01.05.2002

FDA beendet faule Tricks

Analyse von Hans-Joachim Maes

Ein unrühmliches Beispiel aus der Pharmabranche zeigt, was in den USA unter Verbraucherschutz verstanden wird.

Unerfreulich: 1,1 Millionen Menschen leiden weltweit an „Multipler Sklerose“ (MS), allein 300.000 in den USA.1 Noch unerfreulicher: Die Ursachen der Erkrankung sind nach wie vor nicht bekannt. Erfreulich ist hingegen, dass Klarheit zu erlangen ist, wie bestimmte Medikamente bei MS helfen. Noch erfreulicher, dass bei näherem Hinsehen Bedenkliches zu Tage tritt: Tricks, die ein Pharmaunternehmen anwendet, um sein Präparat zu verkaufen. Einmal enttarnt, wird man sich etwas Neues einfallen lassen müssen.

MS wird in drei Kategorien behandelt: Symptomatisch, während der MS-Attacken und den Verlauf der Erkrankung modifizierend. Interferone spielen bei der letztgenannten „immunmodulatorischen Stufentherapie der MS“ die entscheidende Rolle.3 1993 wurde in den USA mit Interferon Beta 1b (Betaseron®) erstmals ein Interferon zur Behandlung von MS zugelassen; hinzugekommen sind Interferon beta 1a (Avonex®), Copolymer 1 (Copaxone®) und seit März 2002 Rebif. Den Markt teilen sich wenige Firmen (Biogen, Schering, Serono, Teva). Jeder behandelte Patient bringt einen Jahresumsatz von ca. 16.000 Euro, was den Vorwurf begründet, Pharmafirmen würden „jeweils genehme Einzelergebnisse aus den Studien herausfiltern und diese in ihren Handouts und Broschüren verbreiten“.

Schlimmer als „geschönte“ Beschreibungen ist das, was die amerikanische Überwachungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) und deren „Center for Drug Evaluation and Research“ (CDER) dem „Avonex®“-Hersteller Biogen Inc. vorwarf: wiederholte Irreführung und Täuschung der Behörden, Mediziner und Patienten. In einem Schreiben vom 22. 11. 2000 bezeichnete die FDA u.a. als „falsch und/oder irreführend“:

  • Die Erklärung, „Avonex®“ sei Konkurrenzpräparaten überlegen (FDA: „falsch und irreführend“)
  • Methodischen Mangel (FDA: Exakter Bezug zwischen Daten und dem klinischen Zustand der Patienten fehlt)
  • Falsche Angabe zu Nebenwirkungen (FDA: keine „seltene“ Nebenwirkung; Aussagen von Biogen seien „weite Generalisierungen“ ohne jegliche klinische Daten, somit „irreführend“)
  • Falscher Kontext: Für eine Indikation, bei der Biogen Inc. Erfolge reklamierte, war „Avonex®“ gar nicht zugelassen
  • Falsche Bewertung: Die Aussage, „Avonex®“ sei das „in der Welt führende Medikament für MS“ und in seiner Wirksamkeit „unübertroffen“, sei „irreführend“, da es keine adäquaten Vergleichsstudien gebe
  • Irreführendes Eigenlob: Biogen Inc. hatte – beim Vergleich mit einem Konkurrenzprodukt – erklärt, die Zufriedenheit mit Avonex sei „sehr hoch“ (FDA: Der dafür genannte p-Wert ist „nicht signifikant“)

Weitere Feststellungen der FDA bezogen sich auf unerlaubte Präsentationen von Werbeaussagen. Als gesetzeswidrig wurden „unsubstantiierte Ansprüche“ gewertet, „vorläufige Studienergebnisse“ würden Avonex künftig zum „weltweit häufigst verschriebenen MS-Medikament“ machen. Die FDA forderte die sofortige Abstellung der Mängel und bemerkte abschließend, dieses Schreiben sei keine „all-inclusive list“ aller Mängel, die Biogen Inc. bei der Werbung für Avonex unterlaufen seien.

Nicht nur Ärzte, auch Patienten können durch ungenaue Angaben irritiert werden. Vergleicht man die zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Gelegenheiten gegebenen Avonex-Beschreibungen durch Biogen Inc., fallen Unterschiede auf: So verbreitete Biogen die untersagte Aussage zu „seltenen Nebenwirkungen“ weiter, sogar mit dem Zusatz: „Erwarten Sie geringe oder keine Reaktionen an der Injektionsstelle.“ Das sah der medizinische Direktor von Biogen Deutschland einmal gänzlich anders: Er ließ verlautbaren, man habe injektionsbedingte Hautreaktionen bei „52 Prozent der Patienten“ festgestellt.

Gravierende Widersprüche gibt es bei der Darstellung von Avonex-Nebenwirkungen. So heißt es in einem Papier über „Klinische Studienergebnisse mit Avonex“: „Denken Sie daran, dass Nebenwirkungen im Laufe der Zeit geringer werden.“Gemeint sind hier alle Nebenwirkungen. Im Papier „Warum Avonex®?“ wird formuliert: „Die meisten Nebenwirkungen sind handhabbar, voraussagbar und tendieren dazu, im Laufe der Zeit zu verschwinden.“ Exakt diese Formulierung findet sich im oben zitierten Papier über „Klinische Studienergebnisse“, nur ist der Bezug ein anderer. Biogen Inc. verweist nicht auf allgemeine „side effects“ (die tendenziell geringer würden), sondern auf „diese“ Nebenwirkungen – gemeint sind hier Grippe-Symptome, die „in den ersten Stufen der Therapie“ auftreten können.

Die gleiche Aussage traf Biogen auch an anderer Stelle: „Die Nebenwirkungen, die mit Avonex assoziiert sind, verschwinden üblicherweise innerhalb von 24 Stunden nach der Injektion, und sie tendieren zur Verringerung über die Zeit.“ Erneut beschrieb Biogen die Grippe-Symptome, bezog die Aussage aber auf alle Nebenwirkungen. Andere Nebenwirkungen werden hingegen nicht genannt; pauschal heißt es lediglich: „In einer größeren klinischen Studie mit Avonex® haben nur 4 Prozent der Patienten die Therapie wegen Nebenwirkungen nicht fortgesetzt.“

Ein Vergleich der für Laien/Patienten gedachten Packungsbeilage mit Nebenwirkungsangaben mit denen der „Kompletten Verschreibungs-Information“ ergibt ebenfalls Differenzen: In der dortigen Tabelle 2 werden Placebo-Empfänger (N=143) und Avonex-Empfänger verglichen (N=158). Nebenwirkungen bei Avonex-Empfängern liegen bei allen 45 Parametern höher als bei der Placebo-Gruppe. In Biogens Laien/Patienten-Text werden 7 Parameter herausgegriffen und nach einem unerklärten Schema als „Statistically Different Yes/No“ eingestuft. Ergebnis: viermal „yes“, dreimal „no“, wobei „yes“ bedeutet, die Nebenwirkung sei durch Avonex verursacht. Der Parameter „Anämie“ – in der „kompletten“ Version ebenfalls mit „yes“ gewichtet – fehlt in der Patientenversion.

Das Unternehmen Biogen unterscheidet sich wesentlich von seinen Konkurrenten: Es ist auf Gedeih und Verderb auf einen steigenden Verkauf 23 von Avonex angewiesen. Nach dem Bericht an die amerikanische Börsenaufsicht erbrachte der Verkauf von Avonex in den beiden ersten Quartalen 2001 satte 93 Prozent des Produktumsatzes. Die zentrale Bedeutung von Avonex wird vom Unternehmen so beschrieben:

„Die Fähigkeit des Unternehmens, Steigerungen des Umsatzes und der Profitabilität in naher Zukunft zu erreichen, ist vor allem abhängig vom Avonex®-Umsatz und den Avonex®-Verkäufen.“ Da Avonex bislang das einzige Produkt sei, das von dem Unternehmen selbst verkauft werde, hänge die Entwicklung davon ab, ob erfolgreich weitere Produkte entwickelt und vermarktet werden könnten. Selbsteinschätzung: „Es kann keine Garantie dafür geben, dass die Gesellschaft erfolgreich sein wird, neue Produkte zu entwickeln und zu kommerzialisieren.“

„Eine eigene Elle ist besser als eine geborgte Meile“, heißt es in einem Sprichwort. Biogen verfährt offenbar genau nach diesem Motto: Eigenen Erfolg misst man praktischerweise mit dem eigenen Instrumentarium, ausgerichtet am eigenen Produkt:

In den „Research Highlights Summer/Fall 2000“ berichtete die amerikanische „National MS Society“ („NMSS“) über „MSFC“ („The Multiple Sclerosis Functional Composite“). Das Messinstrument sei von einer „Task Force“ der Gesellschaft gemeinsam mit Biogen Inc. entwickelt worden. Damit könne eine Behinderung wesentlich besser vorausgesagt werden als mit bisherigen Mitteln (z.B. der EDSS-Skala). Ausformuliert klingt das überschwängliche Eigenlob so: „MSFC wurde seit seiner Einführung in nahezu jede größere klinische MS-Studie eingebaut.“

Das ist eine reine Erfindung. Tatsächlich wurde „MSFC“ nur bei wenigen Studien verwandt; von denen sind die meisten von Biogen Inc. beeinflusst: ihre Autoren waren entweder Angestellte von Biogen Inc., hatten andere Honorare und/oder Forschungsgelder von Biogen Inc. erhalten oder waren indirekt über eine Klinik entlohnt worden.

Die Rügen der Aufsichtsbehörde FDA hat Biogen Inc. wohl schlicht ignoriert. Kein Wunder, dass dem Unternehmen am 29. März 2001 ein sehr drastisch formuliertes „Warnschreiben“ der FDA31 mit folgendem Inhalt zuging: Biogen Inc. habe gegen den „Federal Food, Drug, and Cosmetic Act“ und gegen den „Code of Federal Regulations“ verstoßen, mehrfach und fortgesetzt. Die FDA drohte diesmal harte Maßnahmen (Beschlagnahmen, richterliche Anordnungen, Verhängung von Strafen) an, falls Biogen Inc. nicht sofort seine gesetzeswidrige Handlungen einstelle.

Stein des Anstoßes war diesmal Biogens Pressemitteilung vom 16.1.2001 „Neue Studie mit Biogens Avonex zu sekundären progressiven MS erreicht primären Endpunkt“. Bemängelt wurde erneut die Verwendung des „Instruments“ MSFC durch Biogen Inc.: „FDA hat festgestellt, dass MSFC ein nicht zulässiger primärer Wirksamkeits-Endpunkt ist. Daher ist jede Darstellung oder jeder Anspruch zum Nutzen des MSFC als primärem Endpunkt, basierend auf Daten aus dieser Studie, falsch und irreführend.“

Dreister noch als die Verwendung eines untauglichen unerlaubten Instruments: Biogen Inc. startete eine Werbekampagne mit der höchst ethisch erscheinenden Begründung, ein „unabhängiges Komitee“ habe den Abbruch der wichtigsten Avonex-Studie33 empfohlen, nachdem eine geplante Analyse die Effizienz der Therapie bewiesen habe.

Die Bezeichnung „unabhängiges Komitee“ für das Gremium ist ein schlechter Scherz. Von den neun Autoren der Studie waren sechs „bezahlte Berater von Biogen“, zwei sind Biogen-Direktoren. Zugleich bildeten die erstgenannten sechs das „Advisory Committee“. Das „unabhängige“ „Data and Safety Monitoring Committee“ bestand aus sechs Vertretern der „National MS Society“ (die von Biogen Sponsorengelder erhalten hatte) und fünf Biogen-Mitarbeitern.

Die FDA hatte offensichtlich von Biogens Machenschaften genug: Am 7.3.2002 erteilte die Behörde dem Konkurrenzprodukt „Rebif®“ des Schweizer Unternehmens Serono die Zulassung. Damit verlor Avonex den Schutzstatus nach dem „Orphan Drug Act“, steuerliche Privilegien und ein sieben Jahre währendes Verschontbleiben vor Konkurrenz; eigentlich wäre der „orphan“-Status für Avonex erst im Jahre 2003 abgelaufen.

Ein harter Schlag, mag man meinen, aber Biogen Inc. nutzte die Gelegenheit in gewohnter Weise. Biogen-Präsident James C. Mullen sagte am Tage nach der Rebif-Zulassung, sein Unternehmen sei der „Weltführer in MS-Therapie und -Forschung“. Vier Tage später unterstellte Biogens Vizepräsident für Forschung und Entwicklung, Burt Adelman, der FDA, wegen eines „kleinen Vorteils“, der auch nur 24 Wochen anhalte, das Konkurrenzpräparat zugelassen zu haben.

Schön, wie man sich steigern kann: Am 8.3.2002, dem Tag nach der Rebif-Zulassung, definierte Biogen Inc. Avonex als ein Medikament „für die Behandlung der Rückfall-Formen der Multiplen Sklerose“. Dieser Passus ist auch in einer weiteren Pressemitteilung vom 12.3.2002 zu finden. Am 18.4.2002 hieß es schließlich: „Avonex ist die führende Behandlung für Multiple Sklerose weltweit, mit mehr als 118.000 Patienten in Therapie.“41 Am 6.5.2002 wiederholt Biogen Inc. diesen Text, mit einer Änderung: die Zahl der Patienten hat die Firma schlicht auf 121.000 hochgeschraubt.

Auch Werbeaussagen über Avonex als „weltweit führendes MS-Medikament“ hatte die FDA verboten, was Biogen Inc. nicht hinderte, nach dem Verbot dies noch zu steigern (Avonex werde „von mehr Menschen genommen als alle anderen MS-Therapien zusammen“). Dies stimmt schon deswegen nicht, da Avonex und/oder die anderen Interferone nur für den Teilbereich der „immunmodulatorische Stufentherapie“ der MS eingesetzt werden. Man darf gespannt sein, welche weiteren Schritte Biogen zu gehen bereit sein wird.

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