30.09.2015

Erziehung: Lasst das Loben sein!

Von Bettina Zydatiss

Viele Eltern halten heute Lob für unerlässlich. Um die Motivation aufrechtzuerhalten, übernehmen sie häufig die Regie bei den Beschäftigungen der Kinder. Dies verhindert die Ausbildung von Durchhaltevermögen und lässt die Frustrationstoleranz sinken, meint Bettina Zydatiß

Mit meinem älteren Bruder und mir sind unsere Eltern damals ganz anders verfahren als die Elterngeneration heute. Zu unserer Kinder- und Jugendzeit waren wir beim Spielen und Lernen sehr viel mehr uns selbst überlassen, als dies bei den Kindern heutzutage der Fall ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand beim Malen, Basteln oder Puzzeln neben mir gesessen hätte, um mich zu motivieren oder mir etwas beizubringen. Auf der Straße übten wir mit anderen Kindern Bälle fangen. Das Spiel hieß „müde, matt, krank, tot“. Wer den Ball immer fallen ließ, war schnell tot und aus dem Spiel. Ein guter Grund, besser fangen lernen zu wollen. Das Stelzenlaufen habe ich mit meiner Freundin und der Hauswand im Rücken so lange geübt (wochenlang!), bis wir es beide konnten. Unsere Mütter wussten meist nicht einmal, womit wir uns beschäftigten.

Lob und Anerkennung von Erwachsenen gab es dafür nicht. Das brauchten wir auch gar nicht. Der Lohn für unsere Mühe war der sichtbare Erfolg, nicht die Bewertung durch andere. Aus meiner Sicht war die Erziehung meiner Klassen- und Spielkameraden ähnlich wie die meiner Eltern. Man hat uns vor fast 60 Jahren eine ganze Menge zugetraut und sich als Erwachsener wenig eingebracht in die Beschäftigungen der Kinder. Das mag daran gelegen haben, dass die Haus- und Erwerbsarbeit nicht viel Zeit ließ, sich ausführlich mit den Kindern zu beschäftigen. Vielleicht war das aber auch einfach die damalige Haltung: Kinder sind wichtig, aber nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit der Erwachsenen.

Weder wurde ich dafür kritisiert, wenn ich etwas nicht (gleich) konnte, noch ausdrücklich gelobt, wenn ich etwas geschafft oder gelernt hatte. Was ich lernen wollte, war vor allem mir selbst überlassen. Als meine Freundin mir ihr Holz-Labyrinth (ein Geschicklichkeitsspiel) für ein Wochenende auslieh, übte ich das so lange, bis die kleine Stahlkugel in keins der 48 Löcher mehr fiel. Um die Leihgabe maximal zu nutzen, übte ich danach noch, die Kugel rückwärts rollen zu lassen, eine neue Herausforderung. Meine Eltern beschränkten mich weder bei meinem stundenlangen Probieren, noch meinten sie, mein Durchhaltevermögen und meine Anstrengungsbereitschaft durch Ermutigungen anspornen zu müssen. Ja, sie haben sich mit mir über meine Erfolge gefreut, aber auf dem Weg dorthin wurde ich meiner Erinnerung nach nicht motiviert und manipuliert.

„Der Lohn für unsere Mühe war der sichtbare Erfolg, nicht die Bewertung durch andere“

Seit über zwölf Jahren wenden sich Familien wegen ihrer hochbegabten Kinder an die „Berliner-Begabten-Beratung“ [1]. Eltern, Erzieher oder Lehrkräfte erkennen in den Kindern, mit denen ich zu tun habe, besonderes Potenzial. Meine Klientel sind vornehmlich bildungsnahe Familien mit klugen Kindern, deren Eltern sie gut fördern und ihnen gerecht werden wollen. Fast alle Eltern berichten, dass ihre Kinder eine geringe Frustrationstoleranz haben, dass sie es schwer verkraften, wenn etwas nicht gleich gelingt. Es ist die Frage, woher das kommt.

Gerade in bildungsnahen Elternhäusern spielen die Väter und Mütter heute häufig eine sehr aktive Rolle bei den Beschäftigungen ihrer Kinder. Die Eltern wollen ihre Sache gut machen und den Kindern etwas beibringen – ihnen zeigen, wie es geht. Sitzt ein Kind das erste Mal vor einem Puzzle, hört es: „Such mal die Ecken und die Randteile.“ Auf meine Frage nach dem Grund für diese Art der „Unterstützung“ sagen die Eltern, dass sie dem Kind helfen wollen, schneller zum Erfolg zu kommen, sie ihm Frustration ersparen wollen und Angst haben, dass das Kind sonst nicht bei der Sache bleibt. Was die Eltern aber aus meiner Sicht tun und sich dessen gar nicht bewusst sind, ist, dem Kind eine Lernchance zu nehmen.

Es hat keine Gelegenheit, selber zu entdecken, dass die Puzzleteile unterschiedlich aussehen und zu überlegen, ob das wichtig sein könnte. Auch gibt es prinzipiell durchaus unterschiedliche Vorgehensweisen beim Zusammensetzen eines Puzzles. Man kann auch in der Mitte anfangen, sich eher an der Form der Teile oder an den Farben und Bildern orientieren. Ungestört bei der Sache zu bleiben und einfach auszuprobieren, wie es geht, ist den Kindern heutzutage häufig nicht vergönnt. Sie werden belehrt, man will ihnen zeigen, wie es geht. Manch ein Kind fühlt sich bevormundet, reagiert ungehalten und verliert den Spaß an der Sache. Andere dagegen werden ganz abhängig von der Hilfe und Unterstützung anderer und fordern diese fortwährend ein.

Wann sind Menschen am zufriedensten mit ihrem Tun? Ich glaube, wenn sie merken, dass sie aus eigenem Antrieb und aus eigener Kraft etwas bewerkstelligen können. Woran erkennen Menschen, ob sie bei einer Tätigkeit erfolgreich sind? Wenn sie von anderen Menschen dafür gelobt werden? Ich glaube, dass genau in dieser Frage die Ursache der unzuträglichen Entwicklung in Sachen Kindererziehung liegen könnte. Vor ein paar Tagen hörte ich von einem jungen Elternpaar, das wegen seiner knapp über dreijährigen, sehr sprachgewandten, willensstarken Tochter bei mir war: „In dem Erziehungsratgeber, den wir gelesen haben stand: ‚Loben Sie ihr Kind!‘“

„Bewertendes Lob macht Kinder abhängig“

Tatsächlich werden die Aktivitäten der Kinder von fast allen Eltern heutzutage mit lobenden Kommentaren bedacht. Sie kommen Erwachsenen im Umgang mit Kindern unwillkürlich über die Lippen. Auf jedem Spielplatz wird auf das Balancieren und Rutschen mit Bemerkungen wie „Super!“, auf das Backen des Sandkuchens mit „Toll!“ und auf das getuschte Bild zu Hause mit „Spitze!“ reagiert. In Kindergruppen, in Kitas und Schulen höre ich nicht selten die Frage der Kinder an Erwachsene: „Habe ich das nicht schön gemacht?“ Warum wollen die Kinder sich auf diese Weise rückversichern?

Durch das bewertende Lob der Erwachsene können die Kinder gar keine eigenen Kriterien für ihre Ergebnisse entwickeln. Bewertendes Lob wie oben beschrieben macht Kinder abhängig. Sie fordern lobende Kommentare immer wieder ein und wissen selber gar nicht, ob sie mit ihrem Werk, ihrem Ergebnis zufrieden sind. Ein Kind, das zehn Bilder malt, neun Mal „Das hast du super gemacht!“ hört und einmal nicht, fühlt sich schon kritisiert. Ausbleibendes, aber erwartetes Lob verunsichert und macht unglücklich. Zudem verursacht bewertendes Lob ausgeprägte Konkurrenz unter den (Geschwister-) Kindern. Ein Kind, das hört, wie ein anderes gelobt wird, möchte ebenfalls Lob hören. Ich glaube, Kinder entwickeln sich am besten, wenn ihren individuellen Fortschritten Beachtung geschenkt wird, sie sozusagen an sich selbst gemessen werden.

Dieser Umstand ist für Erwachsene in ihrer Kommunikation mit Kindern aus meiner Sicht wichtig zu beachten. Statt sie zu loben, plädiere ich für ein kriterienbasiertes Feedback, d.h. den Kindern Aufmerksamkeit zu schenken und zu beschreiben, was sie tun, aber gleichzeitig auf Wertungen zu verzichten. Für jede Tätigkeit lassen sich Kriterien finden, an denen abzulesen ist, ob eine Aufgabe erfolgreich bearbeitet wurde. So können Kinder ohne fremde Bewertung lernen, ihre Leistung selber einzuschätzen. [2]

„Es wäre ‚lobenswert‘, wenn Erwachsene auf Lob gegenüber Kindern verzichten würden“

Der Erwerb eigener Fähigkeiten ist unabhängig von den Ergebnissen anderer, daher ist der Vergleich meistens nicht hilfreich. Eltern denken mitunter, dass sie den Ehrgeiz ihres Kindes anstacheln können, indem sie die Leistungen der (Geschwister-)Kinder hervorheben. Das führt fast zwangsläufig zu Spannungen unter den Beteiligten. Eine unbedenkliche Form von Konkurrenz ist aus meiner Sicht hingegen die Bemühung, sein Bestes zu tun, um z.B. bei einem Gesellschaftsspiel oder im Sport zu gewinnen. Da gilt es, Strategien zu entwickeln und zu trainieren. Am Ende sind es Kriterien, die über Gewinnen und Verlieren entscheiden, z.B. Wer geht als erster über die Ziellinie? Wer hat die meisten Punkte? Kinder, die zu Hause vermittelt bekommen, dass sie die Besten sind und (fast) alles, was sie tun, lobenswert, tun sich in ihrer Kita-Gruppe und Schulklasse schwer damit, auf andere zu treffen, die das ebenfalls von sich meinen.

Es ist aber nicht jede Aktivität gleichermaßen lobenswert, und nicht jedes gemalte Bild ist toll. Die Fähigkeiten der Kinder unterscheiden sich und noch viel mehr dann, wenn sie unterschiedlichen Alters sind. Es wäre „lobenswert“, wenn Erwachsene auf Lob gegenüber Kindern verzichten würden.

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