01.11.2003

Fadenscheinigkeit mit Fadenscheinigeit bekämpfen: Schlingensief und die Church of Fear

Analyse von Hanko Uphoff

Im September gestierte Christoph Schlingensief mit der Church of Fear in Frankfurt. Da muss doch eine Idee dahinterstecken. Schlingensief diagnostiziert Verängstigung durch Meinungsmache. Eine richtungsweisende Zeitgeistdiagnose?

Im September gastierte der Kulturschocker Christoph Schlingensief von der Berliner Volksbühne und Mitbegründer der seit März 2003 bestehenden Church of Fear in Frankfurt. Die Kirche predigt Angst als Verheißung. Nach dem Vorbild der Styliten harrten im September sieben Arbeits-, Obdach- oder Hoffnungslose auf sieben Pfählen aus, um zu demonstrieren, dass sie durch Ängste fremdbestimmt sind, die ihnen durch Dritte gemacht werden. Was soll das? Dazu Schlingensief: „Ja, das mit dem Sinn ist immer ein Problem des Fernsehens. Das haben wir gar nicht. Wir sind einfach unterwegs.“ So pilgerten die Anhänger der Gemeinde von Köln nach Frankfurt, hielten im Bockenheimer Depot ein Abendmahl ab und starteten dann an der Frankfurter Hauptwache das dritte internationale Pfahlwettsitzen.

Doch lassen wir uns die Sinnfrage nicht ausreden. Ist das Konzept der Church of Fear kohärent? Christian Geyer bezweifelte in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass man von Glauben sprechen kann, wenn „Heiligkeit als Programm unter Programmen“ entdeckt wird, und verzeichnete eine inflationäre Verwendung des Glaubensbegriffs (18.9.03). Vielleicht ist derartige Nüchternheit aber auch fehl am Platz? Das Ganze kann sich auch darstellen als „eine der bestfunktionierenden sozialen Plastiken, die jemals aus einem Kunstkontext heraus entstanden sind“, so Florian Malzacher in der Frankfurter Rundschau (18.9.03).

Schlingensief spricht unliebsame gesellschaftliche Themen an, indem er institutionelle Möglichkeiten oder populäre Medienformate seinen Intentionen gemäß umbiegt und auf diese Weise persifliert. So gründete er anlässlich der Bundestagswahl 1998 unter dem Namen „Chance 2000“ die Partei der letzten Chance, die sich Unterstützung gesellschaftlicher Minderheiten bei Integration und Selbstdarstellung im öffentlichen Leben zum Ziel gesetzt hatte. Unter dem Motto „Wähle Dich selbst“ sollte „Scheitern als Chance“ begriffen werden. Im Jahr 2000 bediente sich Schlingensief des Big-Brother-Formats und steckte zwölf als Asylbewerber anmoderierte Teilnehmer in einen Container. Täglich konnten die zwei unliebsamsten Bewerber telefonisch herausgewählt werden, um sie angeblich in ihr Heimatland abzuschieben. Im Jahr 2001 ließ er seine ansonsten klassische Hamlet-Inszenierung unter Beteiligung von Neonazis aufführen, und 2001 persiflierte er mit „Quiz 3000“ die Jauch-Sendung „Wer wird Millionär?“. Anstelle des bei Jauch abgefragten punktuellen Faktenwissens sollten jedoch Schlingensiefs Fragen die Welt, in der wir leben, als Zusammenhang thematisieren. Aber gelingt das, indem man die Kandidaten Konzentrationslager gemäß ihrer Lage von Nord nach Süd sortieren lässt? Gespannt sein darf man auf Schlingensiefs Inszenierung des Parsifal auf den Bayreuther Festspielen im kommenden Jahr, mit der er die höheren Weihen des Kulturbetriebs erhält.

„Das mit dem Sinn ist immer ein Problem des Fernsehens. Das haben wir gar nicht. Wir sind einfach unterwegs.“

Was ist jedoch Programm der Church of Fear? Die Church of Fear bezeichnet sich selbst als Gemeinschaft von Ungläubigen, die den Zeitgeist anprangert. Negativvisionen, die kranke Börsen, einen ungesunden Arbeitsmarkt, Kriegsangst und Volksdepression beschwören, werden unter Ideologieverdacht gestellt, um ihnen die Legitimationsbasis zu entziehen. Hier liegt der Bezug zur Glaubenskategorie. Die Church of Fear äußert den Verdacht, die Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kultur produzierten zielgerichtet Ängste, um sich die Gefolgschaft der Bevölkerung zu sichern. Daher seien sie als die eigentlichen Sektierer oder gar als „öffentliche Geheimbünde“ zu betrachten. Glaube werde dort am effektivsten produziert, wo nichts dringlicher wäre als Unglaube: in den Parlamenten, Kirchen, Medien und Theatern. Gemeint ist der Glaube an die Legitimität der Art und Weise öffentlicher Diskussion über angstbesetzte Themen wie den 11. September, die vermeintliche Bedrohung durch den Irak oder die Eindampfung des Sozialstaats. Religionen verstanden es historisch betrachtet durchaus, die Ängste selbst zu schüren, von denen sie die Menschen zu erlösen versprachen. Dieses Motiv weitet die Church of Fear aus auf die Produzenten der öffentlichen Meinung, d.h. die Konstrukteure geltender Wirklichkeit überhaupt. Sie ruft zur Skepsis auf und erklärt den „Unglaubenskrieg“. Das Bekenntnis zur eigenen Angst sei geeignet, die Indoktrination aufzuheben, weil es die Erlösungssehnsüchte wegfallen lässt, auf die sich die angeprangerten Heilsversprechen beziehen. Wer keine Erlösung von seiner Angst sucht, braucht nicht länger an die Sachwalter vermeintlich erlösender Methodik zu glauben.

Allerdings kann die öffentliche Diskussion im Effekt auch dann ein depressiv-ängstliches Klima zeitigen, wenn die Diskutanten die positivsten Intentionen verfolgen. Ist die Behauptung zielgerichteter Angstproduktion durch Sektierer aus Politik und Kulturindustrie nicht durchweg paranoid? Zur Zeit des zweiten Golfkriegs waren die Medien von der Möglichkeit unabhängiger Informationsbeschaffung weitgehend abgeschnitten, während im Zuge des dritten Golfkriegs eine Strategie des „Embedded Journalism“ verfolgt wurde. Strategien verfolgen grundsätzlich Ziele, und ein Wechsel der Strategie zeigt lediglich an, dass die erste Strategie ungeeignet zur Erreichung des Ziels war, bestätigt aber selbstverständlich die Zielgerichtetheit der Informationspolitik in Kriegszeiten. Kriegsberichterstattung ist wohl ein gutes Beispiel für den Versuch, die öffentliche Meinung zielgerichtet zu beeinflussen, auch indem man mit den Ängsten der Bevölkerung arbeitet. Derartige Zielgerichtetheit aber zum Grundprinzip öffentlicher Berichterstattung und Diskussion zu erheben, ist vollkommen überspannt. Blickt man etwa auf die deutsche Reformdebatte, zeigt diese sich als erzwungen durch wirtschaftliche und prognostizierte demografische Entwicklungen sowie die auf dieser Grundlage fußende Ansicht, auch der Sozialstaat sei in seiner derzeitigen Form vor allem der historischen Situation geschuldet, der er entstammt. Wie auch immer man sich zu den konkret angestrebten Reformen stellt, und bei aller Beunruhigung: von zielgerichteter Angstproduktion zu sprechen ist lächerlich. Vielmehr treiben historische Prozesse die politischen Akteure vor sich her.

Wieso solle man sich aber befreien können, indem man die einem von Dritten gemachten Ängste zelebriert? Vielleicht lässt sich die Church of Fear existentialistisch interpretieren. Die Philosophen Sören Kierkegaard und Martin Heidegger interpretierten Angst als eine Grundkategorie menschlicher Existenz. Im Wissen des Menschen um seine eigene Endlichkeit sei dieser angerufen, für sich selbst Sorge zu tragen und sein Dasein aktiv zu führen und gestalten. Auch wenn beide die Angst in ihrer Bedeutung möglicherweise überschätzten: es ging ihnen nicht um konkrete Ängste vor Arbeitslosigkeit oder Krieg, sondern um einen Allgemeingültigkeit beanspruchenden Bezugspunkt, der innerhalb eines gedanklichen Systems geeignet sein kann, den Menschen durch Einsicht in seine Situation zum Vollzug eines entschlossenen Lebens zu motivieren. Angst wäre dann nicht durch Dritte erzeugt, sondern dem Einzelnen je angehörig. Insofern jedoch die Anhänger der Church of Fear beanspruchen, ihre Unabhängigkeit gerade dadurch zu erlangen, dass sie konkrete, ihnen durch Dritte erzeugte Ängste annehmen, fällt diese Interpretation flach. Naturwissenschaftlich betrachtet signalisiert Angst einem höheren Organismus die Gefährlichkeit einer Situation und löst eine reflexhafte Reaktion zur Vermeidung dieser Gefahr aus. Auch hier stellt Angst aber nur ein Durchgangsstadium in einem umfassenderen Prozess dar und scheidet als mögliche Interpretation aus.

Ist die Behauptung zielgerichteter Angstproduktion durch Sektierer aus Politik und Kulturindustrie nicht durchweg paranoid?

Allem Anschein nach trägt der Grundgedanke der Church of Fear nicht weit. In vielen Fällen ruft Angst einfach rein affektuelle Reaktionen hervor. Aus Angst kann auch ein Gedanke entstehen, an dem sich dann ein Handeln orientiert. Der Gedanke selbst ist dann aber nicht mehr Angst, sondern geht über sie hinaus. Er beinhaltet einen Entwurf. Angst selbst, auch wenn sie gedanklich gefasst ist, hat jedoch keinen Entwurfcharakter. Gedankliche Fassung der Angst schreibt lediglich einen negativen Zustand fest und kommt permanent auf ihn zurück.

Außerdem fordert die Church of Fear zwar einerseits Skepsis gegenüber dem Legitimitätsanspruch der Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kultur, schreibt aber gleichzeitig die Darstellungsweise der durch diese Akteure „produzierten“ Angstthemen fest, indem sie sich die Ängste nicht nehmen lassen will, die aus genau dieser Darstellung erwachsen sind und die sich auf genau diese Darstellung beziehen. Erinnern wir uns also der Worte Schlingensiefs zum Sinnproblem: „Das haben wir gar nicht. Wir sind einfach unterwegs.“ Statt sich also über verunglückte Ideologiekritik zu ärgern, die Fadenscheinigkeit mit Fadenscheinigkeit bekämpft, sollte man sich vielleicht doch lieber an der netten sozialen Plastik erfreuen. Dass jedoch die Church of Fear den Händen Schlingensiefs entgleitet und sich verselbständigt, wie die Frankfurter Rundschau für möglich hält, ist kaum zu erwarten. Angst als Programm bleibt wirkungslos.

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