16.07.2012

Entdemokratisierung in Vollendung

Essay von Kai Rogusch

Schon längst hat sich durch die Hintertür eine europäische Notgemeinschaft mit bundesstaatsähnlichen Zügen etabliert. Wenn ESM und Fiskalpakt in Kraft treten, ist Europa in einer Transfer- und Überwachungsunion gefangen – mit schlimmen und unumkehrbaren Folgen für die Demokratie

Die turbulenten Debatten über die Zukunft der Europäischen Union vermitteln gegenwärtig ein widersprüchliches Bild: Während Berufspessimisten vom Schlage eines Nouriel Roubini einen Kollaps der Eurozone innerhalb von „3 bis 5 Monaten“ an die Wand malen, läuft gegenwärtig eine Debatte über die Schaffung einer „echten“ Wirtschafts- und Währungsunion. Während derzeit der umstrittene Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Fiskalpakt einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen, stehen bereits jetzt wesentliche Inhalte der bisherigen Vereinbarungen wieder zur Disposition. Unter dem Druck immer akuterer Krisenszenarien vollendet sich spätestens jetzt die Entdemokratisierung Europas.

Sollte das BVerfG der gegenwärtigen Politik der Notverordnungen nicht doch noch Einhalt gebieten, verlieren die Nationalstaaten unumkehrbar wesentliche Elemente ihrer demokratischen Gestaltungsfreiheit – zu einem Zeitpunkt, wo auf europäischer Ebene die Entwicklung einer demokratischen Bürgergesellschaft surrealer denn je erscheint. Zwar setzt gegenwärtig eine Demokratisierungsdebatte ein, die von etwaigen Volksentscheiden, einer neuen europäischen Verfassung und „transparenteren“ Entscheidungsprozessen handelt. Doch sie tritt zu einem Zeitpunkt auf, wo die Krise des Euroraumes einen unkontrollierten Ausbau europäischer Kompetenzen geradezu befeuert – und dabei bleibt den Beteiligten nicht genügend Zeit für eine unbefangene Reflexion.

Finanzminister Wolfgang Schäuble mag ein Referendum über den weiteren Fortgang der europäischen Integration in Aussicht stellen. Doch er verschweigt, dass es sich bei der „Europäisierung“ der Finanz-, Wirtschafts- bis hin zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik keinesfalls mehr um eine vage Zukunftsmusik handelt, über die noch abzustimmen wäre. Auch der Gipfelbeschluss der Staats- und Regierungschefs von Ende Juni erweckt zwar den Eindruck, als seien der „integrierte Finanzrahmen“, der „integrierte Haushaltsrahmen“ und der „integrierte wirtschaftspolitische Rahmen“ bloße Vorhaben, die sich auf einen noch zu erringenden Zustand beziehen. Doch Europa stolpert bereits jetzt in ein zumindest bundesstaatsähnliches Gebilde.

Sollten der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Fiskalpakt endgültig in Kraft treten, so werden sie die Nationalstaaten praktisch unwiderruflich binden. Der ESM wird dann einen dauerhaften und gigantischen Finanztransfer von bislang als kreditwürdig erachteten zu weniger solventen Staaten bewerkstelligen. Er wird die Verschuldungspolitik weiter forcieren und so den Fiskalpakt konterkarieren, der in Europa eine praktisch unkündbare Festlegung der Staaten auf eine rigide Haushaltspolitik statuiert. Das wiederum wird die europäischen Exekutivorgane stärken, denn sie erhalten das Mandat, zentral in die nationale Haushaltspolitik zu intervenieren.

Zusammen mit den bereits Ende letzten Jahres in Kraft getretenen „Sixpack“-Verordnungen werden diese Einrichtungen dafür sorgen, dass Deutschland in wesentlichen Kernbereichen seiner staatlichen Existenz seine demokratische Souveränität verliert. Das gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil sich durch die Hintertür schon längst ein europaweit und zentral durch die EU-Kommission koordiniertes Vorhaben etabliert, das wirtschaftspolitische „Ungleichgewichte“ auf den Feldern der Fiskal- bis hin zur Lohnfindungspolitik beseitigen helfen soll. Wie noch gezeigt wird, eröffnet dies der europäischen Zentrale schier unbegrenzte Dispositionsfreiheit und Interventionsmöglichkeiten in fast alle nationalen Politikfelder.

ESM

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist laut ESM-Vertrag eine „internationale Finanzorganisation“. Er soll Finanzmittel mobilisieren, um „Mitgliedstaaten, die schwerwiegende Finanzprobleme haben oder denen solche Probleme drohen“, unter Auflagen eine „Stabilitätshilfe“ bereitzustellen – wenn dies „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar“ ist. Der ESM darf zu diesem Zweck eigenständig und ohne Vorgaben der Mitgliedstaaten Finanzinstrumente begeben und mit den Mitgliedstaaten, mit Finanzinstituten oder beliebigen Dritten umfassend finanzielle oder sonstige Vereinbarungen schließen. Zu seinem Repertoire gehört auch die indirekte Rekapitalisierung der Banken. Sowohl das Darlehensvolumen als auch das Stammkapital können „im gegenseitigen Einvernehmen“ durch den Gouverneursrat erhöht werden.

Kritiker bezeichnen den ESM als eine „nahezu kontrollfrei und mit unbegrenzten Mitteln ausgestattete internationale Finanzorganisation“. Er genießt völlige Immunität, er kann gerichtlich in keiner Weise belangt werden. Sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte genießen Immunität von gerichtlichen Verfahren, Durchsuchungen und dergleichen. Seine Archive und alle Unterlagen sind unverletzlich. Immunität gilt auch für die Organe und Bediensteten des ESM, und sie kann nur in dem Maße und zu den Bedingungen des Gouverneursrates aufgehoben werden. Die handelnden Organe und Bediensteten des ESM unterliegen einer unbedingten, auch nachwirkenden Verschwiegenheitspflicht.

Der ESM wird, wenn er einmal in Kraft getreten ist, einen gigantischen Finanztransfer innerhalb Europas koordinieren. Dabei wird er einerseits die Krisenländer durch seine anschwellenden Kredite immer abhängiger machen und sie dabei weitreichenden Kontrollen und auch Eingriffsbefugnissen aussetzen. Andererseits wird er den halbwegs gesunden Euro-Staaten unabsehbare finanzielle Belastungen auferlegen. Hier erpressen sich die europäischen „Völker“ gegenseitig in eine europäische Notgemeinschaft hinein. Wünsche nach mehr Transfers in die Krisenstaaten stoßen auf Forderungen nach finanzpolitischer Überwachung der Krisenländer durch supranationale Organe der EU-Bürokratie. Dabei erscheint plausibel, dass die Geberländer mittels des ESM in einen immer größeren Strudel von Nachschussverpflichtungen hineingezogen werden und so ihrerseits in eine Schieflage geraten.

Wie die Verwaltungsrechtler Wolfgang Kahl und Andreas Glaser ausführen, etabliert der ESM-Vertrag eine bundesstaatsähnliche Haftungsunion. In dieser wird ein permanenter Finanzausgleich zugunsten der überschuldeten Staaten geschaffen. Die bislang noch solventen Staaten haften für die Verbindlichkeiten der Krisenländer. Das geschieht dadurch, dass die Euro-Staaten dem ESM Gelder im Umfang von zunächst 700 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um anderen Euro-Staaten mit drohenden oder bereits eingetretenen akuten Liquiditätsproblemen zu helfen. Das Darlehensvolumen soll vorerst auf 500 Milliarden Euro begrenzt sein. Eine Aufstockung bis hin zu einer Verdoppelung dieser Darlehenssumme ist jedoch schon im ESM-Vertrag angelegt. Die Gewährleistungssumme kann jederzeit vollständig abgerufen werden. Deutschland haftet im schlimmsten Fall für bislang 190 Milliarden Euro, später möglicherweise für das Doppelte.

Zwar zeichnet sich ab, dass der Bundestag immer wieder zustimmen muss, wenn es um die Bewilligung von Hilfsgeldern geht. Auch für die durch den ESM-Vertrag ermöglichte Erhöhung des Stammkapitals, der Änderung der Finanzhilfeinstrumente oder des Darlehensvolumens sieht die Begleitgesetzgebung zum ESM eine verbindliche Befassung des Bundestages vor – dadurch soll der deutsche Vertreter im Gouverneursrat, der in solchen Fragen eine Sperrminorität hat, gebunden werden. Das reicht jedoch nicht aus, um dem Bundestag hinreichende Gestaltungsrechte zu sichern.

Denn einerseits ist überhaupt zweifelhaft, ob diese einfachgesetzlichen Bindungen auch völkerrechtlich erheblich sind. Staatsrechtler weisen darauf hin, dass die Bundesrepublik mit Beitritt zum ESM Vertragspartei eines völkerrechtlichen Vertrages ist. Sie ist also im Verhältnis zu ihren Vertragspartnern gebunden. Der deutsche Vertreter im Gouverneursrat ist gehalten, im Interesse des ESM zu handeln. Er kann sich deshalb beizeiten gezwungen sehen, entgegen einer Weisung des Parlamentes abzustimmen. Sollte beispielsweise eine Situation eintreten, in der die Schlagkraft des ESM davon abhängt, dass Nachschüsse geleistet werden müssen, wird sich der nationale Vertreter eher dem Corpsgeist im ESM verpflichtet fühlen und entsprechende Beschlussvorlagen entgegen der Auffassung der Volksvertretung billigen.

Ohnehin bleiben die nationalen Parlamente auf den bloßen Nachvollzug der von den Organen des ESM intergouvernemental getroffenen Entscheidungen beschränkt – nicht zuletzt auch deshalb, weil der ESM darauf angelegt ist, den Eindruck einer objektiven Dringlichkeit zu erzeugen. Dieser werden sich auch die nationalen Parlamente nicht entziehen können. Sobald im Raume steht, dass die finanziellen Hilfen „zur Wahrung der Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar“ seien, wird der Bundestag schon aufgrund fehlenden eigenen Sachverstandes kaum seine Zustimmung verweigern können. Denn der Bundestag agiert immer vor dem Hintergrund, dass seine Weigerung, Hilfsgelder zu bewilligen, einen „systemischen“ Zusammenbruch der Eurozone verursachen könnte.

Die nationalen Parlamente sind aber auch deshalb nicht im Entferntesten die entscheidenden Akteure, weil ihre Entscheidungen bloß Stückwerk sind im Vergleich zu dem, was sich auf der Ebene des ESM abspielt. Viel wichtiger nämlich sind der Gouverneursrat, in dem die europäischen Finanzminister (oder ihre Vertreter) tagen, und das Direktorium, das die technische Feinarbeit vornimmt. Auf der europäischen Ebene von Gouverneursrat und Direktorium spielt die eigentliche Musik. Hier wird entschieden, ob und welche Finanzmittel europäischen Krisenstaaten zur Verfügung gestellt werden. Von hier aus wird die Initiative zum Ankauf von Staatsanleihen, zur Ausgabe eigener Anleihen und zur Tätigung anderweitiger Finanzmarktgeschäfte starten.

Auf der Ebene des ESM verstärkt sich der Trend der Europäischen Union, demzufolge sich auf der europäischen Ebene immer mehr Macht zusammenballt. Diese Macht kann auf der nationalen Ebene der bislang nebeneinander her lebenden Teilöffentlichkeiten nicht hinreichend kontrolliert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass auch das (bislang ohnehin eher schwach legitimierte) Europäische Parlament außen vor bleibt. Der ESM ist symptomatisch für die Fortentwicklung einer europäisierten Regierungs- und Expertenherrschaft, die keiner wirkungsvollen Kontrolle einer ernst zu nehmenden europäischen Bürgerschaft unterliegt.

Das Perfide an Einrichtungen wie dem ESM liegt darin, dass sich hier Geberländer wie Nehmerländer gegenseitig erpressen und die Staaten Europas so in eine zweifelhaft begründete „Schicksalsgemeinschaft“ zwingen. Wir erleben es schon seit Monaten am Beispiel der provisorischen Hilfsprogramme, wie Finanzhilfen nur gegen zu überwachende Auflagen fließen. Zugleich aber sind die Krisenländer ihrerseits darauf ausgerichtet, Ausnahmen und Aufweichungen bei den Auflagen zu erwirken. Das erzeugt dann wiederum das Bedürfnis nach stärkerer Überwachung, und die Drohung folgt, das Krisenland durch Einstellung der Hilfen ins Chaos zu stürzen. Die Drohung mit einer Staatspleite richtet sich dann aber ihrerseits wieder gegen die Geberländer, weil sie für ihre Banken und Exportwirtschaft etwa in Deutschland fatal wäre.

Auf diese Weise entsteht eine Transfer- und Überwachungsgemeinschaft, in der europäische Gremien eine große Macht bei einem europaweiten Vollzug gigantischer Transfers bekommen. Das sorgt einerseits dafür, dass die Geberländer in einen Haftungssog geraten, der ihre haushaltspolitische Souveränität untergräbt. Andererseits wird aber auch die Souveränität der so genannten Nehmerländer untergraben: Sie werden, um an Hilfsgelder zu gelangen, ein makroökonomisches Anpassungsprogramm umsetzen müssen. Der Gouverneursrat überträgt der Europäischen Kommission die Aufgabe, im Benehmen mit der EZB und nach Möglichkeit zusammen mit dem IWF ein so genanntes Memorandum of Unterstanding auszuhandeln, in dem die mit der Finanzhilfe verbundenen Auflagen detailliert ausgeführt werden. Es ist nur allzu verständlich, dass die Krisenländer versuchen, die Bedingungen und Auflagen des zu koordinierenden Finanztransfers zu verwässern und zu relativieren. Die Gipfelbeschlüsse zu Spanien und Italien gehen in diese Richtung.

Mittels des ESM geraten die Krisenländer in immer größere Abhängigkeit von einer internationalisierten Kaste von Finanzeliten und Bürokraten. Denn wie bereits jahrzehntelange Erfahrungen mit der Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen, verschärft sich hier voraussichtlich nur die Schuldensituation der Krisenländer. Wie nämlich der Ökonom Bernd Lucke ausführt, ist der ESM logisch inkonsistent: Einerseits erhöht man mit dem ESM die Schulden durch zusätzliche Kredite an überschuldete Staaten. Auf der anderen Seite aber schrumpft man deren Wirtschaft durch Anpassungsauflagen. Wenn die Auflagen scharf sind, steht im Raum, dass sie verfehlt werden – die „Märkte“ werden also noch unruhiger, weil sie in einer solchen Situation die Nichtzahlung der nächsten Tranche und den daraus folgenden Staatsbankrott antizipieren.

Weil die „Märkte“ durch eine kreditgestützte Rettungspolitik nicht beruhigt werden können, kann dies nur bedeuten, dass die Geberländer in einen Teufelskreislauf wachsender Haftungsverpflichtungen geraten. Weil die naheliegende Lösung, die Entschuldung mittels einer geordneten Insolvenz und angemessener Auffanglösungen, nicht in Angriff genommen wird, erhöhen sich die Schulden des Krisenstaates – dieser treibt immer mehr in die Rezession. Dann geraten aber auch die halbwegs gesunden Länder auf die abschüssige Bahn: Sie müssen mehr Schulden aufnehmen, um ihrer eigenen Situation Herr zu werden und zugleich ihren finanziellen Verpflichtungen aus dem ESM nachzukommen. Auf diese Weise konterkariert die Logik des ESM aber auch die Anforderungen des im Folgenden zu behandelnden Fiskalpaktes: Auch für die angeblich „soliden“ Geberländer wird es immer schwieriger, den strengen Regeln des Fiskalpaktes zu genügen.

Fiskalpakt

Der Fiskalpakt legt seinen Vertragsstaaten die Verpflichtung auf, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erstellen, indem sie jährlich nur noch Defizite in Höhe 0,5 Prozent des BIP machen dürfen. Dabei sollen sie auch ihre Schuldenquoten in Bezug auf ihr Bruttoinlandsprodukt abbauen : Der Gesamtschuldenstand, der 60 Prozent des BIP übersteigt, soll kontinuierlich schrumpfen. Auf diese Weise steht der Fiskalpakt der faktischen Logik des ESM entgegen – diese treibt Europas Krisenstaaten immer weiter in die Verschuldung und zieht auch die Geberländer tendenziell immer weiter in den Schuldensumpf.

Mit jeder sich konkretisierenden Verpflichtung der Geberländer, mehrstellige Milliardenbeträge in den ESM nachzuschießen, geraten auch bislang von den Finanzmärkten als solide eingestufte Länder wie Deutschland in ein zweifelhaftes Licht. Auf diese Weise sorgen die Mechanismen des ESM dafür, dass die Bestimmungen des Fiskalpaktes tendenziell nicht nur von den überschuldeten Nehmerstaaten verfehlt werden. Der ESM erweist sich in seiner Konstruktion als eine wesentliche Ursache dafür, dass prinzipiell alle Staaten der Europäischen Währungsgemeinschaft als „Schuldensünder“ erscheinen. Daraus folgt: Ihre prekäre Haushaltspolitik unterliegt einem immer stärkeren Rechtfertigungszwang gegenüber den vom Fiskalpakt geschaffenen supranationalen Kontrollinstanzen. 

Laut Fiskalpakt wird in den Verfassungen der Vertragsparteien festgeschrieben, dass eine Überschreitung der Schuldengrenze (0,5 Prozent des BIP jährlich) oder eine nicht genügende Annäherung an den überschrittenen Gesamtschuldenstand (60 Prozent des BIP) „automatisch einen Korrekturmechanismus“ auslöst. Dieser Mechanismus verpflichtet den Vertragsstaat, durch konkrete Maßnahmen die Zielverfehlung zu korrigieren. Die Überwachung der Regelungen, die in die nationalen Rechtsordnungen verbindlich und dauerhaft übertragen werden müssen, obliegt einerseits einer nationalen Institution. Auf der anderen Seite ist nun für die Euro-Staaten aufgrund ihrer völkervertraglichen Verpflichtung eine Ablehnung des von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Beschlusses, ein Defizitverfahren einzuleiten, nur noch möglich, wenn feststeht, dass eine qualifizierte Mehrheit der sonstigen Eurostaaten diesen ablehnen würde.

Mit dem Fiskalpakt verschärft sich ein Problem, das durch die bereits in Deutschland implementierten Schuldenbremsen aufgeworfen wurde. Wenn eine Verfassung eine bestimmte Politik – hier die Verschuldungspolitik –  wechselnden Mehrheitsverhältnissen des demokratischen Lebens entzieht, dann verlieren neue politische Richtungsentscheidungen, zu denen der demokratische Souverän ein neu gewähltes Parlament beauftragt, an Bedeutung. Nur noch eine „überparteilich“ agierende Bewegung wäre stark genug, um eine verfassungsändernde Mehrheit aufzubringen und so die in der Verfassung verankerte Richtungsentscheidung zu verwerfen.

Jetzt verschärft sich die Lage noch: Weil der Fiskalpakt keine Kündigungsklausel enthält, kann er nach seinem Inkrafttreten nur noch unter sehr erschwerten Bedingungen der Wiener Vertragsrechtskonvention gekündigt werden. Nur dann, wenn seine „Geschäftsgrundlage“ entfällt (Art. 62), sich ein Kündigungsrecht „aus der Natur des Vertrages“  (Art. 56 Abs. 1b) ableiten ließe oder wenn Vertragspartner ihre Verpflichtungen grob verletzten, kann sich Deutschland aus den Verpflichtungen des Fiskalvertrages lösen. Damit verliert die Bundesrepublik Deutschland ihre Verfügungsgewalt über wesentliche Teile ihrer Finanzverfassung. Sollte sich die Schuldenbremse als Fehler herausstellen, könnte sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber sie nicht mehr aus dem Grundgesetz streichen, ohne gegen völkerrechtliche Vereinbarungen zu verstoßen.

Der Fiskalpakt fordert, dass die Staaten, deren Gesamtverschuldung das Maastricht-Kriterium von 60 Prozent des BIP überschreiten, den über 60 Prozent liegenden Anteil um durchschnittlich ein Zwanzigstel jährlich abbauen. Deutschlands öffentliche Haushalte sind insgesamt mit etwa 82 Prozent des BIP verschuldet. Sollte Deutschland also wirklich durchschnittlich jährlich keine neuen Schulden aufnehmen, müsste es, um die 22 Prozent über der 60-Prozent-Marke abzubauen, zusätzlich ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum von mindestens knapp über 1Prozent erzielen. So etwas ist jedoch in Zeiten wie heute, die eher einen lang anhaltenden Wirtschaftsabschwung erahnen lassen, nur sehr schwer einzuhalten. Beispielsweise hätte im Wirtschaftsabschwung nach dem Platzen der Internet-Blase, also in den Jahren 2001 – 2005, das Wachstum nicht ausgereicht, um den Anforderungen des Fiskalvertrages zu genügen.

Entscheidend ist nun, welche Mechanismen in Gang gesetzt werden, wenn die Zielmargen des Fiskalpaktes verletzt werden. Das so genannte „halbautomatische Defizitverfahren“ verpflichtet nach Artikel 7 des Fiskalvertrages die Eurostaaten, der Kommission zu folgen, wenn diese für ein Euroland die Feststellung eines übermäßigen Defizits vorschlägt, um das Defizitverfahren in Gang zu setzen.  Das gilt nur dann nicht, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Eurostaaten die vorgeschlagene Mehrheit ablehnt. Sobald aber das Defizitverfahren gegen den betreffenden Staat einmal eingeleitet worden ist, verliert dieser seine Souveränität in Hinblick darauf, ob und welche Kürzungsprogramme und „Empfehlungen“ der Kommission er annimmt.

Der Fiskalvertrag sieht nämlich nun vor, dass Staaten, die sich im Defizitverfahren befinden, Haushalts- und Wirtschaftsprogramme entwickeln und – das ist entscheidend – diese der Kommission und dem Rat zur „Genehmigung“ vorlegen müssen (Art. 5). Mit dem Vertrag erhalten die Kommission und der Rat also ein Veto-Recht gegenüber den nationalen Haushaltsplänen. Europäische Exekutivorgane erhalten hier also die Befugnis, parlamentarische Haushaltspläne zu verwerfen. Hier kontrolliert also nicht die direkt vom Volk gewählte Legislative die Exekutive. Vielmehr sind nun die Abgeordneten europäischen Regierungs- und Verwaltungseliten gegenüber rechenschaftspflichtig. Mit dem Fiskalpakt wird auf europäischer Ebene eine Zentralisierung geschaffen, die in ihren Kompetenzen über diejenige von Bundesstaaten hinausgeht. Denn weder das Grundgesetz noch das einfache Recht der Bundesrepublik Deutschland enthalten ein Veto-Recht der Zentralregierung in Haushaltsfragen.

Sixpack-„Notverordnungen“ und europäische Wirtschaftsregierung

Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit arbeitet man auf EU-Ebene schon längst an der Etablierung einer „europäischen Wirtschaftsregierung“. Die supranationale Politikebene ist mit den Ende letzten Jahres verabschiedeten „Sixpack“-Regelungen rechtlich verbindlich dazu übergegangen, aktiv koordinierend und auch inhaltlich gestaltend die noch verbliebenen nationalen Kompetenzen einer „zentralen Detailsteuerung“ zu unterwerfen. Wo sich der ESM und der Fiskalpakt immerhin noch darauf beschränken, mittels der Kodifizierung fiskalischer „Leitplanken“ und der Auferlegung von „Haftungsrisiken“ den nationalen Handlungsspielraum nur einzuengen, da hat vor allem das Verfahren „zur Verhinderung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte“ rechtlich fast unbegrenzte Weisungsrechte der Kommission eingeführt.

Laut Fritz W. Scharpf hat die Währungsunion mit der Geld- und Währungspolitik die wirksamsten wirtschaftspolitischen Instrumente der Mitgliedstaaten bereits zentralisiert. Nun aber ist die Krisenpolitik der EU dazu übergegangen, der supranationalen Europäischen Kommission still und heimlich auch das Mandat zu übertragen, die nationalen Wirtschaftspolitiken verbindlich zu koordinieren. Vordergründig geht es bei den vorgesehenen Maßnahmen zur Vermeidung „gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte“ darum, über ein neues Überwachungsverfahren makroökonomische Fehlentwicklungen, also vor allem bei den jeweiligen Leistungsbilanzen, zu verhindern. Wie schon beim Fiskalpakt geht man dazu über, den „Empfehlungen“ der Europäischen Kommission den Charakter von indirekten Anweisungen zu verleihen.

Hier kann nämlich die Nichtbefolgung von „Empfehlungen“, welche die Europäische Kommission zur „Korrektur“ gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte an die Mitgliedstaaten der EU richtet, durch Sanktionen seitens der EU-Kommission belegt werden, die nur durch eine qualifizierte Mehrheit im Rat außer Kraft gesetzt werden können. Das ist deshalb brisant, weil die hier vorgesehene Übertragung von Kompetenzen an die Kommission, zusammen mit dem Rat „makroökonomische Ungleichgewichte“ im Euro-Raum zu korrigieren, der europäischen Regierungs- und Verwaltungsexekutive der Sache nach unbegrenzte Eingriffsbefugnisse verleiht. Europäische Exekutivorgane sind nun in der Lage,  in verbleibende Souveränitätsbereiche wirtschafts-, sozial- bis hin zu arbeitsmarktpolitischer Gestaltung zu intervenieren.

Die hier geschaffenen Kompetenzen sind rechtlich unbestimmt und der Sache nach umstritten. Fragen wie jene, wie es zu einem übermäßigen Außenhandelsdefizit gekommen ist, enthalten so viele Facetten, dass der Gedanke einer zentralen „Steuerung“ des Euroraumes bei genauerer Betrachtung anmaßend erscheint. Liegt die fehlende Wettbewerbsfähigkeit eines Landes an einer zu „korrigierenden“ deutschen Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik, die ihre Güter und Dienstleistungen unter ihrem eigentlichen Wert im Ausland absetzt? Oder liegen die Probleme in einer zu „korrigierenden“ Bildungs- und Arbeitsmarkt- oder gar Familienpolitik des Defizitlandes? Solche und ähnliche Fragen sollten in Europa eigentlich Gegenstand einer vielschichtigen, von den europäischen Bürgern getragenen und europäische Grenzen überschreitenden politischen Willensbildung sein. Erst so bildet sich eine tragfähige Öffentlichkeit auf unserem Kontinent heraus.

Leider hat sich aber in Europa ein derartiges politisches Leben der normalen Bürger bis heute noch nicht etabliert. Einerseits vollzieht sich eine immer stärkere Machtverlagerung auf die supranationale und intergouvernementale Ebene. Ungeachtet der Diskussionen über die nötige „Demokratisierung“ der EU erscheinen dabei die politischen Entwicklungen unkontrollierbar und bürgerfern. Überdies entsteht der Eindruck, dass es die gegenwärtige Rettungspolitik nicht schafft, über das hektische Hinterherrennen angesichts immer neu auftretender Krisen hinauszuwachsen. Auf diese Weise wird sie den verflochtenen europäischen Wirtschaftsraum nie als Plattform zur Entwicklung eines europäischen Aufbruchs nutzen können.

Zu der sehr spezialisierten ökonomischen und juristischen Fachöffentlichkeit, die seit jeher als Ersatz für eine echte demokratische Öffentlichkeit auf europäischer Ebene fungierte, gesellen sich heute immerhin auch populärere und breitenwirksamere Diskurse. In Talkshows, Nachrichtensendungen und Bestsellern werden die gegenwärtigen Verwerfungen der Eurokrise einem breiteren Publikum ausgebreitet. Auch hat die Forderung nach einer Volksabstimmung über eine zukünftig stark vergemeinschaftete europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik durch Wolfgang Schäuble höchstselbst starken Auftrieb bekommen. Damit würde eine einschneidende Transformation unseres Staatswesens immerhin nachträglich legitimiert werden.

Das Problem jedoch besteht darin, dass die Debatten über ein bloßes Unbehagen meistens nicht hinausgehen. Überdies krankt die aufkeimende Debatte zur „Demokratisierung“ der EU daran, dass sie erst dann einzusetzen scheint, wenn der Zug schon längst in Richtung „mehr Europa“ abgefahren ist. Die aus der akuten Krise folgenden notgedrungenen Vereinbarungen erscheinen als „alternativlose“ Gegebenheiten, die zwecks besserer „Legitimierung“ oder „Akzeptanz“ von oben nach unten kommuniziert werden müssen. Um eine wahrhaft demokratische Deliberation handelt es sich hier nicht. Wo jedes Mal erst dann entschieden wird, wenn etwas bereits vollendete Tatsache ist, da gibt es in Wirklichkeit nichts zu entscheiden.

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