18.02.2010
Folterknecht und Menschenrecht
Analyse von Vasile V. Poenaru
Hinschauen? Wegschauen? Ein kanadisches Dilemma
Verschwörung des Schweigens. Verrat. Verleumdung. Enthüllung. Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Wahrheit/Gegenwahrheit/Lüge. Worte, die dieser Tage so rund um Ottawa kreisen – wie Aasgeier um ihren faulen Fraß: das Image eines Landes.
Ideale, Menschenverbundenheit, praktische Vernunft made in Canada: Früher konnte man der positiven internationalen Wahrnehmung des zweitgrößten Landes auf Erden wenig anhaben. Vorzügliches Engagement auf vielerlei Ebene, erwiesene Rechtschaffenheit, sinnvolle Staatspolitik und selbstloser Einsatz für die Sache des Friedens und der Demokratie in der lieben weiten Welt gehörten allenfalls zum Bild, das man sich über Kanada machte. Jetzt wird das Porträt eines Vorzeigestaats mit unbegrenzter Haftung angesichts jüngster Erkenntnisse neu gezeichnet. Ein Ausschuss des House of Commons ermittelt.
Hat sich das kanadische Militär, besser, haben sich gewisse kanadische Befehlshabende und amtierende Politiker im skrupellosen oder eben einfach unbedachtsamen Umgang mit Gefangenen strafbar gemacht? Nie zuvor war das Thema nördlich der großen Seen so zu Hause wie jetzt. Düstere Töne verzerren die ursprünglich glorreich gemeinte, doch mittlerweile fürchterlich entartete Arie des Ruck-Zuck-Afghanistan-Feldzugs.
Die Kriegsfrage in Ottawa: Müssen wir weiterhin stolz sein oder dürfen wir uns – mehr als nur insgeheim – auch mal so richtig schämen? Die Einsicht der Stunde: Auf niemanden ist Verlass, wenn’s um die Wahrung, wenn’s um die Berücksichtigung, wenn’s um die Aufrechterhaltung von Menschenrechten geht – nicht einmal auf uns. Doch wenn es gilt, zu deren Schändung beizutragen? Kein Problem.
Immerhin: Auf „unsere Soldaten der Demokratie“ (das ist jetzt die Bundeswehr) sollten alle Deutschen stolz sein, verlangte ein Welt-Journalist im September 2009. Also dürfen auch wir Kanadier weiterhin allesamt unreflektiert auf die unsrigen stolz sein, komme, was will. Eine bombastische Floskel?
Weit weg von den Augen der kanadischen Öffentlichkeit, doch in unmittelbarer Nähe der befehlshabenden kanadischen Offiziere an Ort und Stelle wurde offensichtlich die Würde der Menschen in Afghanistan vielfach angetastet. Aufgegriffen wurden verdächig aussehende Personen oft einfach so aufs Geratewohl. Unbescholtenen Bürgern, die sich zur falschen Zeit am falschen Fleck aufhielten, ging es im Handumdrehen an den Kragen. Out there. Wo’s niemand sieht. Hüben. Drüben. Jenseits. Abseits. Bei denen. Also halb so schlimm.
Terminologisch, juristisch, moralisch abgesichert dreschen die freundlichen Verbündeten der demokratischen Streitkräfte auf unsere Gefangenen los, die wir ihnen ausliefern, und wenn sich zufälligerweise ein Taliban darunter befinder, hat er die Schläge ja verdient. Und wenn nicht, dann…ja dann…
Standort Freiwild-Revier: Verloren hat das Ahornland hier weit mehr als einen Krieg. Die Glaubwürdigkeit des sogenannten kanadischen Wegs als großzügigere Alternative zur unbeliebten amerikanischen Machtpolitik ist hin. Kritisches Hinterfragen, nach bestem Wissen und Gewissen erstellte Berichte, Sinn für Menschlichkeit: so von gestern. Den neuen Ton gibt der alte, morsche Imperativ an: Talk the talk, walk the walk.
Nachdem die Amerikaner ihre anfangs freilich nicht ganz so beherzten Verbündeten im Norden nach einigem Hin und Her terminologisch in Linie gebracht hatten, war die Annährung des Verhaltens der kanadischen Soldaten in mission an ihre Vorbilder im Süden wohl nur noch eine Frage der Zeit. Erst verhaften, dann fragen. Hier! Sieht aus wie ein Taliban. Abführen!
Was den unglücklichen, aufgrund fragwürdiger Kriterien sozusagen vorsichtshalber oft kurzerhand pauschal gepeinigten Verdächigen, von denen, wie sich später erwies, viele in Wirklichkeit unschuldig waren, bei unseren dubiösen neuen Freunden, den Schergen einer korrupten Bande hergelaufener Möchtegern-Machthaber, nach deren „Verfrachtung“ zugefügt wurde? Jahrelang lautete die Faustregel: Wegschauen! Was die allermeisten ja auch taten. Schulterschluss war von der Regierung anempfohlen, nein, direkt befohlen worden. Wir wollten uns keine Blöße geben. Wer sich nicht daran hielt, wurde in den Dreck gezogen, wie etwa der kanadische Diplomat Richard Colvin, der den mutigen Entschluss fasste, den Bann des Schweigens zu brechen. Gedankt hat man’s ihm nicht.
Das Bundesparlament in Ottawa befasste sich infolge seiner unverkennbar alarmierenden Berichte schließlich am 18. November 2009 mit dem heiklen, bis dahin als unpässlich abgetanen Thema, das sich nun so leicht nicht mehr unter den Teppich kehren ließ: Folter in Afghanistan. Genauer gesagt, es befasste sich mit dem Foltern von Gefangenen, die das kanadische Militär den afghanischen „Freunden“ auslieferte, ohne wissen zu wollen, wie’s weiter geht.
Ein offenes Geheimnis: Weiter ging’s in die Folterkammer. Ob schuldig oder unschuldig, war meist einerlei. Man hat natürlich gewusst, dass Menschenrechte verletzt werden, wenn Folterknechte ihr Handwerk verrichten – zum Gedeihen des Friedens und der Demokratie in der Region. Doch alle Lippen blieben versiegelt.
Kanadische Mitschuld an Kriegsverbrechen? Richard Colvin, der 17 Monate lang als angesehener Diplomat in Afghanistan verbrachte, hatte darauf in einer Reihe von Berichten aufmerksam gemacht, denn er wusste – wie jeder Insider – bestens über die Folterpraxis des berüchtigten afghanischen Geheimdienstes bescheid. Seine Beschuldigungen hat er sorgfältig dokumentiert, stieß dabei jedoch nichtsdetoweniger bei den hohen Amtierenden der kanadischen Regierung stets auf taube Ohren.
Mitgefangen, mitgehangen. Colvins Aussage im House of Commons gemäß nahmen die Kanadier sechsmal so viele Verdächtige gefangen wie etwa die Briten. Die Gefangenen wurden dann, wie Colvin hervorhob, höchstwahrscheinlich allesamt gefoltert, denn das sei beim afghanischen Geheimdienst ein Muss. Hörensagen! schreien die machthabenden Konservativen in Ottawa. Taliban-Lügen!
Im April 2007, als die Kunde von diesen grauenhaften, an der unschuldigen Zivilbevölkerung des andauernd „befreiten“ Landes verübten Untaten an die Öffentlichkeit drang, wurde Richard Colvin von oben gemahnt, nichts mehr über die Gefangenen zu schreiben. “Weistu was so schweig”, heißt es schon in Thomas Manns Doktor Faustus. Und ganz ähnlich fügte es sich in der Grauzone des umstrittenen Einsatzes gegen einen Feind, der allem Anschein nach allzuleicht in der Bevölkerung untertaucht – oder sich unter Umtänden wenigstens in der Mentalität der Taliban-Jäger gar mit dieser identifiziert.
Die Berichte des Diplomaten wurden bald dramatisch zensiert, damit ja keine unerwünschten Nachrichten auf erhabene (und freilich sowieso verstopfte) Ohren stoßen mögen: nichts Neues an der Ostfront – oder ist das die Südfront? Angefangen hatte die ganze Geschichte mit einer „humanitären“ Mission in jener dunklen Zeit, als bezeichnenderweise noch solche von Willkür und Ambiguität zeugende Unworte wie „The mission defines the coalition“ in der Gefolgschaft der Vereinigten Staaten maßgebend waren.
Vor dem Sonderausschuss des House of Commons hieß es dann allerdings ungleich sinnvoller: Weißt du was, so sprich! Und der lange Zeit beständig von den „Patrioten“ Geschmähte und lautstark als unglaubwürdig Angeprangerte machte sich in nüchternen Tönen daran, mal so richtig auszupacken. Die Schuld für die trotz der Verschwörung des Schweigens bis zuletzt aufgedeckten Misstände schieb er dabei nicht etwa dem kleinen Mann und der kleinen Frau in Uniform zu, sondern den großen kriegerisch-strategischen Drahtziehern mit kleinlichen moralischen Anhaltspunkten: Wer kehrt sich schon daran?
Drei Monate lang hatte auch das Rote Kreuz versucht, kanadische Befehlshaber in Kandahar in diesem Zusammenhang zu erreichen. Nur waren die eben leider nie „zu Hause“. Jetzt heißt es entsprechend scheinheilig: Wir haben nichts davon gewusst. Mehr noch: Ist ja womöglich alles erfunden.
Wo die Folterknechte das Sagen haben, müssen die Menschenrechte den Kürzeren ziehen. Ungeachtet dessen feiern wir vermeintliche Erfolge „unserer Soldaten der Demokratie“ im Land der starken Warlords, des schwachen, strapaziert künstlich im Amt erhaltenen, jenseits seiner vier Wände jedoch machtlosen Staatspräsidenten - und der unendlichen Korruption. Dass die nun mit unserem ureigenen westlichen Segen (und mit Hilfe westlicher Finanzierung) „operierende“ Geheimdienste da im Rahmen ihrer Ermittlungen mit althergebrachten Methoden vorlieb nehmen, wird wohl kaum jemanden überraschen.
Mehr als ein Dutzend Schreiben hatte Richard Colvin mit denkbar abnehmender Zuversicht nach Ottawa geschickt, bevor ihn die zunehmend verstimmten hohen Tiere der Stunde unwirsch abschütteten. So genau wollten sie ja eigentlich gar nicht hinschauen. Und wenn’s schon unbedingt was zu sagen gebe: am besten nichts Schriftliches, sondern einfach mal ein Telefonat. Und nicht mehr so viel Aufhebens machen. Und wie gesagt: Schulterschluss. À la guerre comme à la guerre. Die geheime, unkanadisch mefistofelische Nachricht aus regierungsnahen Kreisen: “Weißt du was, so schweig.“