01.09.2001

Folgt dem Opferschutz die gläserne Familie?

Analyse von Kai Rogusch

Kai Rogusch warnt vor dem Trend, den Schutz des Opfers über andere Rechte zu stellen. Andernfalls droht Willkür in der Rechtsprechung.

„Jeder von uns kann jeden Tag Opfer eines Verbrechens werden. Sie beispielsweise. Zeigen Sie das Verbrechen bei den Behörden an, werden Sie unter Umständen rasch in die Kälte einer Strafverfolgungsmaschinerie geraten, in der Sie neue und zusätzliche Verletzungen erfahren. Die Routine polizeilicher Anhörungen, Zeugenvernehmungen im Strafprozess, in der Sie sich als bloßes Objekt empfinden, der spätere Kampf mit Behörden und Versicherungen um materiellen Schadenersatz. Und selbst wenn Sie das durchgefochten haben: Wer hilft Ihnen, mit den möglicherweise tiefgreifenden psychisch-sozialen Schäden fertig zu werden?“

Diese Worte stellte Axel Schmidt-Gödelitz, Leiter des Forums Berlin der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, an den Anfang der Einladungsbroschüre zur diesjährigen Berliner Opferschutzkonferenz „Im Zweifel gegen das Opfer?“. Tenor, Podium und Publikum der Veranstaltung, die am 26. und 27. April stattfand, spiegelten einen weit, auch international verbreiteten Wunsch wider, Kriminalitätsopfer zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher, politischer und juristischer Debatten und Entscheidungen zu machen. Unter Beteiligung ranghohen Personals, dessen Palette von Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin über prominente Akademiker wie Jan Philipp Reemtsma und Sprecher internationaler Opferschutzorganisationen bis hin zu Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer reichte, befasste man sich mit der Frage, wie ein täterzentriertes Rechtssystem durch einen auf das Opfer bezogenen Staat ergänzt werden könne. Auf diese Weise solle vor allem das Strafprozessrecht humanisiert werden: Besonders dem bislang auf den Täter fixierten Strafrecht sei vorzuwerfen, dass die Belange von Kriminalitätsopfern in den erbarmungslosen Mühlen der Strafjustiz zerrieben würden.

Doch auch das Sozialrecht, das Polizeirecht und das Zivilrecht sollen die Opferperspektive künftig stärker berücksichtigen. Entsprechende Vorschläge auf dieser Tagung kamen oftmals aus dem Publikum oder wurden von diesem akklamiert, wenn sie ein Referent unterbreitete. Vor allem wurde deutlich, wie sich die „Vision Opferschutz“ als Leitmotiv anbietet, um die Kluft zwischen Bürger und Staat zu überwinden und die so neu entstehende Kommunikation zwischen Wählern und Repräsentanten als neue Legitimationsquelle zu nutzen. In diesem Prozess nehmen Opferschutzorganisationen die Funktion der die Kluft überwindenden Brücken ein. Diese Verbände, die mit den Umweltschutzorganisationen, Tierschutzvereinen, Verbraucherschutzverbänden oder Kinderschutzvereinigungen in ihrer schichtenübergreifenden Eigenschaft das Schutzmotiv teilen, haben in den letzten dreißig Jahren gegenüber herkömmlichen Vereinigungen wie z.B. Parteien, Gewerkschaften oder Industrieverbänden an Bedeutung gewonnen. Sie wirken jedoch als Katalysatoren einer Entwicklung, die nicht auf die von ihnen beabsichtigte Herstellung menschengerechter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen hinausläuft, sondern Politiker in ihrer Fixierung auf das Opfer zu destruktiven Schnellschussmaßnahmen verleitet.

"Der aus der Opferperspektive getätigte Kaninchenblick auf Einzelschicksale hindert Politik, Medien und Gesellschaft am Nachdenken über die Rechte des Einzelnen."

Was die Opferschutzkonferenz verdeutlichte, war vor allem eines: Eine Gesellschaft, die verstärkt das Opfer zum Ausgangspunkt ihrer Debatten und politischen Entscheidungen macht und in den Mittelpunkt ihres Blickfeldes rückt, neigt selbst vermehrt dazu, die Welt aus der Perspektive eines Opfers wahrzunehmen. Dadurch nimmt sie sich Sachfragen und gesellschaftlicher Probleme immer irrationaler und verängstigter an, woraus panikartige und fatale politische Fehlentscheidungen resultieren können. Denn wie sieht die Welt aus der Sicht eines Kriminalitätsopfers aus? Aufgrund seiner unter Umständen traumatischen Erfahrung prägt in der Regel das worst-case-scenario sein Weltbild. In der Tat muss man feststellen, dass schon seit einiger Zeit auch die Medien die verstärkte Bereitschaft in der Gesellschaft reproduzieren, vom schlimmsten aller Fälle auszugehen.

Als beispielhaft hierfür kann die skandalöse Berichterstattung über die sächsische Kleinstadt Sebnitz gelten, an der sich ab November letzten Jahres neben der Bild auch als seriös geltende Publikationsorgane wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung beteiligten. Das Szenario, in dem angeblich Neonazis einen siebenjährigen deutsch-irakischen Jungen am helllichten Tage in einem Freibad ertränkten, ohne dass jemand unter den etwa 200 anwesenden Badegästen eingriff, könnte durchaus einem mit Zukunftsangst durchtränkten Experimentalfilm entstammen. Wenn die Zustände tatsächlich so schlimm wären, wie es das worst-case-scenario suggeriert, dann erübrigten sich kritische Einwände, welche die Privatsphäre oder die Vereinigungsfreiheit gegen die Maßnahmen eines „Notstandstaats“ verteidigen. Die Berliner Opferkonferenz zeigte in diesem Sinne deutlich, dass der Kaninchenblick auf tatsächliche oder vermeintliche Missstände, seien sie im Einzelfall auch noch so tragisch, die Dimensionen der Realität verzerren und zu verantwortungslosen politischen Entscheidungen führen kann.

Aus der bei der Veranstaltung anwesenden Prominenz ragte Christian Pfeiffer, sozialdemokratischer Justizminister des Landes Niedersachsen, als Personifikation dieses fatalen Trends heraus. Pfeiffer ist übrigens mit verantwortlich für die rufschädigende Zeitungsente über Sebnitz, da das Kriminologische Forschungsinstitut von Niedersachsen, dessen Direktor er zu diesem Zeitpunkt war, die Wiederaufnahme der bereits abgeschlossenen Ermittlungen im „Fall Joseph“ mit veranlasste. Der dafür ausschlaggebende Bericht seines Instituts stellte fest, es bestünde die Möglichkeit, dass Neonazis bei helllichtem Tage unter Anwesenheit von vollem Publikum den kleinen Josef ertränkt hätten. Angesichts so spekulativer Aussagen muss man sich fragen, ob nicht gerade die Mitarbeiter des Kriminologischen Forschungsinstituts von Niedersachsen einen besonders morbiden Hang zum worst-case-scenario haben. Wer kann schon mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass nicht in der Nachbarwohnung Außerirdische leben?

"Wer kann schon mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass nicht in der Nachbarwohnung Außerirdische leben?"

Jedenfalls hat die Episode Sebnitz der Karriere des niedersächsischen Justizministers keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Seine enthusiastisch vorgetragenen Horrorerzählungen und exzentrischen Rechtssetzungsvorschläge zur Verwirklichung des Staatsziels „Opferschutz“ begeisterten das auf der Tagung anwesende Publikum. Pfeiffer hat sich unter anderem zu einem Top-Experten für Themen wie innerfamiliäre, partnerschaftliche und Jugendgewalt sowie ähnlichen Phänomenen gemausert. Dies mag ebenso wie andere Umstände sein opferzentriertes Weltbild geprägt haben. Seine Ausführungen, die er dem gespannten Publikum während der auf der Tagung abgehaltenen Pressekonferenz darbot, knüpften an beklemmende Darlegungen an, die andere Referenten vorher über hohe Dunkelziffern bei Beziehungsstraftaten oder Opfer rechtsextremer Gewalt machten. Mit geschickter Rhetorik gelang es ihm, die schon latent vorhandene Atmosphäre des Alarms und der Beklommenheit zu steigern. An seine dramatisierenden Äußerungen über schlimme Zustände in unserer Gesellschaft schlossen sich höchst kritikwürdige politische Vorschläge und Folgerungen an.

Doch angesichts der alarmierten worst-case-Stimmung musste jeder kritische Einwand als eine Äußerung eines Unzurechnungsfähigen erscheinen. So sprach Pfeiffer zum Beispiel von einem Mädchen, das von seinem Vater bis zu 50-mal vergewaltigt worden sei und schlug dann vor, in Kindergärten, Schulen usw. Ansprechpartner zu institutionalisieren, denen ein Kind alles das anvertrauen könne, was ihm zu Hause widerfahre, ohne Angst haben zu müssen, dass die Eltern hiervon erfahren. Auf freudige Zustimmung im Publikum stieß Pfeiffer auch, als er die in Schweden üblichen amtlichen „Überraschungsbesuche“ bei Elternhäusern erwähnte und dann sagte, die wolle man nun auch in Niedersachsen etablieren. Dass man mit solchen Maßnahmen die Familie in eine Art Big-Brother-Container verwandelt, schien keinen zu stören, sondern kam als positive Vision beim Publikum an. Doch wie können Eltern ein unbefangenes Verhältnis mit ihren Kindern eingehen, wenn künftig „irgendwo da draußen“ der Träger des staatlichen Gewaltmonopols lauert? Welchen institutionellen Schaden solche Reformen langfristig anrichten können, wurde auf der Konferenz nicht thematisiert.

Der aus der Opferperspektive getätigte Kaninchenblick auf tragische Einzelschicksale hindert Politik, Medien und Gesellschaft am Nachdenken über langfristige Folgen unbedachter Ad-hoc-Maßnahmen sowohl für die Gesellschaftsarchitektur als auch für die Rechte des Einzelnen.

Ähnliches gilt auch für die gut gemeinten Vorschläge, im Strafprozess den Ausbau von Opferrechten fortzusetzen. Um Kriminalitätsopfern seelische Belastungen im Strafprozess zu ersparen, sie in ihrer Subjektstellung zu stärken und ihrer Verdinglichung entgegenzuwirken, fordern Opferschutzverbände schon seit langem das Unterlassen von Mehrfachbefragungen, die vermehrte Praxis der Videovernehmung und Beteiligungsrechte wie z.B. das Akteneinsichtsrecht für immer mehr Opfergruppen.

Der verstärkte Ausbau von Zeugnisverweigerungsrechten für besonders verletzbare Opferzeugen gehört mit zum Kanon der Forderungen, die Organisationen wie beispielsweise der Weiße Ring schon seit Jahren an die Politik richten. Mit allen diesen Vorschlägen verfolgen sie das verständliche Ziel, die Funktion des Opferzeugen als bloßes Beweismittel im Strafprozess zu relativieren. Diese Subjektivierung des Strafprozesses würde aber unweigerlich dem künftigen Strafrichter die objektive Wahrheitsermittlung erschweren und nach und nach einer dominanten Rechtsunsicherheit und Willkür Vorschub leisten. Es bleibt zu hoffen, dass die Opferschutzverbände, die mittlerweile zu einer treibenden Kraft im politischen Prozess geworden sind, sich mit ihren bedenklichen Zielen nicht durchsetzen. Zur Verwirklichung der „Vision Opferschutz“ müssten Politik und Justiz das Recht mehr und mehr verwässern und schließlich „opfern“.

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