01.05.2006

Es rumort im Dickicht des Föderalismus

Analyse von Sabine Reul

Die jüngste Föderalismusreform hat das Instanzengewirr der deutschen Politik und Verwaltung nicht, wie von vielen Seiten erhofft, gelichtet, sondern eher verdichtet. Doch im Hintergrund arbeiten Expertengremien weiter an Konzepten für eine Generalüberholung unserer politischen Ordnung. Zeit, genauer hinzuschauen.

Der Föderalismus zählt eher zu den Themen, die Gähnkrämpfe auslösen. Das liegt wohl in der Natur der Sache, denn das Kompetenzgeflecht von Bund und Ländern, das die politischen Entscheidungsprozesse in Deutschland regelt, wirkt in der Tat einschläfernd. Hier zermahlt ein bürokratisches Räderwerk Gesetzesvorhaben so lange, bis keiner mehr genau zu sagen weiß, worum es ging – und erst recht nicht, wer da was gewollt und folglich auch zu verantworten hat. Das Ganze wirkt wie eine gewaltige Maschinerie zur Erzeugung eines Minimums an Zurechenbarkeit und eines Maximums an Verwirrung und Sinnentleerung im politischen Raum.


Bestes Beispiel ist die so genannte Föderalismusreform selbst. Die 2003 eingesetzte Föderalismuskommission unter Edmund Stoiber und Franz Müntefering hat im zweiten Anlauf unter der neuen Regierung dem Bundestag ein Ergebnis präsentiert, das prinzipiell fast alles beim Alten belässt und die Kompetenzen der Bundesregierung gegenüber den Ländern – und damit auch dem Bundesrat – sogar tendenziell schmälert.

Zwar bleibt das Umweltrecht beim Bund, doch sind nun mehr Kompetenzen für abweichende Regelungen der Länder vorgesehen, und die konnten gleichzeitig auch ihre eifersüchtig gehütete Bildungshoheit stärken. Da die aber wiederum, von der Finanzierung bis zur gegenseitigen Anerkennung der Bildungsabschlüsse, Probleme erzeugt, braucht man nun wieder Sondervereinbarungen. Da erwarten die Länder vom Bund, er möge „von seinen Kompetenzen für Hochschulzulassung und -abschlüsse und für das Dienstrecht der Beamten in Abstimmung mit den Ländern und unter Beachtung der Regelungsprärogative der Länder für das materielle Hochschulrecht“ Gebrauch machen und Bundesmittel für die „neue Gemeinschaftsaufgabe ‚Forschungsbauten an den Hochschulen‘“ und andere „übergreifende Projekte“ locker machen. Und um das alles wiederum zu regeln, besteht natürlich Bedarf an einer neuen „Steuerungsgruppe“ mitsamt wissenschaftlichem Beirat.

Es ist scheinbar dasselbe alte Lied: Die Länderkompetenzen unterlaufen einerseits die vernünftige Gestaltung der Bundespolitik, übersteigen aber auch die Finanzkraft der Länder. Die Folge sind noch mehr Kommissionen und Beiräte, noch weniger zurechenbare Entscheidungsprozesse, noch komplexere Finanztransfers und bald sicher noch mehr rechtlicher Klärungs- und Regelungsbedarf.

In Deutschland haben die Bundesländer über die Institution Bundesrat mehr Einfluss auf die Entscheidungen der Bundespolitik als die Gliedstaaten in irgendeinem anderen der 25 föderal verfassten Länder der Erde. In den USA zum Beispiel wird der Senat als Kammer der Bundesstaaten nicht nur in freien Wahlen gewählt; sein Einfluss auf die Bundesgesetzgebung ist erheblich geringer und die Trennung der Kompetenzen von Bund und Staaten deutlich schärfer als hierzulande, wo inzwischen generell 60 Prozent aller Bundesgesetze der Zustimmung durch das von niemandem gewählte, ministeriell bestellte „ewige“ Organ Bundesrat und der um ihn herum gruppierten Ausschüsse und Beratungsgremien bedürfen. [1] Schon in den 70er-Jahren brachte der Politologe Fritz W. Scharpf den bürokratischen Charakter der deutschen politischen Ordnung daher mit dem Begriff „Politikverflechtung“ auf den Punkt. [2]

Nur kurz machten später im Kontext der Wiedervereinigung Forderungen nach einer radikalen Reform – inklusive Zusammenlegung von Bundesländern – die Runde. Doch es geschah nichts. Im Gegenteil: Rückblickend sieht es so aus, als hätten sich seit 1990 mit dem raschen Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik ohne Nutzung der in Artikel 146 GG verbürgten Möglichkeit der Abstimmung des ganzen Volks über eine neue Verfassung die Beharrungskräfte provinzieller Landesherrlichkeit nur noch verstärkt. Alle Landesregierungen hängen am Tropf des Bundes und wollen trotzdem mehr Macht.

Doch der Anschein, es gehe nur alles im gewohnten Trott weiter, ist trotzdem trügerisch. Sicher: Die aktuelle Föderalismusreform ist Stückwerk. Doch im Untergrund wirken starke, wenn auch widersprüchliche gesellschaftliche und kulturelle Kräfte in Richtung einer Revision der aktuellen föderalen Ordnung Deutschlands. Und die haben sich schon in dieser Reform, obgleich nur schemenhaft, niedergeschlagen. Denn anders als alle vorherigen Änderungen der föderalen Verfassung, die insbesondere bis Ende der 70er-Jahre stets „unitaristisch“, das heißt auf die Stärkung der Einheit des Gesamtstaats ausgerichtet waren, beinhaltet die aktuelle Reform eine Stärkung der Länder.

Zwar beklagen alle Befürworter einer weit reichenden Reform der föderalen Ordnung die Zaghaftigkeit des aktuellen Reförmchens, doch im Grundsatz ist sie ihren Bestrebungen stark entgegengekommen. Denn die geistigen und politischen Kräfte, die zurzeit den Föderalismusdiskurs prägen, laufen in der Tat auf eine Schwächung des Nationalstaats gegenüber den „Regionen“ auf der einen und übergeordneten supranationalen Institutionen wie der EU auf der anderen Seite hinaus. Diesen Trend an bestimmten Akteuren oder gar bewussten Absichten festzumachen, wäre irreführend. Hier geht es um geistige und kulturelle Haltungen, die sich quer durch die politische und gesellschaftliche Landschaft in den letzten Jahren ausgeprägt haben, als da sind: Angst vor der Globalisierung, Skepsis gegenüber der Handlungsfähigkeit des Staats, Politikmüdigkeit und Sorge um die Integration eines als zunehmend labil empfundenen Gemeinwesens.

In Wirtschaftskreisen wie unter namhaften Juristen und Politikwissenschaftlern gilt die bestehende föderale Ordnung inzwischen als Gräuel. Die jüngst erschienene zweite Auflage der Streitschrift wider den deutschen Föderalismus Konsens ist Nonsens des Spiegel-Autors Thomas Darnstädt liest sich folglich wie ein „Who is Who“ der deutschen Wirtschafts-, Rechts- und Wissenschaftseliten. [3] Von McKinsey über die Bertelsmann-Stiftung bis zu führenden Staats- und Verfassungsrechtlern der Republik wird heute mehr oder weniger einhellig eine Generalüberholung der föderalen Ordnung gefordert.

Dabei werden auch die Demokratiedefizite der deutschen Spielart des Föderalismus sehr viel schärfer zur Sprache gebracht, als das im politischen Mainstream noch vor zehn Jahren denkbar gewesen wäre. So klagt Darnstedt beispielsweise in Hinblick auf den Bundesrat völlig zu Recht: „Die Bundesregierung teilt ihre Macht mit einer Gewalt, die aus dem Off agiert … Und diese Staatsgewalt geht nicht vom Volke aus.“ [4] Auch die Bertelsmann-Stiftung stellt, wenn auch zurückhaltender, das Primat „klarer Zuordnung politischer Handlungsbefugnisse“ an den Anfang ihres Positionspapiers zur Föderalismusreform und erklärt: „Demokratische Beteiligung setzt Klarheit darüber voraus, wann, worüber, wo und von wem verbindlich entschieden wird.“ [5] Auch führende Verfassungs- und Politikexperten fordern eine „Reparlamentisierung“ der Politik, sprich: eine Stärkung der Legislative und der demokratischen Mehrheitsentscheidung der Parlamente gegenüber dem undurchsichtigen Wirken der Ministerial- und Ausschussbürokratien.

Trotzdem ist das aktuelle Klagen über die Demokratiedefizite des deutschen Föderalismus von besonderer Art. Wollte man wirklich die Demokratie fördern, wäre erstens die einzig logische Forderung die nach Stärkung des Bundestags als Repräsentationsorgan des deutschen Souveräns. Der Bundestag ist das demokratisch gewählte Forum, dem die maßgeblichen Entscheidungen über die deutsche Politik obliegen, das aber, wie zahlreiche beredte Kritiken der föderalen Ordnung immer wieder hervorheben, durch die undurchsichtigen Prozeduren des föderalen Interessensausgleichs unterlaufen wird. Trotzdem glänzt eine solche Forderung in der aktuellen Debatte durch ihre Abwesenheit.

Prägend für die Reformdebatte ist stattdessen die Vorstellung, Demokratie realisiere sich auf der untersten Ebene des Gemeinwesens, also dort, wo die Bürger direkt „betroffen“ sind und sich obendrein in ihrer „Vielfalt“ sehr viel unmittelbarer artikulieren können. So schrieb Günter Bannas anlässlich der Vorstellung der Vorschläge der Föderalismuskommission in der F.A.Z.: „Im Kern geht es um den Grundsatz der Subsidiarität, Entscheidungen möglichst ‚nach unten‘ zu verlagern, und um die Frage, was den Bürgern und dem Staat mehr nütze: Vielfalt und Wettbewerb oder Gleichmacherei.“ [6] Damit ist die vorherrschende Auffassung in der aktuellen Debatte treffend beschrieben. In ihr wird Demokratie neu gefasst als „Partizipation“ in lokal begrenzten Räumen, weil das angeblich die Integration und Identifikation der Bürger fördert. Wo dann die übergreifenden gesellschaftlichen Prozesse noch erörtert und gestaltet werden sollen – ob in Brüssel oder gleich auf dem Markt –, bleibt dahingestellt, im nationalen Parlament aber nach dieser Konzeption wohl nur noch begrenzt.
Zweitens ist Demokratie ein ohnehin eher nebengeordnetes Motiv in der aktuellen Föderalismusdebatte. Getragen wird diese vom Bestreben, die föderale Ordnung an die aktuellen Herausforderungen zunehmenden internationalen Wettbewerbsdrucks und einer sich erweiternden Europäischen Union anzupassen.
Prägend ist der Wunsch, staatliches Handeln angesichts sich nur mühsam dahinschleppender Sozialstaatsreformen und der Furcht vor einem dauerhaften Rückfall Deutschlands im internationalen Wettbewerb effizienter zu gestalten – gleichzeitig aber auch die Integration der Bürger nicht aus den Augen zu verlieren. Die Kritik an der Modernisierungsresistenz und der mangelnden Flexibilität des bundesdeutschen Föderalismus mit seinen langwierigen und unüberschaubaren bürokratischen Abstimmungsverfahren ist ohne Zweifel berechtigt. Doch gefordert wird eine umfassende Entflechtung der Aufgaben- und Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern nur, um „die Effizienz von Entscheidungsprozessen im deutschen Bundesstaat zu verbessern und die Entstehung von Reformstaus zu verhindern“, so beispielsweise die Bertelsmann Stiftung. [7] Gedacht ist an eine Neujustierung der Bund-Länder-Beziehungen, um mehr wirtschaftlichen Wettbewerb der Regionen zu ermöglichen und gleichzeitig im Sinne der „Mehrebenenpolitik“ erhöhte Effizienz und Wirksamkeit staatlichen Handelns zu fördern. Und das nicht nur in der Innenpolitik, sondern auch im Dschungel der EU-Bürokratie, wo schon heute deutsche Bundes- und Ländervertreter sich oftmals konkurrierend im Wege stehen, statt im übergeordneten Interesse des Landes zusammenzuarbeiten. [8] So sollen durch Reduzierung, aber auch Entkopplung der Kompetenzen des Bundes von den bisherigen Mitentscheidungsrechten der Länder der Bund und umgekehrt auch die Länder durch mehr Autonomie gestärkt werden.


So betrachtet, verdient das Projekt Föderalismusreform sehr viel mehr Beachtung, als ihm bislang in der breiten Öffentlichkeit zuteil wird. Denn hier bahnt sich eine erweiterte Föderalisierung der Bundesrepublik sowohl im Inneren als auch im Verhältnis zur EU an, die die Parameter unserer bisherigen politischen Ordnung ganz grundlegend infrage stellt.

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