01.01.2000

Gesündere und glücklichere Kinder mit Reprogenetik

Essay von Lee M. Silver

Eltern werden in Zukunft über die genetische Ausstattung ihrer Kinder selbst entscheiden. Er beschreibt, wie unbegrenzt und hoffnungsvoll die technischen und medizinischen Möglichkeiten der so genannten Reprogenetik sind.

Enorme Fortschritte in der Reproduktionsmedizin ermöglichen es immer mehr Menschen, eigene Kinder zu bekommen. Männer, die noch vor kurzem als steril galten (weil sie keine Spermien produzieren), können heute Väter werden, indem man ihr Erbmaterial in die unbefruchteten Eizellen ihrer Partnerinnen injiziert[1]. Frauen, die längst die Wechseljahre hinter sich haben, können dank gespendeter Eizellen und Hormonbehandlung schwanger werden und ein Kind zur Welt bringen. Bei anderen Säugetieren werden noch weit exotischere Methoden der Fortpflanzung angewendet. Bald werden solche auch für Menschen zur Verfügung stehen. Dazu gehört etwa das gemeinsame Baby zweier Frauen mittels der Embryoverschmelzung[2] und die Zellkernübertragung, die es unfruchtbaren Paaren und Singles ermöglichen wird, Kinder mit nur einem biologischen Elternteil zu bekommen[3]. Die Reproduktionsmedizin ist mittlerweile so weit, dass es bald jedem Paar, gleich welchen Geschlechts oder Alters, und auch jeder Einzelperson möglich sein wird, leibliche Kinder zu bekommen.

Gleichzeitig mit den Fortschritten in der Reproduktionsmedizin erleben wir derzeit eine Explosion des Wissens im Bereich der Genetik. An der Entschlüsselung des menschlichen Genoms arbeiten mittlerweile in internationalem Wettbewerb nicht nur staatliche Forschungseinrichtungen wie das NIH und das DOE, sondern auch viele private Unternehmen, die in gegenseitigem Wettbewerb diese Goldquelle an Informationen auszubeuten suchen[4]. Die Identifizierung der etwa 100.000 menschlichen Gene, die bis 2003 abgeschlossen sein soll, ist dabei nur der erste Schritt. Im zweiten, ebenso wichtigen Schritt gilt es, herauszufinden, wie sich die einzelnen Gene der einzelnen Menschen voneinander unterscheiden und welche Unterschiede zwischen den Menschen damit einhergehen – etwa in Hinblick auf Resistenz oder Empfänglichkeit für Krankheiten oder die Wirksamkeit von Medikamenten[5]. Nur eine Frage der Zeit ist es, wann auch angeborene Talente, körperliche und geistige Charakteristika mit den Genprofilen in Korrelation gebracht werden können. Die meisten Wissenschaftler teilen die Auffassung, dass komplexe körperliche und geistige Eigenschaften von Genen beeinflusst sind. Doch viele glauben, dieser Zusammenhang sei so vielschichtig, dass wir ihn nie verstehen können. Sie ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass weder die Diagnose noch die Beeinflussung komplexer genetischer Merkmale jemals möglich sein werden.Diese Folgerung kann heute nicht mehr gelten. Fortschritte in der Gentechnik werden derzeit mit modernster Computertechnologie verbunden. Dabei entstehen neue Analysewerkzeuge, etwa DNA-Chips, die es ermöglichen werden, das gesamte Genom eines Menschen schnell und billig zu scannen[6]. Unternehmen werden mit Hilfe dieser Technologie groß angelegte Bevölkerungsstudien durchführen. Deren Resultate werden es ermöglichen, Zusammenhänge zwischen genetischen Mustern und Merkmalen der Menschen zu identifizieren, auch wenn dabei der Weg vom Gen zur Merkmalsausprägung am Menschen in einer ”Blackbox” verborgen bleibt. Wir können die Bedeutung eines Gens erkennen, ohne herausfinden zu müssen, wie es genau funktioniert.

Reprogenetik und Eugenik

Die moderne Gentechnik hat für die gesamte Medizin eine große Bedeutung. Doch in der Kombination mit der Reproduktionsmedizin sind die Auswirkungen wahrhaft gewaltig. Werdende Eltern werden bald in der Lage sein zu entscheiden, welche Gene sie an ihre Kinder weitergeben[7] und ob sie noch gänzlich neue Gene hinzufügen, um ihnen bessere Voraussetzungen für ein gesundes, langes, glückliches und erfolgreiches Leben mitzugeben[8]. Noch mögen viele glauben, dass solches gänzlich unmöglich sei. Doch wenn eine komplexe Erkrankung wie die Zuckerkrankheit nach der Geburt durch ein einzelnes Molekül (Insulin) kontrolliert werden kann, werden die Diabetes und viele andere ähnlich komplexe Merkmale ohne Zweifel auch durch einzelne, genau platzierte Gene entscheidend beeinflusst werden können, noch bevor die Schwangerschaft überhaupt beginnt. Ein weiteres Beispiel ist die Körpergröße: Dieses komplexe Merkmal ist vermutlich durch Hunderte von Genen beeinflusst, und dennoch wissen wir, dass es durch ein einziges Gen (zuständig für ein Wachstumshormon) leicht in der gewünschten Weise verändert werden kann. Die Kombination von Gentechnik und Reproduktionsmedizin führt zu etwas so fundamental Neuem, dass auch ein neuer Begriff sinnvoll erscheint: Reprogenetik. Reprogenetik meint die Nutzung der Gentechnik im Reproduktionsprozess mit dem Ziel, die Vererbung bestimmter Gene sicherzustellen oder zu verhindern. In geringem Umfang wird die Reprogenetik schon heute praktiziert und akzeptiert. Jedes Mal, wenn sich eine Frau nach erfolgter Amniozentese zur Abtreibung entschließt, entscheidet sie sich gegen die Weitergabe bestimmter Gene. Und jedes Mal, wenn durch Abtreibung vermieden werden soll, dass ein Kind mit geistiger Behinderung zur Welt kommt, kommt Reprogenetik mit dem Ziel zur Anwendung, die Intelligenz des Kindes zu erhöhen, das schließlich (durch eine spätere Schwangerschaft) geboren wird.
Warum werden die Dinge hier nicht beim Namen genannt? Teil der Antwort ist sicherlich, dass die Praxis der Reprogenetik verdächtig nach der diskreditierten sozialen Theorie der Eugenik klingt. Viele Kommentatoren vermischen tatsächlich diese zwei grundverschiedenen Phänomene, die in Hinblick auf sowohl Akteur als auch Ziel nichts gemein haben.

“Während Eugenik eine Maßnahme des Staates war, wird Reprogenetik von Individuen und Paaren praktiziert werden”

Das erklärte Ziel der Eugenik war die Verbesserung des so genannten ”Genpools” einer Gesellschaft durch staatliche Kontrolle der Fortpflanzung. In den USA wurde zu Beginn des Jahrhunderts diese Ideologie verfolgt. Menschen mit (vermeintlich) geringerer Intelligenz, mit leichten körperlichen Behinderungen oder einem (vermeintlich) kriminellen Charakter wurden als genetisch minderwertig bezeichnet und zwangssterilisiert. Ein weiterer ”Schutz” des amerikanischen ”Genpools” wurde vom Kongress durch restriktive Einwanderungsgesetze angestrebt, die Menschen aus Ost- und Südeuropa (woher die Großeltern des Autors stammen) die Einreise verweigerten, um deren unerwünschten Gene fern zu halten. Zwei Jahrzehnte später unternahm Nazi-Deutschland in noch weit drastischerer Weise den Versuch, – innerhalb einer einzigen Generation – alle Menschen auszumerzen, die unerwünschtes Erbgut trugen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden all diese fehlgeleiteten eugenische Unterfangen zu Recht als diskriminierende, mörderische Versuche gesehen, Menschen ihres Rechts auf reproduktive Freiheit zu berauben. Während Eugenik eine Maßnahme des Staates war, wird Reprogenetik von Individuen und Paaren praktiziert werden. Und während im Mittelpunkt der Eugenik die vage Vorstellung eines ”Genpools”[9] steht, dreht sich die Reprogenetik um die reale und äußerst klar begrenzte Frage, welche Gene ein einzelnes Kind erhalten wird. Während Eugenik in der Einschränkung reproduktiver Freiheit (und Schlimmerem) besteht, besteht die Reprogenetik im genauen Gegenteil: der Ausweitung reproduktiver Freiheit. Sie gibt Menschen die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, die glücklich, gesund und geliebt sein werden.
Wenn die Reprogenetik dazu genutzt wird, all jenen, die mit ihr zu tun haben, zu größerem Glück zu verhelfen, was soll dann daran falsch sein? Nach Meinung nicht weniger Leute sehr viel. Doch bevor ich zu den Ängsten komme, werde ich erläutern, weshalb ich überzeugt bin, dass diese Technologie tatsächlich genutzt werden wird.

Gentechnik

Seit 18 Jahren wird die Keimbahnintervention mit wachsender Effizienz zur Veränderung des Erbguts von Embryonen verschiedener Säugetiere (u.a. Mäuse, Schweine und Schafe) angewendet[10]. Bis vor kurzem indes hat niemand ernsthaft erwogen, diese Technik beim Menschen anzuwenden. Es gab drei technische Probleme, die unüberwindbar schienen. Erstens war die Technik sehr ineffizient. In weniger als 50% der Fälle wurden tatsächlich Tiere mit den gewünschten Veränderungen geboren. Zweitens war die Technik mit einem hohen Risiko neuer Mutationen verbunden. Und drittens herrschte und herrscht noch heute die Meinung vor, die Gentechnik könne nie am Menschen angewendet werden, da mit unbeabsichtigten negativen Nebenwirkungen gerechnet werden müsse. Ein einziges dieser drei Probleme dürfte genügen, um die menschliche Keimbahnintervention als unethisch zu verbieten.

Doch heute, mit dem Eintritt in das neue Jahrtausend, stellt sich der Stand der Technologie anders da. Es erscheint wahrscheinlich, dass alle drei Vorbehalte überwunden werden. Durch die Anwendung des Klonierens und neuer DNA-Screening-Methoden wird es möglich, nur jene Embryonen auszuwählen, in denen die gewünschte genetische Veränderung auch wirklich ohne Komplikationen erfolgt ist. Dieser technische Fortschritt eliminiert die ersten beiden der genannten Vorbehalte. Wie sieht es mit den unbeabsichtigten Nebenwirkungen aus? Das diesbezügliche Bedenken kann ausgeräumt werden, indem man nur Gene für die Keimbahnveränderung nutzt, die in anderer Menschen Erbgut bereits natürlich vorkommen. So trägt beispielsweise ein Prozent der Bevölkerung ein Gen, das die Betreffenden gegen eine Infektion durch das HIV-Virus resistent macht. Dass dieses Gen vollkommen unschädlich ist, kann man an den Millionen von Menschen sehen, die es bereits in ihrem Erbgut haben.

“Gibt es einen moralischen Unterschied zwischen einer genetischen Impfung des Embryos und einer konventionellen Impfung eines Kindes gegen Kinderlähmung?”

Angesichts dieser Tatsache muss man sich fragen, welche Begründung ein Staat anführen könnte, um Eltern zu verbieten, mit Hilfe der Gentechnik ihr Kind mit einem solchen AIDS-Resistenz-Gen auszustatten. Gibt es einen moralischen Unterschied zwischen einer genetischen Impfung des Embryos und einer konventionellen Impfung eines Kindes gegen Kinderlähmung (Polio)?
Ein Unterschied besteht darin, dass die Polio-Impfung allen Kindern in unserer Gesellschaft zugänglich ist, egal wie wohlhabend ihre Eltern sind. Leider ist es wenig wahrscheinlich, dass die Angebote der Gentechnik ebenfalls für jedermann erschwinglich sein werden. Mancher mag hierin einen ethisch relevanten Unterschied erkennen. Doch wenn wir uns in der Welt umsehen, erkennen wir, dass auch heute in vielen Teilen der Welt Impfungen gegen tödliche Krankheiten nicht verfügbar sind und zahllose Kinder an vermeidbaren Seuchen sterben. Auf dieser Betrachtungsebene unterscheiden sich herkömmliche Impfungen nicht von zukünftigen Keimbahnimpfungen. Bei beidem gibt es eine Trennlinie zwischen Individuen oder Bevölkerungsgruppen, die sich die Impfung leisten können, und solchen, die dazu nicht fähig sind. Auch über Impfungen hinaus werden Eltern in der Zukunft die Möglichkeit haben, ihren Kindern Gene zukommen zu lassen, die bei anderen von Natur aus vorhanden sind und körperliche oder geistige Fähigkeiten verbessern. Die ersten Gene, an die man denkt, sind solche, die die Lebenserwartung erhöhen können. Weiter wird man Einfluss auf bestimmte Begabungen nehmen, etwa Musikalität fördern[12] oder auch Schüchternheit und Aggressivität mindern, und Gene nutzen, die mit kognitiven Fähigkeiten zusammenhängen, etwa um die Begabung für das Erlernen von Fremdsprachen zu fördern[13].
Wie gesagt: hierfür werden sicherheitshalber zunächst nur natürlich vorkommende Gene genutzt, um Nebenwirkungen zu vermeiden. Mittelfristig jedoch werden wir so viel über das menschliche Genom wissen, dass auch Eigenschaften und Fähigkeiten möglich werden, die in keinem heute lebenden Menschen zu finden sind.

Medizin versus Markt

Manche Bioethiker sind der Auffassung, Reprogenetik würde nur den einfachsten Trieben der Menschen dienen oder Menschen zu Objekten degradieren, die manipuliert werden. Ein beliebtes Szenario zeigt skrupellose Regierungen oder andere Gruppen, die sich Menschen für bestimmte Zwecke züchten. Viele dieser Szenarien wurden vom weltbekannten Roman Brave New World von Aldous Huxley inspiriert. Er beschreibt darin eine Welt, in der der Staat die totale Kontrolle über die Menschen und ihre Reproduktion hat. In dieser schönen, neuen Welt produziert der Staat in ”Brutanstalten” Menschen entsprechend sauber getrennter intellektueller Klassen von Alpha bis Epsilon. Während Huxley sehr gut vorausgesehen hat, welche technischen Möglichkeiten für die Reproduktion wir entwickeln würden, lag er meiner Meinung nach mit seiner Voraussage, wer diese Methoden zu welchem Zweck nutzen würde, komplett daneben. Für Regierungen sind diese Techniken nutzlos. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie nicht dazu taugen, Babys nach Maß zu bestellen. Denn der Mensch ist weit mehr als die Summe seiner Gene. Wir sind auch mehr als eine Kombination aus Genen und Umwelt. Unter allen Spezies dieser Erde sind wir die einzige Art, die sich bewusst gegen die natürlich angeborenen Instinkte wenden kann. Und wir können uns auch bewusst gegen gesellschaftlichen Druck wenden. Deshalb würde jeder Herrscher, der in seiner Naivität glaubt, er könne Menschen züchten, die sich nach seinen Vorstellungen verhalten, böse enttäuscht. Was Huxley ganz und gar falsch einschätzte, ist, weshalb überhaupt Babys zur Welt kommen. Nicht Regierungen bringen Babys zur Welt, sondern Frauen. Individuen und Paare sind es – nicht Staatsmächte – die Nachkommen zeugen wollen. Individuen und Paare sind es, die glückliche und erfolgreiche Kinder möchten. Und Individuen und Paare werden es deshalb sein, die die neuen Techniken nutzen werden, um Ziele zu erreichen, die sie ohne diese nicht erreichen könnten. So ist es, seit es Menschen gibt.

Ich behaupte, dass die meisten Menschen diese starken Instinkte nicht ablegen werden. Es gibt den Wunsch nach biologischen Kindern und den Wunsch, diesen Kindern alle möglichen Vorteile und Chancen zu verschaffen. Dieser Wunsch ist die treibende Kraft hinter der Reprogenetik. Der Kinderwunsch ist so stark, dass viele, die ihn am eigenen Leibe erfahren, sich wundern, woher er wohl kommt. Der Grund, weshalb uns das so unklar scheint, ist, weil wir wenig Kontrolle darüber haben. Er steckt in unseren Genen, und es ist – bei den meisten Menschen – der nach dem Selbsterhaltungstrieb stärkste Instinkt.
So verwundert es wenig, dass Unfruchtbarkeit für Menschen eine Katastrophe sein kann. Viele sagen, sie sei dem Tode einer nahe stehenden Person vergleichbar. Sie kann zu ernsthaften Depressionen führen und Ehen zerrütten. Deshalb sind viele Paare – selbst wenig wohlhabende – bereit, 30.000 Dollar und mehr zu bezahlen, um mit Hilfe der In-Vitro-Fertilisation (IVF) oder einer Leihmutter ein Kind zu bekommen[14]. Natürlich entdecken auch Eltern, die ein Kind adoptieren, dass sie es ebenso lieben wie biologische Eltern ihre Kinder (aufgrund eines weiteren Instinktes: jenem der Fürsorge für ”Kinder, die wir in unserem Nest finden”).

Die zweite treibende Kraft – der Wunsch, den eigenen Kindern die besten Chancen für ein glückliches und erfolgreiches Leben zu eröffnen – erwartet man allgemein bei normalen Eltern. In der Tat wollen viele normale Eltern Kinder, die nicht nur normal sind, sondern irgendwie besser als die Norm. Das ist auch bei vielen anderen Säugetieren und auch Vögeln der Fall.
Ich bin der Auffassung, dass die Reproduktionsmedizin und die Reprogenetik ausschließlich von Menschen, die von diesen beiden starken Instinkten angetrieben werden, genutzt werden. Moderne Reproduktionsmedizin wird genutzt werden, um unfruchtbaren Eltern zu ermöglichen, in normalen Familienverhältnissen biologische Kinder zu bekommen. Die Reprogenetik wird genutzt werden, um den Kindern bessere Voraussetzungen für ihre körperliche und geistige Entwicklung und ein längeres Leben zu geben. Wenn man dabei nach den üblichen Regeln der Medizin vorgeht, wird keine Technologie zur Anwendung kommen, die sich nicht zuvor in Tiermodellen und natürlichen menschlichen Bevölkerungsgruppen als sicher und funktionsfähig erwiesen hat. In diesem Fall wird der Nutzen das Risiko weit überwiegen.

“Das wirkliche ethische Problem liegt nicht in einer Gefährdung, sondern in den ökonomisch bedingten ungleichen Zugangsmöglichkeiten”

Es gibt Menschen, die der Auffassung sind, Eltern hätten nicht das Recht, die genetische Ausstattung ihrer Kinder in der beschriebenen Weise zu beeinflussen. Doch insbesondere die amerikanische Gesellschaft akzeptiert das Recht der Eltern, jeden Aspekt des Lebens ihrer Kinder von der Geburt bis zur Volljährigkeit zu kontrollieren. Wenn man dieses Recht für die Zeit nach der Geburt akzeptiert, kann man es schwer für die Zeit davor ablehnen, wenn die Maßnahmen mit der Absicht und Erwartung erfolgen, den Kindern ein gesünderes und glücklicheres Leben zu ermöglichen.
In der Tat ist das Problem der Reprogenetik nicht, dass sie in sich schlecht ist oder für unlautere Zwecke missbraucht wird. Das Problem liegt nach meiner Meinung darin, dass sie zu gut ist. Das Potential der Reprogenetik ist so groß, dass jene Familien und Gruppen, die sie sich nicht leisten können, Gefahr laufen, ernsthaft benachteiligt zu werden. Das wirkliche ethische Problem liegt nicht in einer Gefährdung, sondern in den ökonomisch bedingten ungleichen Zugangsmöglichkeiten.
Dieses ethische Problem ist kein Neues. Es ist prinzipiell unfair, dass manche Leute Zugang zu Technologien haben und andere, weniger gut situierte, sich diese nicht leisten können und sich auf ihr Glück verlassen müssen. Doch in jeder demokratischen Gesellschaft ist es allen, die es sich leisten können, erlaubt, ihren Kindern Vorteile zu verschaffen, die andere Eltern nicht bieten können. In Amerika bekommen die Kinder der Reichen eine bessere Gesundheitsversorgung, eine bessere Ausbildung, und sie wachsen in Umgebungen auf, die in vielerlei Hinsicht späterem Erfolg zuträglich sind. Wenn man den Wohlhabenden erlaubt, eine teure Bildung zu kaufen, ist es schwer, ihnen aus Erwägungen der Fairness heraus andere, reprogenetische Angebote zu verbieten, die das genau gleiche Ziel verfolgen.

In einer Gesellschaft, die individuelle Freiheit als hohen Wert begreift, erscheint es kaum legitim, die Anwendung der Reprogenetik gesetzlich einzuschränken. Jeder individuelle Gebrauch der entsprechenden Technologien bewegt sich im Rahmen der reproduktiven Freiheit und hat keinen Einfluss auf die Gesellschaft als solche. Doch in der Summe betrachtet, könnte der Einsatz der Reprogenetik erhebliche Auswirkungen auf Gesellschaft und Menschheit haben. Es könnte in einer durch den freien Markt bestimmten Gesellschaft schließlich sogar zu einer Kluft zwischen zwei Klassen – den Gen-Reichen und den Naturbelassenen – kommen, die von Generation zu Generation wachsen könnte.

“Die Zukunft der Menschheit ist tausend mal länger als ihre Vergangenheit”

Am 14. März 1996 erschien in der britischen Zeitschrift Nature ein Editorial des Herausgebers John Maddox, der dort unter anderem sagte: ”Das wachsende Potential der Molekulargenetik konfrontierte uns mit der Aussicht auf die Fähigkeit, die menschliche Natur zu verändern – eine Tatsache, die selten in ihrer ganzen Tiefe diskutiert wird. Der Wissenschaft mag ein umfassendes Verständnis noch fehlen, doch die Möglichkeiten sind klar genug. Am Ende wird die ganze Menschheit darüber entscheiden müssen, wie es weitergeht, nicht nur die Forscher.” Leider stimme ich mit dem Nature-Herausgeber nicht überein. Die Wissenschaftler werden nicht in der Lage sein, die Kontrolle zu übernehmen, selbst wenn sie wollten. Ihnen fehlt in einer Marktwirtschaft schlicht und einfach die Macht dazu. Doch es ist schlechthin naiv zu glauben, die Menschheit als Ganzes, die in vielen anderen Fragen zu keinem Konsens findet, werde auch nur die geringste Rolle spielen. Die Macht, denke ich, wird beim Markt liegen, und Individuen und Paare werden im Interesse ihrer selbst und ihrer Kinder die Richtung bestimmen. Und meine Sorge ist, dass es in der Tat der Markt sein wird, der die Fortentwicklung der Menschheit bestimmen wird.

Gibt es eine Alternative? Solange es noch souveräne Staaten gibt, wird keine Grenze den freien Verkehr von Zellen und Genen verhindern können, die sich tief im Körper einer Frau befinden. Nur ein Weltstaat könnte die Reprogenetik so kontrollieren, dass seine Bürger lediglich das bekommen, was der Staat erlaubt. Aus unserer heutigen Sicht ist eine solche huxleysche Welt viel weiter von der Realität entfernt als selbst die fantastischsten Szenarien, die in diesem Artikel angedeutet wurden. Wie auch immer: Die Zukunft der Menschheit ist tausend mal länger als ihre Vergangenheit und unmöglich vorherzusehen.
An einem zweifle ich nicht: Die Nutzung der Reprogenetik wird unvermeidlich zunehmen. Zum Guten wie zum Schlechten steht eine neue Zeit bevor – eine Zeit, in der wir Menschen die Fähigkeit erlangen, die biologischen Grundlagen unserer eigenen Art zu verändern.

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