transportfähigen, bedeutenderen dieser Monumente können an einen anderen Standort versetzt oder verkauft werden. Über standortspezifische Skulpturen aus jüngerer Vergangenheit hingegen kann man hinsichtlich gesetzlicher und ästhetischer Aspekte eine eigene Debatte führen.

Denkmäler werden neu beurteilt

Heute stellt das Verhalten der Moderaten und Liberalen ein besonderes Hindernis für den Schutz von unbeliebten Symbolen dar. Normalerweise kann man sich auf deren Einsatz gegen die Vernichtung kulturellen Erbes verlassen (obgleich die Gegenstände dieser Diskussion eher an Propaganda als an bildende Kunst erinnern). Doch in dieser Debatte sind sie wie gelähmt – aus Angst, ihr Widerstand würde dahingehend interpretiert werden, dass sie Ideologien vertreten, deren Ansichten sie nicht teilen. Wie kann sich beispielsweise ein liberaler, hellhäutiger Südafrikaner gegen die Entstellung der Queen-Victoria-Statue einsetzen, ohne so zu wirken, als würde er die Taten der ehemaligen Kolonialherrscher (und die damit verbundene Apartheid) begrüßen?

Sobald die Gesellschaft ein Denkmal zuallererst nach seiner aktuellen politischen Aussagekraft beurteilt, wird es schwer, mit dem „geringeren“ historischen und ästhetischen Wert zu punkten. A: „Ich widersetze mich der Zerstörung dieses Denkmals aus kulturellen Gründen, obwohl ich der Meinung bin, dass es aus politischer Hinsicht abscheulich ist.“ B: „Falls du wirklich davon überzeugt bist, dass die verkörperte Politik abscheulich ist, dann würdest du dich einer Zerstörung nicht widersetzen. Dies ist eine politische Angelegenheit mit einer politischen Lösung: Erhalt oder Zerstörung.“ Bei dieser Stimmung übertrumpft die Politik jede andere Betrachtungsweise. Eine derartige Diskussion bietet wenig Anreiz für jemanden, der ein Denkmal aus historischen und kulturellen Gründen erhalten möchte. Wenn er gleichzeitig der politischen Aussage des Monuments widerspricht und sich in der Unterzahl befindet, ist es sehr wahrscheinlich, dass er aus dem Streitgespräch als Verlierer hervorgeht. Genau diese Schwierigkeit, die unterschiedlichen und zahlreichen Beweggründe anderer anzuerkennen und darauf zu reagieren, macht eine ehrliche Debatte zu diesem Thema quasi unmöglich.

„Die Vernichtung von Denkmälern dient dazu, lebenden Menschen ein Leid zuzufügen“

Die Vernichtung von Denkmälern ist nicht das Ergebnis einer neutralen Abwägung auf einer Waage der sozialen Gerechtigkeit. Sie ist eine Form der Vergeltung, die dazu dient, lebenden Menschen ein Leid zuzufügen, indem man ein (meist sehr beliebtes) Wahrzeichen ihrer Jugend oder Kindheit beseitigt. Das systematische Auslöschen von Symbolen ist eine entschlossene, launische Form von Intoleranz. Die Vernichtung markiert die Macht des gegenwärtigen politischen Konsenses und radiert ein Kennzeichen der vorangegangenen Ära aus. Im Jahr 1990 wurde Deutschland nicht zu einem neuen Staat vereinigt. Vielmehr wurde die DDR einfach aufgelöst und in das existierende Westdeutschland aufgenommen. Dabei wurde nicht nur der Staat der DDR und dessen Ideologie ausgelöscht. Viele der Denkmäler (selbst die eher unpolitischen) wurden gewaltsam zerstört. Die siegreiche Fraktion hat bewusst Rache genommen und ihre Verachtung ausgedrückt. Die Beseitigung der Monumente zog zwangsläufig eine Demütigung der Unterlegenen mit sich. Die Aktionen in Südafrika und der Ukraine unterscheiden sich keineswegs von früheren Programmen für die politische und persönliche Erniedrigung.

Der Reichtum des kulturellen Lebens einer Gesellschaft wird durch einen auferlegten kulturellen Gedächtnisschwund verringert, wenn man politisch unpassende Teile der Geschichte entfernt. Das verfälscht die Geschichte vorsätzlich und lässt die Stimmen älterer Generationen verstummen. Selbst wenn man eine Ideologie ablehnt, muss man diese zuerst einmal verstehen, um dagegen wirkungsvoll Stellung nehmen und mit Hintergrundwissen argumentieren zu können. Die Furcht, mit etwas in Berührung zu kommen, das der eigenen Weltanschauung widerspricht, ist ein weiter Grund für den Wunsch nach einer „Befreiung von der Redefreiheit“. Greg Lukianoff geht in seinem zuletzt erschienenen Buch [5] über die Zensur an amerikanischen Unis darauf ein. Das Zensurbedürfnis ist besonders stark ausgeprägt, wenn Denkmäler zerstört werden sollen. Das kommt einem Verlangen nach einer „Befreiung von der Geschichte“ gleich – von den Äußerungen toter Menschen und vergangener Mächte. Die Verachtung früherer Ideen und der Drang, die zeitgenössische Opposition zu attackieren, zeigen, dass die modernen Bilderstürmer eine doppelte Motivation für die Beseitigung unbeliebter Symbole mitbringen.

„Die siegreiche Fraktion hat bewusst Rache genommen und ihre Verachtung ausgedrückt“

Gruppen, die öffentliche Monumente zerstören wollen, fühlen sich nicht verpflichtet, historische Epochen auf eine ausgeglichene und ehrliche Weise darzustellen. Der Prunk, die Starre und Absurdität der exzessivsten Denkmäler untergraben ihre Glaubwürdigkeit. Doch für die Mentalität der Zensoren besteht die Gefahr darin, dass ein Denkmal neue Anhänger erschaffen könnte, falls ihm Menschen öffentlich ausgesetzt sind. Das Valle de los Caídos [6], Francos gigantisches Mausoleum, das teilweise mithilfe von Sklaven errichtet wurde, ist aufgrund des politischen Stillstands in der unmittelbaren Zeit nach Franco erhalten geblieben, auch wenn es verfällt. Das Mausoleum dient nicht zur Verherrlichung der faschistischen Falange, sondern als ausdrucksstarkes Zeugnis von Tyrannei und Ausweglosigkeit. Es ist ausdrucksstärker als ein leerer Platz oder ein Mahnmal.

Bilderstürmer rechtfertigen die Verunstaltung, den Vandalismus und die Zerstörung (ob legal oder illegal) von Monumenten mit ihrer „gerechten Sache“. Diese verdrehte Logik lässt sich ebenso auf Worte und Ideen anwenden wie auf Denkmäler. Wenn es einer gemäßigten Mehrheit nicht gelingt, sich dieser Vorgehensweise zu widersetzen, wird sie bald genug in anderen, eventuell ernsteren Bereichen Einzug halten. Wie lange wird es dauern, bis die Gesellschaften, die den Anblick von parteiischen Denkmälern nicht ertragen, auch parteiische Bücher nicht mehr tolerieren? Wollen Fanatiker und Demagogen herausfinden, wie weit sie mit der Zerstörung des Vermächtnisses widerstandsloser Toter gehen können, bevor sie sich mit ihren lebendigen Gegnern von heute beschäftigen?

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