21.09.2013

Europa kann’s besser!

Kommentar von Kai Rogusch

Europa muss endlich seine wachstumsskeptische Haltung überwinden und zudem das demokratiefeindliche Korsett des EU-Apparats abstreifen. Über die Ursachen der Krise Europas.

Der Zustand Europas bleibt fragil. Zwar haben nicht zuletzt die verfassungsgerichtlich durchgewunkenen Rettungspakete und vor allem die Ankündigung Mario Draghis, er werde „alles tun“, um den Euro zu erhalten, erkennbar für Ruhe gesorgt. Zugleich ist Europa aber mit einer chronischen Stagnation – oder gar Schrumpfung – seiner Ökonomie konfrontiert: Vor allem die Krisenländer können sich nicht aus einer Rezession befreien, die mittlerweile schon Jahre andauert. Erschwert wird die Situation, weil die Maßnahmen zur „Stabilisierung“ der „Eurozone“ keinen breiten Rückhalt in der europäischen Bevölkerung finden.

Einerseits lösen die Maßnahmen zur Bewältigung der Krise heftige Proteste in den Krisenländern aus: Dort sieht man sich rigiden „Austeritätsdiktaten“ ausgesetzt. Doch auch in den mächtigen Kernländern ruft die Rettungspolitik bestenfalls einen fatalistischen Unwillen hervor. Beispielsweise kursiert seit einiger Zeit der Gedanke in der Wirtschaftspresse, die Staatsschulden durch eine in Kauf genommene Inflation „verschwinden“ zu lassen. Schon der hierfür vorgesehene Fachbegriff Financial Repression weckt den Argwohn der Bürger. Man zieht in Erwägung, die institutionellen Anleger gesetzlich zum Kauf niedrig verzinster Staatsanleihen zu zwingen und gleichzeitig die Geldpolitik zu lockern. Auch die angekündigten Interventionen der EZB im Markt für europäische Staatsanleihen lösen Ängste vor dem Verlust der Vermögenssubstanz aus. Nicht weniger gilt das für die schrittweise Vergemeinschaftung der Schuldenrisiken durch die berühmten „Target-2-Kredite“, den ESM und die geplante „Bankenunion“. Zusammen mit der angedachten Inanspruchnahme vermögensstärkerer Schichten deutet das alles auf eine schleichende Entwertung des Eigentums hin.

Die Euro-Rettungspolitik beruht auf einer brüchigen Legitimationsbasis und einem schwindenden ökonomischen Fundament. Deshalb betonen die europäischen Eliten neuerdings immer wieder das Erfordernis der „Demokratisierung“ der EU und mahnen „mehr Wachstum“ an, um Vertrauen bei der Bevölkerung zurückzugewinnen. Jedenfalls wächst bei den Bürgern der Eindruck, nicht in einer gemeinsamen „Union“ zu leben. Sie betrachten sich vielmehr als Insassen einer abschreckenden „Eurozone“. Sie sehen sich gigantischen Umverteilungsmechanismen und strikten Überwachungsmaßnahmen ausgeliefert. Sie fühlen sich einer schicksalhaften Bürokratie ausgesetzt, die in den voneinander getrennten Welten der Europäischen Union eine gesichtslose Herrschaft vollstreckt. Vor allem aber ahnen sie, dass der Kontinent von seiner ökonomischen Substanz lebt und deshalb keine Vorstellung einer besseren Zukunft für alle Europäer kultivieren kann. Wie schaffen wir nun ein dynamisches und demokratisches „Euroland“?

Lebenslügen des europäischen Einigungsprozesses

Bei der Beantwortung dieser Frage wäre es hilfreich, die Lebenslügen des europäischen Einigungsprozesses schonungslos offenzulegen. Denn immerhin sollte uns die gegenwärtige Ausweglosigkeit der Situation dazu bewegen, die Widersprüche der Politik der letzten Jahrzehnte einzugestehen. Erste Ansätze dafür lassen sich in den Verlautbarungen prominenter Politiker und Intellektueller erkennen. So redet beispielsweise Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble einer europäischen Volksabstimmung das Wort. Zumindest indirekt deutet er damit an, dass der bisherige europäische Einigungsprozess darauf ausgerichtet war, die Bürger Europas von den politischen Entscheidungsprozessen fernzuhalten. Die „Einheit“ Europas kam primär durch elitäre Verhandlungen hinter verschlossenen Türen zustande. Dem „europäischen Bürger“ wurde dabei jeder neue Integrationsschritt als vollendete Tatsache präsentiert.

Die systematische Negation der Volkssouveränität – also des Gedankens, dass die Demokratie aus der konstituierenden Gewalt der Gesamtheit aller Bürger erwächst – war von Anfang an Programm des europäischen Integrationsprozesses. Dieser entsprang der Vorstellung, dass Völker im klassischen nationalstaatlichen Sinn ohne die Einbindung in ein dichtes Netzwerk internationaler Normen „gefährlich“ sind. Ohne eine übernationale Aufsicht, so die Idee, fallen die „Völker“ immer wieder von Neuem in den Kriegszustand zurück. Ohne die Korrektur durch ausgebildete Experten, so ein weiterer Glaubenssatz der Eurokraten, begehe das Kollektiv der Normalbürger fatale Fehler. Dass aber durch die Unterbindung eines europäischen Volkssouveräns das bürgerschaftliche Fundament der europäischen Gesellschaften ausgehöhlt wurde, erweist sich nun als Bumerang. Die Bewältigung der Eurokrise erfordert nämlich ein gehöriges Maß an Solidarität unter den Europäern. Doch werden gerade diese Anforderungen an Solidarität, die wir heute bei der Bewältigung des ökonomischen Auseinanderdriftens Europas benötigen, mit der Tatsache konfrontiert, dass sich ein europäisches Gemeinwesen kaum entwickelt hat.

Denn die Verhinderung eines kollektiven europäischen „Wir“ war geradezu Programm des Einigungsprozesses. Zwar brüstet sich die Europäische Union immer wieder damit, durch Austauschprogramme, den Binnenmarkt und weitere „Harmonisierungen“ so etwas wie eine „europäische Öffentlichkeit“ zu schaffen. Doch wie noch gezeigt wird, beruht die Art, wie die Europäische Union ihre eigenen Regeln erzeugt, ihr Politikmodus also, auf einer Vorstellung, die prinzipiell die Letztverantwortlichkeit eines europäischen Souveräns ablehnt. Das Europaprojekt läuft darauf hinaus, politische Gesamtverantwortlichkeit aufzulösen. Der „Souverän“, also die höchste Entscheidungsinstanz, wird aufgespalten und auf verschiedene Ebenen verlagert. Einerseits wurde die Verbindlichkeit von Wahlen auf der Ebene der Nationalstaaten untergraben, weil die nationalen Parlamente immer mehr zu Vollstreckungsorganen europäischer Richtlinien verkamen. Auf der anderen Seite wurde auf der europäischen Ebene kein neuer Souverän geschaffen. Denn auf EU-Ebene gibt es kein wirklich entscheidungsbefugtes Europäisches Parlament, das man mit einem nationalen Parlament vergleichen könnte. So fehlt ein Medium, das eine genuine Selbstverständigung der europäischen Bürger vermittelt. Damit kann sich ein solidarisches Gemeinwesen nicht herausbilden.

Bankrott der Nachhaltigkeit

Genauso schwer wiegt jedoch ein weiterer Umstand: Unter dem wachsenden Einfluss der Doktrin der „Nachhaltigkeit“ wurden in den letzten Jahrzehnten die Erwartungen an die Politik schrittweise herabgesenkt. Heute jedoch bietet uns die ökonomische Stagnation Europas die Gelegenheit, den Bankrott der fundamentalen Wachstumsskepsis festzustellen, die sich in der kulturellen Befindlichkeit des Kontinentes eingenistet hat. Seit Anfang der 1970er Jahre, als die einsetzende „Ölkrise“ die Vorstellung zu bestätigen schien, dass die Autonomie des Menschen letztlich durch „begrenzte“ Naturressourcen unverrückbar eingeschränkt ist, breitet sich immer mehr die Vorstellung aus, die den Menschen vor allem als eine Art Störfaktor auffasst, der die begrenzten Natursubstanzen aufbraucht. Das hat zur Folge, dass dem Menschen unterm Strich keine positive, werterzeugende Funktion mehr zugeschrieben wird.

Die Ausweglosigkeit dieses pessimistischen Menschenbildes zeigt sich heute jedoch deutlich am Beispiel der unlösbar erscheinenden Schuldenkrise in Europa. Natürlich fühlen sich Wachstumskritiker in ihrer Weltanschauung zunächst einmal bestätigt, wenn sie darauf verweisen, dass derzeit die Überschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte eine Abkehr vom so genannten „Pumpkapitalismus“ nahelegt. Sie deuten zu Recht auf die Faulheit eines „kreditgestützten“ und keineswegs „nachhaltigen“ Scheinwachstums. So findet heute eine Politik ein Ende, die mittels der Vergabe von Krediten den Anschein von wirtschaftlicher Dynamik und Vermögenssteigerung erzeugt hat. Wiederholt wurde schon auf die Fadenscheinigkeit der bisherigen Rettungsmaßnahmen hingewiesen, primär die negativen Folgen der Kreditexpansion mit einer forcierten Kreditpolitik zu bekämpfen – allein mit dem Ziel, „Zeit zu kaufen“.

Durch die Rettungsschirme, die EFSF, ESM und Europäische Zentralbank bereitstellen, wird letztlich die noch einwandfreie Bonität derjenigen Wirtschaftssubjekte angezapft, die an den Kapitalmärkten nach wie vor Vertrauen genießen. Auf der anderen Seite aber erschöpfen sich alle Maßnahmen in einer demoralisierenden „Austeritätspolitik“ für die von der Krise ohnehin besonders gebeutelten EU-Peripheriestaaten. Dies schadet, so die Kritik, letztlich auch den bislang mit einwandfreier Kreditwürdigkeit ausgestatteten „Geberländern“. Denn wenn der Schuldenstand der Krisenstaaten – bei gleichzeitiger Schrumpfung ihrer Volkswirtschaften – durch die Bereitstellung etwa von ESM-Krediten erhöht wird, dann wird nicht nur die künftige Rückzahlung der Schulden noch unwahrscheinlicher, sondern es schadet überdies auch deshalb den Geberländern, weil ihre Exportwirtschaft unter dem Kollaps der Krisenländer leidet.

Wenn aber heute ausgerechnet wachstumskritische Politiker wie etwa der Co-Parteivorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, auf einmal Kanzlerin Angela Merkel ermahnen, für mehr „Wachstum“ in den Krisenstaaten zu sorgen, sollte uns das aufhorchen lassen. Denn gerade grüne Intellektuelle und Politiker haben maßgeblich die heutige Kultur der Wachstumsskepsis mitgeprägt. Vor allem grüne Denker haben eine Weltanschauung kultiviert, in der kein Platz für die Idee ist, dass menschliche Schaffenskraft den Wohlstand steigert – und dass dies eine gute Sache ist. Doch jetzt wird die europäische Krisenpolitik mit harten ökonomischen Tatsachen konfrontiert: Ab dem Moment, wo man sich mit einem stagnierenden oder gar sinkenden Wohlstandsniveau abfindet, kann sich das Verhältnis zwischen der jährlich erzeugten Wirtschaftsleistung zum angehäuften Schuldenberg nur weiter verschlechtern. Weil vor allem die europäischen Krisenstaaten mit dieser niederschmetternden Realität konfrontiert sind, ertönt gerade dort der Ruf nach mehr Wachstum.

Die historischen Hinterlassenschaften des Defätismus

Ohne die Perspektive einer demokratisch fundierten „Volkssouveränität“ zu entwickeln, haben die europäischen Eliten eine lähmende Kultur der „Nachhaltigkeit“ etabliert, die der Regeneration Europas im Wege steht. Das stellt uns vor die folgenden Fragen: Ertönt der plötzliche Rekurs auf „mehr Wachstum“ nur deshalb, weil man sich in den Krisenstaaten den gegenwärtigen Erfordernissen einer harten Restrukturierung der Volkswirtschaft entziehen will? Wollen Oppositionspolitiker hierzulande mit ihrer Forderung nach „Wachstum“ bloß im politischen Meinungskampf punkten? Oder reift tatsächlich die Einsicht, dass wir angesichts der Krise Europas neue Wege einschlagen sollten? Deutet gar der neuerdings in „europafreundlichen“ Kreisen geäußerte Wunsch, ein demokratisches „Euroland“ zu entwickeln, auf einen konzeptionellen Rekurs auf einen europäischen „Souverän“? Gibt es also Ansätze, den Defätismus, der sich wie Mehltau über Europa legt, zu durchbrechen?

In der Krise Europas reflektiert sich jedenfalls das Ergebnis eines epochalen Kulturwandels. Durch diesen betrachten wir uns nicht mehr als historische Subjekte: Wir glauben immer weniger daran, im kollektiven Agieren eine Verbesserung unserer natürlichen und sozialen Umwelt herbeiführen zu können. Wir zweifeln daran, auf politischer und wirtschaftlicher Grundlage eine innovative Wertschöpfung bewirken zu können, die uns nachfolgenden Generationen eine reichere Welt hinterlässt. Deshalb geht es heute auf einer grundlegenden Ebene darum, die aufklärerische Vorstellung des Menschen als autonomem Subjekt seiner Geschichte wiederzubeleben. Heute steht Europa vor dem anspruchsvollen Unterfangen, unterschiedlichste Interessen der Bürger innerhalb Europas repräsentativ und produktiv bei der Wiederbelebung des Kontinentes zu nutzen. Das aber erfordert einen visionären Souveränitätsbegriff, der Menschen von unterschiedlicher Mentalität, Sprache und Leistungsfähigkeit zur Bildung eines politischen Gemeinwesens anregt. Erst dann bekäme auch die Idee einer europäischen Volksvertretung, die verschiedene Interessen innerhalb einer europäischen Wählerschaft repräsentiert, konkretere Konturen.

Jedenfalls sollten wir uns heute entschieden von unserer historischen Pfadabhängigkeit lösen. Wir sollten uns der geschichtlichen Bedingtheit des Defätismus, der sich vor allem in der Kultur des europäischen Festlandes eingenistet hat, bewusst werden. Die katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ändern nämlich nichts daran, dass die Menschheit innerhalb der letzten 300 Jahre immense Fortschritte errungen hat. Letztlich hat das Denken der Aufklärung zu einer phänomenalen Erweiterung der technischen und politischen Möglichkeiten zahlloser Menschen geführt. Wissenschaftliche Rationalität, die sich innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens zunehmend demokratischer Gemeinwesen am ehesten verwirklichen kann, hat das Leben eines großen Teils der Menschheit dauerhaft verbessert.

Das wird vor allem in Deutschland gerne vergessen. Das Land, das Europas Kernmacht war und ist, wurde im 20, Jahrhundert mit mehreren niederschmetternden Niederlagen konfrontiert. Besonders in der Nachkriegsbundesrepublik bildete sich ein entwurzelter und auf rigide Normen bezogener „Verfassungspatriotismus“ heraus. Gerade hier wurde das lähmende Dogma der Nachhaltigkeit immer präsenter. Und besonders in Deutschland wurde der europäische Integrationsprozess samt seiner Relativierung der Volkssouveränität zu einer auch verfassungsrechtlich verbrieften Staatsräson. Dieses „nachhaltige“ und postsouveräne Selbstverständnis wird heute ironischerweise in Form von strengen Fiskalpakten, Sparprogrammen und gar Technokratenregierungen auf die übrigen Euroländer übertragen – und teils als deutscher Imperialismus empfunden.

Jedenfalls war Deutschland von Anfang an ein Modell für einen Politikmodus, der sich dezidiert vom Gedanken der Volkssouveränität abwandte. Unverrückbare Institutionen, die Deutschland aufgrund des Faschismus übertragen bekam, erhielten die Aufgabe, „völkische“ Leidenschaften einzuhegen. Da zudem der kommunistische Ostblock, nicht zuletzt in Form der DDR, die Herausforderung eines radikalen Systemwechsels repräsentierte, war vor allem die westdeutsche Elite empfänglich für eine Verankerung von übernationalen Verpflichtungen, die besonders in Form der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) das westliche Modell der politischen Ökonomie dauerhaft sichern sollten. Gerade vor dem Hintergrund der „Weimarer Erfahrungen“ war man in der Bundesrepublik überdies bestrebt, Arbeiterschaft und Wirtschaft in formalisierte Strukturen einzubinden, um Konflikte möglichst früh zu entschärfen.

Als spätestens in den siebziger Jahren die westlichen Gesellschaften mit dem Problem einer schwindenden ökonomischen Dynamik konfrontiert wurden, war die in dieser Zeit eintretende Ölkrise ein willkommener Anlass, die Vorstellung von den besagten „natürlichen Grenzen“ des Wachstums zu popularisieren. Beides indes erklärt noch nicht vollständig, warum ab dieser Zeit die optimistische Idee menschengemachten Fortschritts immer mehr auf dem Rückzug war. Entscheidend für den aufkommenden Pessimismus waren vielmehr zwei Aspekte: Einerseits zerstörte die Niederschlagung des Prager Frühlings gegen Ende der sechziger Jahre die Hoffnung auf einen Kommunismus mit „menschlichem Antlitz“. Damit hatte sich die Sowjetunion schon in dieser Zeit erledigt – sie konnte sich von nun an nicht mehr als alternatives Menschheitsprojekt einer besseren Welt darstellen.

Doch auch der „kapitalistische“ Westen präsentierte sich zu dieser Zeit in einer demoralisierten Form. Da wären zum einen die Verwerfungen des Vietnamkrieges und der Zynismus der Nixon-Ära, die zu einem eher düsteren Menschenbild beitrugen. Dass sich die USA angesichts einer forcierten Verschuldungspolitik 1971 vom Goldstandard lösten (und auf diese Weise das bis dato stabile Währungsgefüge von Bretton Woods erschütterten), war ebenso ein ominöses Menetekel. Doch auch in Deutschland wurde der Ausblick trostloser. Das lag zum einen an Erfahrungen wie jenen des „Deutschen Herbstes“. Überdies erschien die Möglichkeit einer positiven Gestaltung der Welt auch deshalb zunehmend unglaubwürdig, weil in dieser Zeit keynesianische Konzepte der Wirtschaftssteuerung an ihre Grenze stießen. So fand man sich immer mehr mit einer scheinbar unverrückbaren Begrenztheit menschlicher Handlungsmöglichkeiten ab. Das trieb die Eliten zu einem Politikmodus, der die „Anpassung“ an bestehende Rahmenbedingungen nahelegte. So stieg der Bedarf nach politischen Institutionen, die unabhängig von dem ohnehin schwindenden populären Rückhalt agieren konnten.

Nachdem seit den neunziger Jahren die kommunistische Systemalternative endgültig weggefallen war, dehnte sich die durch den Vertrag von Maastricht (1992) gegründete Europäische Union immer weiter aus. Durch den europäischen Binnenmarkt, die Einführung einer einheitlichen Währung und die Abschaffung der Grenzen innerhalb Europas ermöglichte man zwar einerseits immense Freiheitsgewinne, auf die im Zuge von Globalisierung und Kommunikationsrevolution die wenigsten Leute verzichten wollen. Doch dieser europäische Raum entstand ohne Mitwirkung der Bürger. Zudem entwickelte sich der Kontinent auch aufgrund der stetig sinkenden Erwartungshaltung an die Politik nie zu einem politisch gedachten Gemeinwesen. So finden sich die Bürger heute in einer kontinentalen Nicht-Gemeinschaft wieder. Im Zuge der Eurokrise schlägt die Entfremdung der Bürger mit voller Wucht auf die EU zurück.

Europäischer Bürgerkonvent als Lösung?

Heute stehen wir vor der Aufgabe, den Defätismus, der sowohl die demokratische Souveränität als auch die Aussicht auf eine bessere Zukunft unterbindet, direkt zu konfrontieren. Weil sich in der jetzigen Krise der bisherige Politikmodus erkennbar als Sackgasse erweist, eröffnet dies die Möglichkeit, ehrlichere Diskussionen zu führen und neue Wege einzuschlagen, um die Rolle des Menschen als historisches Subjekt neu zu beleben. Ein guter Anfang läge jedenfalls darin, eine Demokratisierung Europas dadurch herbeizuführen, dass wir die durch die EU verkörperte Verantwortungsdiffusion radikal beseitigen. Gerade weil auf einer wachsenden Zahl von Politikfeldern kein letztverantwortliches Zentrum mehr erkennbar ist, wird die Formulierung einer verständlichen Politik, die einem europäischen Wahlvolk Rechenschaft schuldet, systematisch unterbunden.

Die nationalen Souveränitätsrechte schmelzen im Zuge der Bekämpfung der Eurokrise nämlich gerade nicht zu einem zentralen europäischen Souverän zusammen. Einerseits belässt man wichtige Politikfelder wie Soziales, Haushalt oder Arbeitsmarkt auf nationaler Ebene. Gleichzeitig entzieht man jedoch der nationalen Ebene ihre Letztverantwortung, indem man einen sich über die Nationalstaaten wölbenden EU-Überwachungs-Mechanismus etabliert. Weil die hoheitliche Funktion der EU-Gremien darin besteht, punktuelle Eingriffe in die Politik der einzelnen Nationalstaaten vorzunehmen, liefe eine Stärkung des Europäischen Parlamentes ins Leere. Denn bei den „Korrekturen“ von „unausgeglichenen“ Haushalten oder Leistungsbilanzen handelt es sich letztlich um nicht mehr als bloße verwaltungstechnische Aufgaben. Hier steht nicht die Richtigkeit einer auf europäischer Ebene schlüssig entwickelten Politik auf dem Spiel, sondern nur die Regelkonformität der Politik der einzelnen Nationalstaaten.

Eine europäische Demokratie würde es erfordern, dass wir eine zentrale Letztverantwortlichkeit auf europäischer Ebene etablieren. Das stellt uns jedoch vor ein fundamentales Problem, weil die dafür nötige Übertragung nationaler Souveränitätsrechte in der europäischen Bevölkerung auf breiten Unwillen stößt. Die institutionelle Verankerung einer repräsentativen, kohärenten und rechenschaftspflichtigen Politik auf europäischer Ebene würde unter den jetzigen Umständen nur unter Missachtung der eigentlichen Souveräne, nämlich der nationalstaatlichen Bürgerschaften, möglich sein. Ein europäisches Staatswesen, bei dem aus europäischen Wahlen eine „Europäische Regierung“ hervorgeht, die sich nach Abschluss der Legislaturperiode einem europäischen Wahlvolk in einem Wahlkampf stellt, wäre ohne die Zustimmung der nationalstaatlichen Souveräne auf Sand gebaut.

Um dieses Dilemma aufzulösen, wäre eine Volksabstimmung in Europa möglicherweise ein erster Schritt, durch den sich eine neue politische Dynamik entzünden ließe. Deshalb ist es begrüßenswert, dass der britische Premierminister David Cameron einen entsprechenden Vorstoß gewagt hat. Eine Volksabstimmung würde nämlich einerseits einen radikalen Bruch mit den dezidiert volksfernen Methoden der EU herbeiführen. Jedenfalls lässt sich im gegenwärtigen Stadium ohne Volksabstimmung eben kein europäisches Staatswesen gründen, das aus einer repräsentativen Legitimation heraus eine gesamteuropäische Politik gegenüber einem tatsächlich existenten „europäischen Souverän“ verantworten könnte. Eine Volksabstimmung über die Frage der zukünftigen Gestaltung des europäischen Einigungsprozesses würde auch deshalb Sinn machen, weil trotz der EU-Verdrossenheit vieler Bürger eine Rückkehr zum Nationalstaat unrealistisch erscheint – man bedenke die bestehenden Verflechtungen des Euroraumes.

Aus diesem Grund denken manche Streiter für „mehr Demokratie“ über einen von den Bürgern direkt gewählten Konvent nach: Wie beispielsweise Roman Huber, geschäftsführender Vorstand von Mehr Demokratie e.V., in einem Interview in diesem Kapitel darlegt, könnte dieser Konvent einen Entwurf für eine europäische Verfassung erarbeiten und ihn dann den Bürgern Europas verbindlich zur Abstimmung vorlegen. Das würde immerhin den europäischen Einigungsprozess zum ersten Mal in seiner bereits sechzigjährigen Geschichte gegenüber den Bürgern Europas öffnen. Ein demokratischer Konvent würde es den Bürgern zum ersten Mal ermöglichen, Vorstellungen eines gemeinsamen Europa zu diskutieren. Das würde vor allem deshalb Sinn ergeben, weil die „Systemfrage“, die unsere krisenhafte Zeit aufwirft, heute komplexe Sachfragen der Volks- und Finanzwirtschaft aus elitären Gefilden herausholt und diese ans Licht der Öffentlichkeit bringt.

Unabhängig von der Konventsfrage sollten wir im gemeinsamen Ringen um die Lösung der Eurokrise jedenfalls für einen Ansatz streiten, der den Entwicklungsstand der europäischen Länder und Regionen nüchtern ermittelt, um auf dieser Grundlage die jeweiligen Entwicklungspotenziale zu erahnen. Daraus könnte eine Strategie folgen, durch die man die Besonderheiten der europäischen Volkswirtschaften aufeinander abstimmt, um die Produktivität von „Euroland“ zu steigern. Wir sollten dabei der geringen Erwartungshaltung an die Gestaltungsmöglichkeiten demokratischer Politik trotzen und die Vorstellung des Menschen als eines Wesens wiederbeleben, das im kollektiven Agieren die Welt nach eigenen Vorstellungen und unabhängig von „natürlichen Grenzen“ gestalten kann.

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