11.06.2013

Eurokrise: Oberschlafwandler Deutschland

Von Kai Rogusch

Die politische Klasse unseres Landes unterbindet eine dringend nötige Wachstumsperspektive für die europäischen Krisenstaaten und die Bevölkerung akzeptiert deren undemokratischen Politikstil. Deutschland wird mehr und mehr zum europäischen Problemfall. Ein Kommentar von Kai Rogusch.

Das aktuelle Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sorgt bei den europäischen Eliten für wachsende Nervosität. Erklären Deutschlands oberste Richter wider Erwarten den unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen kriselnder Eurostaaten für nicht grundgesetzkonform, so wär‘s das mit „Super Mario“ Draghis Rettungsschirm in seiner bisherigen Form. Die Eurorettungspolitik müsste neu verhandelt werden und die Macher wären öffentlich diskreditiert.

Für Europa wäre das eine positive Nachricht. Nicht ohne Grundlage spricht EU-Kommissar Günther Oettinger von Europa als „Sanierungsfall“, moniert Altkanzler Helmut Schmidt zusammen mit seinem Weggefährten Valery Giscard d’Estaing die fehlende „Regierbarkeit“ der EU und warnt Ex-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann vor handfesten „Sicherheitsproblemen“ in Europa, die aus der ausweglosen Lage der europäischen Krisenstaaten resultieren könnten.

In den bisherigen Reaktionen auf solcherlei kritische Wortmeldungen – nämlich weitestgehend so zu tun, als sei alles wieder gut - zeigt sich eine entnervende Realitätsverweigerung unseres politischen Führungspersonals. Kein Wunder: Die Krise der EU ist vor allem in der desolaten geistigen Verfassung des politischen Lebens auf dem Kontinent begründet. Heute müssen anscheinend blasse Wirtschaftstechnokraten, entrückte Politgreise und abgewirtschaftete Bankmanager mit ihren Verlautbarungen die Debatte über den Zustand der Europäischen Union „beleben“, weil sich sonst niemand mehr traut. Dabei greifen auch die besorgten Stellungnahmen nur die Symptome auf, ohne sich dabei den fundamentalen Problemen des bisherigen europäischen Einigungswerkes zu stellen. Die liegen in der chronischen wirtschaftlichen Stagnation und der fehlenden Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens auf dem Kontinent. Vor allem Deutschland, die Kernmacht der EU, ist daran schuld: Die führenden politischen Klassen unseres Landes frönen einer selbstbezüglichen Wachstumsskepsis, die die dringend nötigen wirtschaftlichen Impulse für die seit Jahren in einer Rezession befindlichen europäischen Krisenstaaten hintertreibt. Erschwerend kommt hinzu, dass es auch seitens einer passiven Bevölkerung eine große Akzeptanz für einen undemokratischen Politikstil gibt, der für die Belebung einer europäischen Streitkultur nichts übrig hat.

„Deutschland sieht seine geistige Stagnation allen Ernstes als Grundlage für eine europäische Vorreiterrolle“

Das wirft ein schlechtes Licht auf Politik, Medien und Gesellschaft hierzulande. Aufgrund seiner Wirtschaftskraft und politischen Macht ist Deutschland von ausschlaggebender Bedeutung für die Lösung der Krise. Und die Lage ist nach wie vor sehr ernst. Wenn es nicht bald gelingt, den Menschen in den Krisenländern eine Entwicklungsperspektive zu bieten, erzeugt die Eurokrise noch größere Verwerfungen als ohnehin schon. Doch statt Initiativen für ein Comeback Europas zu entwickeln und zu diskutieren, lässt man sich heute lieber von medialen Hochwasserkatastrophen-Inszenierungen berieseln. Die Kanzlerin treibt mangels einer ernst zu nehmenden Opposition schweigend bis nichtssagend ihrem anscheinend unaufhaltsamen - weil zu fast allen Parteien offenen - Wahlsieg entgegen. Anstatt Perspektiven für eine neue wirtschaftliche Dynamik in Europa zu entwickeln, kultiviert man hierzulande provinzielle Selbstgefälligkeit. Unser Land scheint seine geistige Stagnation allen Ernstes als Modell für eine – selbstredend ökologisch begründete – Vorreiterrolle aufzufassen und möchte seine Kultur der auf Konsens zielenden Expertenkommissionen am liebsten nach ganz Europa exportieren.

„Deutschland nährt sich fast schon zynisch aus dem Zuzug bestens qualifizierter Arbeitsloser aus den europäischen Krisenstaaten.“

Es ist kein Wunder, dass sich Kanzlerin Merkel vor allem in den intergouvernementalen Treffen des Europäischen Rates pudelwohl fühlt. Die hier exerzierte, elitäre Konsenskultur drängt in allen Mitgliedsstaaten den traditionellen Widerstreit der Wählerinteressen zusehends an den Rand. Aber nicht nur Deutschlands politisches Führungspersonal findet das gleichgültige Verharren im augenblicklichen Modus des Dahintreibens ganz in Ordnung. Gerade die Mittelschicht gefällt sich in einem „entspannten Fatalismus“ - so eine bezeichnende Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach. Man nimmt die europäische Krisenpolitik, die nach und nach zu einem Machtzuwachs der europäischen Technokratenkaste führt, zwar mit Unwillen auf und glaubt auch nicht wirklich, dass die Krise ein gutes Ende finden werde. Doch ganz überwiegend wird Kanzlerin Angela Merkels bequemes und feiges Diktum der „Alternativlosigkeit“ hingenommen – zu groß scheint die Abneigung vor echten politischen Konflikten. Daran ändern auch Parteineugründungen wie die „Alternative für Deutschland“ nichts.

Die Nationalstaaten haben im Zuge des europäischen Einigungsprozesses viel von ihrer Souveränität eingebüßt. Als Ersatz sind auf EU-Ebene aber keine tragfähigen Institutionen zur Repräsentation eines gesamteuropäischen Demos entstanden. Die Eliten Europas haben es sich in einem amorphen Zwischenstadium bequem gemacht, in dem kein Verantwortungsträger seinem Wahlvolk mehr demokratische Rechenschaft zu Schulden scheint. Anstatt das gesamteuropäische Ausmaß der Krise zu erfassen und mit Führungs- und Gestaltungswillen voranzuschreiten, ziehen sich die Eliten mehr und mehr in eine bornierte, nationalistische Selbstbezogenheit zurück. Dass man hierzulande keinen Sinn für die Entwicklung eines europäischen Gemeinwesens zu haben scheint, offenbart sich auch in der Frage der grenzüberschreitenden Mobilität innerhalb der EU. Deutschland nährt sich fast schon zynisch aus dem Zuzug bestens qualifizierter Arbeitsloser aus den europäischen Krisenstaaten. Gleichzeitig setzt man alles daran, die nicht verwendbaren „Sozialfälle“ des Kontinentes wieder in die Peripherie abzuschieben. Wenn sich an dieser Geisteshaltung nichts ändert, ist Europa nicht nur die Abwicklung des Euro dringend anzuraten.

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