03.03.2011

Entmachtung des Hessischen Parlaments per Volksentscheid

Von Kai Rogusch

Die Schuldenbremse ist zu kurz gedacht, weil sie den Raum für demokratische Entscheidungen künftiger Parlamente einengt und Macht auf Gerichte verlagert, findet Kai Rogusch

Keine Frage: Verantwortungsvolle Haushaltspolitik, die „zukünftigen Generationen“ stabile Staatsfinanzen hinterlässt, ist wünschenswert. Dennoch könnte gerade die Schuldenbremse unser Gemeinwesen um seine Kreditwürdigkeit bringen. Denn die Parlamente verlieren fiskalische und politische Gestaltungskraft.

Die hessische Landesregierung verweist auf die Neuregelung in Art. 109 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach die Länder ab dem Jahr 2020 (von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen) grundsätzlich keine neuen Schulden mehr zur Finanzierung ihrer Aufgaben aufnehmen dürfen. Zudem betrachtet die hessische Landesregierung den mit der Schuldenbremse verbundenen Konsolidierungszwang als „alternativlos“.

Damit setzt sich ein Trend fort, der auf eine weitere Entmachtung der Parlamente deutet. Die gewählten Volksvertretungen bringen sich heute, wo sie sich immer mehr als Vollstrecker so genannter „Sachzwänge“ darstellen, um ihre Rolle als respektable Normensetzer der Gesellschaft. Noch schlimmer: Eine verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse höhlt auch das demokratische Leben aus, das Verfassungen eigentlich neben den Grundrechten schützen sollen.

Wie beispielsweise Ortwin Runde und Wolfgang Wodarg sowie Thomas Deichmann betonen, schwächt die Schuldenbremse die Demokratie. Denn politische Gezeitenwechsel schlagen sich nun nicht mehr ohne Weiteres in konkreten Gesetzen nieder. Wer in das Grundgesetz oder in die Verfassungen der Länder Dinge schreibt, die früher in einfache Gesetze gehörten, der mindert die Bedeutung neuer politischer Mehrheiten. Wenn diese den politischen Kurs des Landes ändern wollen auf einem Gebiet, das die jeweilige Verfassung regelt, müssen sie die Verfassung ändern. Da die Schuldenbremse rigide Vorschriften macht, wird der Raum für neue Mehrheitsentscheidungen auf dem Gebiet der künftigen Fiskalpolitik enger. Die Verfassung, grundsätzlich als Sicherung des demokratischen Lebens gedacht, könnte so zu dessen Falle werden.

Demokratische Machtverschiebungen dürfen aber nicht folgenlos werden. Denn sonst würde das Verantwortungsbewusstsein der Bürger für die Demokratie durch den reinen Glauben an die Verfassung, die es schon richten werde, demontiert. Gerade heute, wo viele Fragen einer dringenden Klärung bedürfen, kommt es aber auf verantwortungsvolle Richtungsentscheidungen der Politiker und der Wähler an.

Der Souveränitätsverlust des Parlamentes wird nicht dadurch ausgeglichen, dass Ausnahmen vom Verbot der Schuldenaufnahme vorgesehen sind. Zwar soll es aufgrund äußerer Anlässe wie etwa möglicher Weltwirtschaftskrisen oder schwerer konjunktureller Einbrüche möglich sein, neue Kredite aufzunehmen. Doch auch diese Ausnahme folgt einer von außen vorgegebenen Notwendigkeit, auf die das Parlament keinen Einfluss hat. Die Ausnahme vom strikten Neuverschuldungsverbot soll nur dann greifen, wenn noch größere „Sachzwänge“, also die angesprochenen „außergewöhnlichen Notlagen“ vorliegen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen. Doch auch nach der durch äußere Sachzwänge veranlassten „alternativlosen“ Inanspruchnahme der Ausnahmeregelungen greift das Regiment der strikten Notwendigkeit. Denn nun müssen die Auswirkungen von konjunkturellen Schwankungen auf den Landeshaushalt symmetrisch berücksichtigt werden, d. h. im Falle einer Rezession müssen Defiziten Überschüsse in Aufschwungphasen gegenüberstehen.

Hinzu kommt, dass die Entscheidungsmacht über die Ausnahmen mehr und mehr auf die Gerichte verlagert wird. Die Transparenz politischer Entscheidungsfindung schwindet, weil politische Sachentscheidungen auf Instanzen übertragen werden, die dem Bürger weniger Rechenschaft schulden. Das Regieren im Geiste der reinen „Sachzwänge“ vermengt sich mit einer nur scheinbaren Eindeutigkeit der Regeln der Schuldenbremse. Im Falle von „außergewöhnlichen Notlagen“ sind Ausnahmen vorgesehen. Aufgrund der vielen Unklarheiten, wann denn Ausnahmen vom Verbot der Kreditaufnahme bestehen, werden die hohen Gerichte viel zu entscheiden haben. Mit der neuen politischen Interpretationsmacht der Gerichte eröffnet sich ein weites Feld der Willkür. Die politisch eminente Fiskalpolitik wird auf andere Instanzen verlagert, die für die Konkretisierung und Interpretation der unklar definierten Ausnahmelage zuständig sind.


Eines muss heute klar sein: Das Denken in flexibel handhabbaren Ausnahmesituationen ist, siehe Euro-Rettung, siehe Terrorbekämpfung, fast schon zu einer Regel geworden. „Außergewöhnliche Notsituationen“ werden heute permanent beschworen und, siehe das gegenwärtige verfassungspolitische Scharmützel über die Rechtmäßigkeit des Haushaltes in Nordrhein Westfalen, in juristischen Stellvertreterkriegen Gegenstand von makroökonomischen Weltanschauungen und Einschätzungen, die ihrem Wesen nach politisch sind. Auf diese Weise wird es in Zukunft immer schwerer, dem Wähler und Bürger möglichst nachvollziehbare Argumentationsstränge über das Für und Wider verschiedener politischer Alternativen zu beleuchten.
Eigentlich sorgt ein souveräner Parlamentarismus dafür, dass sich möglichst viele Bürger für öffentliche Fragen interessieren und sich mit verantwortlich fühlen bei der Gestaltung des Gemeinwesens. Je mehr Bedeutung der jeweiligen Parlamentswahl beikommt, desto größer ist auch das Engagement der Bürger. Damit wächst der Ideenreichtum, aus dem sich bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme schöpfen lässt. Heute jedoch schnürt eine beklemmende Politik der „alternativlosen Sparzwänge“ demokratische Debatten ein. Ein aufgeklärter Diskurs über das Für und Wider staatlicher Spar- oder Schuldenpolitik, eingebettet in Überlegungen über die vielgestaltigen Wechselwirkungen von fiskalpolitischen Entscheidungen und der eigentlichen volkswirtschaftlichen Dynamik, wird von vorneherein unterbunden.

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