23.04.2010
Glatzen und Homosexualität durch Gentechnik?
Von Thomas Deichmann
Was deutsche Angstexperten mit dem bolivianischen Präsidenten Morales verbindet.
Die Menschheit hat schon viele Gründe dafür gehört, warum der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen angeblich gefährlich sein soll. Die Realität sind zwar anders aus – die Technologie ist erprobt und gilt nach wissenschaftlichen Kriterien als sicher. Aber wen stört das schon, zumal mit Antihaltungen leichter denn je moralische Pluspunkte eingesammelt werden können. Bundesministerin Ilse Aigner (CSU) hat vergangenes Jahr den Anbau von Bt-Mais verboten – zum vermeintlichen Wohle von Käferchen auf der deutschen Ackerscholle. Ihr Amtskollege aus Meck-Pomm Till Backhaus (SPD) scheiterte kürzlich nur knapp mit seinem Vorstoß, auch die Aussaat der gerade erst zugelassen GV-Kartoffel Amflora zu verhindern. Andere europäische „Experten“ warnen derweil mit Blick auf abenteuerliche Interpretationen von Fütterungsstudien mit Ratten, deutsche Männer könnten impotent werden. Und ein straffällig gewordener Landwirt aus Hessen rennt seit Jahr und Tag durchs Land und behauptet, einige seiner Kühe seien einst wegen GV-Futter verendet (statt miserabler Hygiene im Kuhstall, was Behörden nahelegten). Kollegen aus Asien oder Kollegen aus Europa, die „Experten“ in Asien kennen, legen nach und berichten darüber, dass indischen Rindviechern gleich die kompletten Hufe abgefault seien, nachdem sie über ein Feld mit GV-Baumwolle marschiert waren. Und dass indische Landwirte den Massensuizid wählen, weil die Gentechnik sie schnurstracks ins Verderben führt.
Treu-deutsche Imker schüren Panik, dass ihre Bienchen vergiftet und Honig kontaminiert wird. Und ein vom Obersten Kanadischen Gerichtshof wegen der Verletzung von Patentrechten letztinstanzlich verurteilter Großbauer ist zur europäischen Kultfigur aufgestiegen, nur weil er lange genug lamentierte, er sei von den bösen Agrobuben aus dem bösen Amerika über den Tisch gezogen worden. Letzte Woche wurde auch dieser Straftäter besonders geehrt: Die Meck-Pomm-Landeshauptstadt Schwerin würdigte den Einsatz des Kanadiers für die „Altenvielfalt“ – weshalb jedem auch nur halbwegs Sachkundigen die Kinnlade nach unten klappen dürfte. Der Vize-Oberbürgermeister Wolfram Friedersdorff (Die Linke) ließ es sich nicht nehmen, beim Eintrag ins Gästebuch der Landeshauptstadt dem Gast die Hand zu reichen. „Experten“ vom Schlage Glöckner, Grolm, Andrioli, Schmeiser, Hofstetter oder Then haben Hochkonjunktur.
Wen wundert es da, dass der bolivianische Präsident Evo Morales in die gleiche, so erfolgreiche Kerbe zu schlagen versucht. Allen Ernstes sprach er kürzlich in ein öffentliches Mikrofon, die Existenz von Kahlköpfigkeit in Europa und von Homosexualität in der ganzen Welt sei das Ergebnis des Verzehrs gentechnisch veränderter Pflanzen: “Kahlköpfigkeit scheint normal – in Europa sind fast alle kahl, und das ist eine Krankheit und beruht auf dem, was sie essen…”. Damit lag er gar nicht so weit weg von den Äußerungen seiner deutschen Expertenkollegen. Ergo: Bitte jetzt nicht schon wieder über Morales schimpfen, sondern besser vor der eigenen Haustür kehren.