11.04.2014

Europawahl: Schulz-Lamento in Zeiten geistiger Stagnation

Kommentar von Kai Rogusch

Der Wahlkampf des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten bei der Europawahl, Martin Schulz, erschöpft sich im Lamento über "gierige" Finanzeliten und unschuldige Krisenopfer, kommentiert Kai Rogusch. Die wahren Ursachen der Misere Europas bleiben dabei unerwähnt

Der Europawahlkampf nimmt ganz langsam an Fahrt auf. Die wichtigsten Parteienbündnisse treten mit europaweiten Spitzenkandidaten an. Man darf sich zwar nicht sicher sein, ob die Staatschefs das Votum der europäischen Bürger am Ende auch respektieren werden. Aber wir erleben trotzdem erstmals so etwas wie einen EU-„Präsidentenwahlkampf”. Und viele große Themen harren einer eingehenden Klärung: Sie betreffen außenpolitische Konflikte mit Russland im Zuge der Ukrainekrise, die noch nicht ausgestandene Eurokrise bis hin zu der Frage, welche politische und staatsorganisatorische Form Europa annehmen soll. Politik könnte also zumindest theoretisch wieder spannend werden.

Doch leider drängt sich der Eindruck auf, dass die programmatischen Darbietungen der Parteien nur die sattsam bekannten Phrasen wiederholen. Eher peinlich wirkt beispielsweise der sozialdemokratische Spitzenkandidat Martin Schulz. So will dieser die in der Tat bedrückende Lebenssituation der Leidtragenden der Eurokrise thematisieren. Ihm schwebt eine Politik vor, die in der Lage ist, „den Schmerz der Menschen in der Krise zu fühlen“. Gerade hieran wird deutlich, dass sich die von Schulz anvisierte “Politisierung” des Europawahlkampfes auf eine gefühlsduselige und ohnmächtige Darbietung persönlicher Betroffenheit reduziert. Denn er reproduziert mit seinem abgestandenen Lamento über „unschuldige Krisenopfer“ und „böse Banken“ das fatalistische Stimmungsbild eines simplen und monokausalen Täter-Opfer-Verhältnisses, dessen sich die Politik auch deshalb bedient, um von der eigenen Verantwortung für die Krise abzulenken.

„Die von Schulz anvisierte Politisierung des Europawahlkampfes reduziert sich auf eine gefühlsduselige und ohnmächtige Darbietung persönlicher Betroffenheit.“

Schulz beklagt, dass in vielen Ländern Europas die Politiker Opfer von der Bevölkerung verlangen: niedrigere Löhne, gekürzte Renten, weniger Arbeiterrechte und reduzierte öffentliche Dienstleistungen. Und das alles nur, um die Banken, deren Protagonisten die maßgebliche Verantwortung für das Desaster trügen, zu retten. Als Kommissionspräsident wolle er demgegenüber „Fairness“ zum Leitfaden seiner Politik machen. Zu lange sei „Gier“ mehr belohnt worden als harte Arbeit.

Nun stimmt es zwar, dass erhebliche Lasten der Krise von den Leuten zu tragen sind, die ohnehin schon nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Auch lässt sich nicht abstreiten, dass sich der Finanzsektor vom Leben der normalen Bürger abgekoppelt hat und zur Formierung einer Geldoligarchie beiträgt, die sich für den Rest der Gesellschaft immer weniger interessiert. Problematisch ist nur, dass Leute wie Schulz nicht in der Lage zu sein scheinen, die tieferen Ursachen des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens auch nur ansatzweise zu thematisieren.

Es ist weniger die angeblich unkontrollierbare „Gier” der ökonomischen Eliten, die zu ihrer Abkapselung von der Gesellschaft geführt hat. Die eigentlichen Ursachen liegen tiefer und haben viel mit dem kulturellen Selbstverständnis unser Gesellschaft zu tun: Seit Jahrzehnten stagnieren wir nicht nur ökonomisch, sondern auch geistig. Wir glauben nicht mehr daran, durch gemeinsame Anstrengungen die Lebensbedingungen für alle Menschen spürbar verbessern zu können. Politiker wie Schulz zeigen sich verstört darüber, dass sich Talent, Energie und Erfindungsreichtum vieler der klügsten und ambitioniertesten Köpfe im Finanzsektor in ihrer destruktiven Ausdrucksform zeigten. Doch dabei ist es nicht überraschend, dass der Finanzsektor in einer Zeit, in der man immer weniger daran glaubte, ein auf Wirtschaftswachstum basierendes Wohlstandsmodell am Laufen zu halten, nur eine faule Illusion der Wohlstands- und Vermögensmehrung erzeugen konnte. Die trügerischen „Werte” des Finanzkapitalismus konnten ihren Einfluss nur entfalten, weil wir den Sinn für reale Wertschöpfung verloren haben. Wir haben heute keinen Plan dafür, durch Investitionen die Grundlage für eine reichere Zukunft zu schaffen.

„Daran haben nicht zuletzt eher mediokre Gestalten wie Martin Schulz ihren gehörigen Anteil.“

Die „Kreativität” in unserer Gesellschaft hat sich dabei nicht zuletzt in Form undurchschaubarer Finanzkonstrukte in einer für das Allgemeinwohl wenig förderlichen Spielart offenbart. Doch die eigentliche Ursache dafür liegt nicht krimineller oder sonstwie böswilliger Gesinnung. Bis Anfang der 1980er-Jahre wollten die besten Absolventen der US-Eliteunis noch bei der NASA arbeiten, danach strömten sie an die Wall Street und wollten eine Karriere wie Gordon Gekko machen. Die „asozialen Auswüchse“ der Finanz- und Wirtschaftskrisen sind ein Symptom eines politischen und kulturellen Prismas, das keinen Sinn mehr dafür hat, wie sich die Talente und die Energie in unserer Gesellschaft bereichernd einsetzen ließen. Unsere öffentliche Kultur und Politik hat sich im Status Quo eingenistet. Ambitionslosigkeit dominiert den öffentlichen Raum. Die Eliten können sich in unserer Gesellschaft nicht mehr als Speerspitze des Fortschritts begreifen. In unserer Öffentlichkeit versiegt das Streben danach, die Energien der Menschen in einer auch gesellschaftlich gedachten Art und Weise konstruktiv zu kanalisieren – zugunsten einer den Wohlstand aller Menschen vermehrenden Gestaltung unserer Welt.

Daran haben nicht zuletzt eher mediokre Gestalten wie Martin Schulz ihren gehörigen Anteil. Sie betrachten es im Chor der übrigen Meinungsführer schon als Optimum, wenn wir die Errungenschaften unseres Kontinentes mit Hilfe eines lähmenden Energiesparmodus halbwegs erhalten könnten. Dass damit Menschen – egal ob sie sich als Teil der Elite oder als Krisenverlierer verstehen – zu zukunftsweisendem Engagement begeistert werden, ist freilich nicht zu erwarten.

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