01.11.1999

Europäische Parlamente im traurigen Abstieg

Analyse von Ralf Dahrendorf

Das Parlament soll durch Debatten Gesetze erlassen, die Regierung kontrollieren und ein Bindeglied zwischen Mächtigen und Bürgern sein. Doch wird die gesetzgebende Versammlung diesen Aufgaben immer weniger gerecht. Von Ralf Dahrendorf

Nur die repräsentative, die parlamentarische Demokratie hat den offenbar tief verwurzelten Hang menschlicher Gemeinwesen zum Autoritären je gebändigt. Nur sie: Das heißt nicht, dass sie es immer und überall geleistet hat. Es reicht nicht, Wahlen, Parteien und Parlamente zu etablieren und zu sagen: “Nun demokratisiert mal schön!” Die Geschichte der angelsächsischen Welt und einiger kleiner europäischer Länder hat eigene, unübertragbare Züge. In Frankreich wie in Deutschland haben demokratische und autoritäre Tendenzen ständig miteinander gerungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg haben Parlamente vielerorts jene Wurzeln geschlagen, die sie in den Augen der Menschen zur Alternative für autoritäre Formen der Regierung machte.
Der erste Deutsche Bundestag, der am 1. September 1949 zusammentrat (damals wählte man im August, denn das Wählen war wichtiger als die Ferien), hat dazu einen Beitrag geleistet. In ihm konnte man die politischen Spannungen knistern hören. Drei große Weichenstellungen folgten mit knappen Mehrheiten aus seinen leidenschaftlichen Debatten: die Westorientierung (der Schuman-Plan), die Marktwirtschaft (Erhards erste Maßnahmen und Gesetze), der Sozialstaat (Rentengesetzgebung, Mitbestimmung). Hinter diesen Weichenstellungen steckte die schon im Wirtschaftsrat vorbereitete Entscheidung, nicht eine Große Koalition, also die autoritäre Regierung im Gewande der Demokratie, zu schaffen, sondern in offener Debatte zwischen Regierung und Opposition im Parlament Entscheidungen zu suchen.

Die autoritäre Mischung

Wenigstens einmal sollte es später eine vergleichbare Situation geben, nämlich im Machtwechsel-Parlament von 1969. Da ging es um Ostpolitik, um die Ergänzung Erhards durch Schiller (Stabilitätsgesetz) und um “Mehr Demokratie wagen”. Es ging auch – nicht wie später als Verfahrenstrick, wenngleich mit allerlei Tücken – um die Bestätigung oder Ablösung der Regierung in einem konstruktiven Misstrauensvotum. Seitdem ist es auch in Deutschland mit dem Parlament bergab gegangen.
Das ist kein besonders deutsches Phänomen; es gibt Belege dafür in aller Welt. Die drei großen Aufgaben von Parlamenten sind überall unter Druck geraten, und wir erleben die Wiederkehr der autoritären Mischung von unkontrollierten Entscheidungen und einem desinteressierten Publikum. Die drei Aufgaben sind: Gesetzgebung durch parlamentarische Debatte, Regierung unter parlamentarischer Kontrolle, Parlamente als Bindeglied zwischen Mächtigen und Bürgern. Was ist geschehen?
Gesetzgebung durch parlamentarische Debatte ist – war? – eine der großen Errungenschaften zivilisierten Zusammenlebens. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Diskursethik, schon gar nicht mit der Dauerdiskussion à la 1968. Entscheidend ist, dass die Bürger Repräsentanten wählen, die ein Mandat zur stellvertretenden Diskussion haben. Sie sind nicht Delegierte mit einer inhaltlichen Bindung, sondern prinzipiell durch ihre Wahl auf Zeit zur Debatte und Entscheidung Befugte. Auf Zeit heißt auf begrenzte Zeit, aber auch: für diese ganze Zeit. Mehrheiten sind auch dann noch Mehrheiten, wenn die Stimmung sich ändert, etwa mitten in einer Wahlperiode. (Hier liegt das große Problem der zu Bundestags-Testwahlen denaturierten Landtagswahlen.) Debatte und Abstimmung im Parlament sind Kern des Entscheidungsprozesses.

“Die fast tägliche Kontrolle der Gewählten durch Umfragen und Medien verlockt sie, den entscheidenden Wert der gründlichen Debatte zugunsten der momentanen Popularität zu opfern”

Das indes ist heute reine Theorie. Vieles ist geschehen, um Parlamenten ihre Rechte zu beschneiden. Der Fraktionszwang mag dazu gehören, wird jedoch überschätzt. Die Veränderung der Qualität von Entscheidungen ist schon wichtiger. Oft reicht der gesunde Menschenverstand nicht mehr zur wirksamen Debatte; Experten sind gefragt. Das können parlamentarische Experten sein wie die Sozialpolitiker oder die Bildungspolitiker, denen dann das Feld überlassen bleibt. Häufiger indes sind die Experten Beamte. In allen kontinentalen Ländern sind Exekutive und Legislative durch beamtete Experten verquickt und entparlamentarisiert.
Experten entziehen gewählten Repräsentanten die Entscheidung. Kurzatmigkeit, die andere durchgängige Tendenz, verringert die Relevanz von Debatten. Die fast tägliche Kontrolle der Gewählten durch Umfragen und Medien verlockt sie, den entscheidenden Wert der gründlichen Debatte zugunsten der momentanen Popularität zu opfern. Das wird dann dramatisch, wenn es Institution wird, wenn also Volksentscheide an die Stelle parlamentarischer Debatten treten. Sie mögen in der Schweiz in manchen Fragen – übrigens nicht in den großen Fragen der Außen- und Verfassungspolitik – einigermaßen funktionieren; im Kern aber ersetzen sie die parlamentarische Diskussion durch das Stimmungsbild, die Momentaufnahme. Tony Blairs Liebe für Volksabstimmungen und für so genannte Fokusgruppen, die die Meinungsforscher zusammenstellen, zeigen die bewusste Abneigung gegen parlamentarische Diskussion.

Anmaßung der Macht

Säkulare Entwicklungen kommen hinzu; sie betreffen auch die zweite Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle von Regierungen. Hier ist vor allem die Auswanderung von Entscheidungen aus dem politischen Raum der parlamentarischen Demokratie wichtig. Dieser Raum ist klassisch der Nationalstaat, im günstigen Fall der heterogene Nationalstaat. Die Behauptung mag gewagt sein, aber auch bei näherer Betrachtung drängt der Schluss sich auf, dass die parlamentarische Demokratie für den Nationalstaat, und nur für ihn, gemacht ist. Auf lokaler Ebene liegen andere Formen, auch solche der Allparteienkoalition, nahe. Das Parlamentsspiel der Bundesländer ist für Beteiligte und Betrachter gleichermaßen misslich. Und jenseits der Grenzen der Nationalstaaten fehlt parlamentarischen Einrichtungen schlicht der Demos, der sie trägt. Es gibt kein europäisches Parlament, das den Namen verdient.
Zugleich sind nationale Regierungen immer häufiger in der Lage, sich hinter von ihren Parlamenten nicht kontrollierbaren entfernten Instanzen verstecken zu können oder zu müssen. Die europäischen Institutionen, die Zentralbank, der Agrarrat, der Gerichtshof, sind noch einigermaßen greifbar – aber wen kann man zur Verantwortung ziehen für die Entscheidungen des NATO-Rates über Krieg und Frieden oder für die der Weltbank und des Währungsfonds über Transfers nach Russland, geschweige denn für private Entscheidungen, Finanztransaktionen etwa, mit erheblichen öffentlichen Auswirkungen.

“Der Nationalstaat bleibt wichtig, aber seine Parlamente können die Kontrolle globaler Prozesse nicht leisten”

Für den, der die liberale Ordnung liebt, ist der Gedanke abwegig, solche Entscheidungen zurückzuzerren in die Räume, für die wir Institutionen haben. Der Nationalstaat bleibt wichtig, aber seine Parlamente können die Kontrolle globaler Prozesse nicht leisten. Hier stellen sich neue Fragen, auf die es wahrscheinlich auch Antworten gibt. In der Europäischen Union etwa ist der Rechnungshof wichtiger als das Parlament. Aber das ist es eben: nicht mehr Parlamente. Wer Kants Traum von der allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht träumt, muss Abschied nehmen von der parlamentarischen Demokratie.
In Großbritannien wird die schwindende parlamentarische Kontrolle von Entscheidungen besonders schmerzhaft empfunden. Da liegt einer der Gründe für die Abneigung vieler gegen Europa. Doch ist die Auswanderung von Entscheidungen nicht das einzige Problem. Als Mitglied eines Ausschusses, der alle Gesetzentwürfe auf Versuche der Regierung prüft, “sekundäre Gesetzgebung” (Erlasse, Ausführungsbestimmungen und Ähnliches) parlamentarischer Kontrolle zu entziehen, kann ich ein Lied von jenem Prozess singen, den ich gelegentlich als schleichenden Autoritarismus bezeichnet habe. Der zunehmenden, oft kaschierten Anmaßung der Macht entspricht die Apathie der Wähler, und zwischen beiden wird das Parlament zerrieben.
Wenigstens dies leistet in Großbritannien das Parlament – das Unterhaus, um genau zu sein – noch heute, nämlich die dritte Funktion der Beziehung zwischen Mächtigen und Wählern wahrzunehmen. Abgeordnete können ihre Wahlkreise nur unter Gefährdung ihres Parlamentssitzes vernachlässigen. Sie sind dort Mädchen für alles, Informationsquelle, Ombudsleute, Türöffner für Behörden, Ratgeber und Briefträger. Das Experiment der Europawahlen mit geschlossenen Parteilisten hat bei nahezu allen helles Entsetzen hinterlassen. Anders gesagt, das Mehrheitswahlrecht hält wenigstens ein Element des klassischen Parlamentarismus am Leben, nämlich das der Repräsentanz mit ihrer doppelten Verantwortung gegenüber den Regierenden und den Bürgern.
Nun ist das alles keine sehr aufmunternde Wegweisung für den Bundestag, der im September seine Arbeit unter der Foster-Glaskuppel des Berliner Reichstagsgebäudes aufnahm. Indes werden die Abgeordneten sich durch die Kommentare eines Außenstehenden nicht entmutigen lassen. Das ist auch gut so; das Glas ist auch halb voll, und die parlamentarische Demokratie bleibt die erträglichste aller misslichen Formen der Machtausübung. Doch könnte sie besser sein. Wenn Wehklagen über ihre erworbenen Schwächen zur Korrektur führt, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

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