01.03.2002

Ground Zero: Wenn Sterben ausreicht, um ein Held zu werden

Analyse von Mick Hume

Statt für große Taten werden nun Menschen für das ihnen erfahrene Leid gerühmt. Für was steht die amerikanische Gesellschaft, fragt sich Mick Hume.

Wer ist heute ein Held? Ist es wirklich heroischer, in einem Terroranschlag zu sterben als bei einem Autounfall? Die Auseinandersetzung über die Neudefinition des Heroischen seit dem 11. September wirft ein Schlaglicht auf die Verunsicherung der westlichen und insbesondere der amerikanischen Gesellschaft.

Seit den Selbstmordattentaten in New York und Washington sucht das traumatisierte Amerika nach Helden, hinter denen es sich vereinen kann. Alle, die am 11. September starben oder leiden mussten, werden inzwischen als Helden verehrt. Die Star-Gala „Tribute to Heroes“ erzielte ein Spendenaufkommen von 150 Millionen Dollar für die Opfer der Angriffe. Und der amerikanische Kongress verabschiedete den True American Heroes Act. Jedem Staatsangestellten, der – ob als Feuerwehrmann oder Hafenbeamter – bei den Anschlägen starb, wird gemäß dieses Gesetzes nun das „Congressional Gold Medal“ und somit die höchste Auszeichnung der Vereinigten Staaten verliehen. „Alle Toten jenes Tages sind Helden und verdienen es, als solche geehrt zu werden“, erklärte ein republikanischer Kongressabgeordneter, der erfolgreich dafür warb, den Piloten der Maschine, die über dem Pentagon zum Absturz gebracht wurde, mit vollen militärischen Ehren auf dem Arlington National Cemetery zu beerdigen.

In einem Land, das seine Helden immer als tapfere Recken feierte, die für Wahrheit, Gerechtigkeit und für die Nation kämpften, hat die Vorstellung, dass Menschen, nur weil sie gelitten haben, als Helden verehrt werden, eine gewisse Beunruhigung ausgelöst. Schon spricht man von „hero inflation“. Im Boston Globe stellte Nicholas Thompson die interessante Frage: „Wenn wir jedes Opfer einer Tragödie auf ein Podest heben, was verehren wir dann eigentlich?“ Seine Antwort: „Indem wir den Maßstab des Heldentums senken, degradieren wir diesen Begriff und in gewisser Weise auch die Menschen, die sich früher das Recht erwarben, als Helden zu gelten.“ (13.1.2002).

“Nur Gesellschaften, die nicht sagen können, wofür sie eigentlich stehen, suchen sich Opfer als Vorbilder”

Es gibt in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern heute nur wenige traditionelle Helden. Eine nur wenige Wochen vor den Terroranschlägen durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass mehr als die Hälfte aller US-Bürger keine öffentliche Persönlichkeit nennen können, die sie als heroisch bezeichnen würden. Und seit dem 11. September haben sich die Spitzen der amerikanischen Gesellschaft auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. So beispielsweise Präsident Bush, der am Tag der Anschläge in einem Bunker verschwand und nun die Wunden einer etwas unglücklichen Begegnung mit einer Brezel trägt. Im Kongress, so hört man, herrscht immer noch Angst vor Umschlägen mit weißem Pulver. Es war daher kein Wunder, dass der New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani auf der Titelseite des Time Magazine als „Man of the Year“ gefeiert wurde – er war schließlich die einzige öffentliche Figur, die auf die Anschläge vom 11. September mit einer gewissen Schnittigkeit und Würde reagierte.

Da wirkliche Helden rar sind, greift man heute gern auf das Heldentum der „einfachen Leute“ zurück. In Amerika sind es vor allem die Feuerwehrleute – in geringerem Maß auch die Polizisten – die an und nach dem 11. September am World Trade Center im Einsatz waren. Sie sind heute die Lieblinge der Nation und werden als Helden verehrt, obgleich manche Kommentatoren durchaus darauf hingewiesen haben, dass sie eigentlich keine außerordentlich mutigen Taten vollbrachten, sondern einfach ihre Arbeit verrichteten. Der Versuch, solche Normalbürger in den Heldenstand zu erheben, verlief allerdings nicht ganz ohne Probleme. Zunächst stritten Feuerwehr und Polizei über das Bestreben, die Suche nach weiteren Toten in den Trümmern einzustellen, nachdem beim Zusammenbruch der Türme schon 343 Feuerwehrleute ihr Leben gelassen hatten. Abschließend gab es Zwist über das Denkmal, das für die drei Feuerwehrleute errichtet werden soll, die auf Ground Zero die Nationalflagge gehisst hatten. Alle drei waren (wie die überwältigende Mehrheit des New York Fire Department) Weiße. Um also als „integrierenderes“ Symbol nationaler Größe zu erscheinen, zeigt das Denkmal nun einen weißen, einen schwarzen und einen als hispanischen Amerikaner. Zurecht beklagte sich der Vater eines der Toten: „Sie schreiben um der politischen Korrektheit willen die Geschichte um.“ (London Evening Standard, 16.1.02)

„Sie schreiben um der politischen Korrektheit willen die Geschichte um“

Die Unsicherheit darüber, was heute Helden sind, verweist auf einen umfassenden Vertrauensverlust im Westen. Keiner weiß genau zu sagen, wofür unsere Gesellschaften heute stehen oder zu kämpfen bereit sind. Amerikanische Helden, wie sie früher John Wayne symbolisierte, gibt es schon seit dem Vietnamkrieg nicht mehr. In unserer opferfixierten Kultur hebt man Menschen nicht für ihre Leistungen auf Podeste, sondern für das, was sie erlitten haben. Dieser Schwund des westlichen Selbstvertrauens prägt auch die westliche Außenpolitik. Schon 1996 plädierte ein führender amerikanischer Politikwissenschaftler für eine „post-heroische Militärpolitik“, die sich primär auf Langstreckenraketen, Bomben und kleine Spezialeinheiten stützt, da Amerika nicht mehr bereit sei, seine Soldaten in traditioneller Weise kämpfen und sterben zu sehen. Genau dieser post-heroische Ethos prägte auch die amerikanische Kriegsführung in Afghanistan. Man beschoss das Land aus großer Ferne, und selbst als die Taliban, wie zu erwarten war, aufgerieben waren, wagte man nicht, in größerem Umfang Bodentruppen einzusetzen. Der Mangel an Informationen über die Lage am Boden war eine Folge dieser geringen Bereitschaft zum Risiko. Washington weiß über den Verbleib Osama bin Ladens heute weniger als zu Beginn des Krieges. Damals war man immerhin ziemlich sicher, dass er sich in Afghanistan aufhielt; heute hat man in Washington offenbar nicht die geringste Ahnung, wo er ist oder ob er überhaupt noch lebt. Inzwischen hat die US-Regierung für die wenigen Angehörigen von Sondereinheiten der Green Berets, die in Afghanistan an der Seite der Nordallianz kämpften, sowie andere Soldaten und Kampfflieger, die im Einsatz verletzt wurden (überwiegend durch Feuer von der eigenen Seite), medienträchtige Ordensverleihungen veranstaltet. Treffend artikulierte dabei der Empfänger des Bronze Star and Purple Heart, Hauptmann Luke Amerdine, den neuen militärischen Ethos. Er berichtete, er habe über den Tod von drei durch eine amerikanische Bombe getroffenen Kameraden „gut und lange geweint“.


Auch in Hollywood verschwimmen die Grenzen zwischen Opfern und Helden. In den neuen Kassenschlagern Pearl Harbour und Black Hawk Down (über den Kampf der amerikanischen Rangers in Somalia im Jahre 1993) sind schwere Niederlagen der Ausgangspunkt amerikanischer Heldenabenteuer. Der allgegenwärtige Held und die Erhebung von Opfern zu Vorbildern markieren einen bedeutenden Bruch mit westlicher Tradition. Selbstverständlich verdienen Opfer unser Mitgefühl. Trotzdem muss man kein Anhänger eines altmodischen Heldenkults sein, um zu spüren, dass hier eine problematische Entwicklung vor sich geht, die auf eine Reduzierung menschlicher Horizonte und Erwartungen hinausläuft. Früher waren Helden Leute, die etwas Großes erreichten und in anderen den Wunsch weckten, es ihnen gleich zu tun. Unsere heutigen Helden leiden und laden uns ein, ihren Schmerz nachzufühlen.Nur Gesellschaften, die nicht sagen können, wofür sie eigentlich stehen, und sich nur durch eine Gemeinschaft des Leidens vereinen lassen, suchen sich Opfer als Vorbilder. Wenn jeder ohne größere Anstrengung ein Held werden kann, laufen wir Gefahr zu vergessen, wie wirklicher Heroismus die Menschheit vorangebracht hat.

Eine letzte Anmerkung über Helden und das Umschreiben der Geschichte: Das Video zum neuen Song von R. Kelly, dem Muhammad Ali gewidmeten „The World’s Greatest“, zeigt den Sänger als Boxer, umringt von Kindern, die Banner mit der Aufschrift „My Hero“ und „Hero“-T-Shirts tragen, während zwischen den Clips von Ali Bilder der New Yorker Feuerwehr und Polizei gezeigt werden. Der Parkinsonkranke Ali wird heute weltweit mit Rührung verehrt. Aber vor 30 Jahren, als der fantastische Boxer wirklich heroisch gegen den Vietnamkrieg Stellung bezog, nahm man ihm seinen Weltmeistertitel und sperrte ihn ins Gefängnis. Mit der amerikanischen Fahne und Uncle Sam wollte er nichts zu tun haben, denn, so sein berühmter Ausspruch: „No Vietcong ever called me nigger“. Selbst heute passt Ali nicht so recht in das neue Heldenstereotyp aus Hollywood. Kürzlich fragte ihn ein Journalist: „Was für ein Gefühl ist es, zu wissen, dass die Flugzeugentführer die gleiche Religion haben wie Sie?“. Alis Antwort: „Wie fühlt es sich an, dass Hitler die gleiche hatte wie Sie?“

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