01.07.2006
Endlich über Jugoslawien reden
Essay von Peter Handke
Es ist an der Zeit, die einseitige Wahrnehmung des Krieges hinter uns zu lassen. Von Peter Handke
Endlich, nach mehr als einem Jahrzehnt einer in gewissem Sinn (und Unsinn) bemerkenswerten journalistischen Sprache, scheint sich die Presse für eine neue Sprache oder einfach nur für den Beginn einer Diskussion über Jugoslawien zu öffnen. Eine Debatte, eine Diskussion, ein Diskurs, ein fruchtbarer Disput scheint möglich geworden zu sein. Gemeinsame Befragungen, Erzählungen, die aufeinander eingehen. Früher: Nichtigkeiten und noch mehr Nichtigkeiten; statt einer Debatte Diffamierungen, die durch vorgestanzte Wörter ausgedrückt wurden, wiederholt bis ins Unendliche, angewandt wie ein Schnellfeuergewehr.
Erneut muss ich ernsthaft sein und ruhig antworten auf die Vorwürfe, die mir seit vielen Jahren und jetzt wieder, nach der Zusprechung (und der angedrohten Nicht-Vergabe) des Heinrich-Heine-Preises entgegengehalten werden. Ich muss es für die Leser tun, für die redlichen Leser – übrigens eine Tautologie, denn ein unredlicher oder voreingenommener Leser ist nie ein Leser.
Also: Hören wir uns endlich gegenseitig zu, statt in zwei feindlichen Lagern zu brüllen oder zu bellen. Tolerieren wir aber auch nicht länger diese Wesen (?), diese bösen (!) Geister (?), die im manischen Problem Jugoslawiens weiterhin mit explosiven Wörtern wie „Revisionismus“, „Apartheid“, „Hitler“, „blutrünstige Diktatur“ usw. um sich werfen. Unterbinden wir alle Vergleiche und Parallelen, was die Kriege in Jugoslawien betrifft.
Bleiben wir bei den Fakten, wie dem Bürgerkrieg, den ein unaufrichtiges oder zumindest unwissendes Europa ausgelöst oder wenigstens koproduziert hat, und die für alle Seiten schrecklich genug sind. Hören wir auf, Slobodan Milosevic mit Hitler zu vergleichen.
Unterlassen wir es, ihn und seine Frau Mira Markovic mit Macbeth und seiner Lady zu vergleichen oder Parallelen zwischen dem Paar und dem Diktator Ceausescu und seiner Frau Elena zu ziehen. Und verwenden wir nie wieder den Begriff „Konzentrationslager“ für die Lager, die während des Sezessionskriegs in Jugoslawien eingerichtet wurden.
Es stimmt: Es gab zwischen 1992 und 1995 auf dem Boden der jugoslawischen Republik, vor allem in Bosnien, nicht hinnehmbare Gefangenenlager, und es wurde in ihnen gehungert, gefoltert und gemordet. Nur, hören wir auf, diese Lager in unseren Köpfen automatisch den bosnischen Serben zuzuschreiben. Es gab auch kroatische und muslimische Lager. Über die dort und dort begangenen Verbrechen wird heute und in Zukunft vor dem Tribunal in Den Haag geurteilt.
Und hören wir schließlich auf, die Massaker (unter denen die von Srebrenica vom Juli 1995 bei weitem die abscheulichsten sind) automatisch mit den Streitkräften oder paramilitärischen Einheiten der Serben zu assoziieren. Ich wiederhole aber, wütend, wiederhole voller Wut auf die serbischen Verbrecher, Kommandanten, Planer: Es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.
Wahr ist: Ich war im Juni 1996 zum ersten Mal (und danach noch um die zehn Mal) in Srebrenica und in den ebenfalls zerstörten serbischen Dörfern ringsum und habe danach ein kleines Buch geschrieben (Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise). In diesem Nachtrag erzähle ich auch von den blühenden Bäumen, von den Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica, aber natürlich (entschuldige, Leser, dass ich mich erkläre, aber die Beschreibung dieser Natur wird mir immer wieder vorgeworfen), um die furchtbare Zerstörung in und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer zu machen.
Und der Kern des Nachtrags: die endlosen Schreie eines serbischen Mannes aus Srebrenica, der, zwischen den Ruinen, am Sommerabend (Schwalben!) zu seinem Haus (?) zurückkehrt (?) und auf dem Weg gegen sein eigenes Volk anbrüllt, sein Volk verflucht und verflucht, und am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen vor lauter Wut und Schmerz.
„Ja, hören wir, nachdem wir den „Müttern von Srebrenica“ zugehört haben, auch den Müttern – oder wenigstens einer Mutter – aus dem nahe gelegenen serbischen Dorf Kravica zu, die vom Massaker zum orthodoxen Weihnachtsfest 1992/93 erzählt.“
Hören wir endlich auch den Überlebenden der muslimischen Massaker aus den vielen die muslimische Enklave Srebrenica umgebenden serbischen Dörfern zu. Massaker, die in den drei Jahren vor dem Fall Srebrenicas wiederholt unter Führung des Oberbefehlshabers von Srebrenica durchgeführt wurden und, zur ewigen Schande für die bosnisch-serbischen Verantwortlichen dieses großen Tötens, im Juli 1995 infernalische Rache nach sich zogen. In diesem einen Fall ist die ständig wiederholte Bezeichnung des „größten Tötens seit dem Zweiten Weltkrieg“ angebracht. Hinzuzufügen ist aber die folgende Information: dass alle muslimischen Soldaten oder Männer aus Srebrenica, die über den Fluss Drina, die Grenze zwischen beiden Staaten, aus Bosnien nach Serbien flohen, einen Staat also, der zu dieser Zeit von Milosevic regiert wurde und als feindlich galt, gerettet wurden. Dort gab es kein Töten und keine Massaker.
Ja, hören wir, nachdem wir den „Müttern von Srebrenica“ zugehört haben, auch den Müttern – oder wenigstens einer Mutter – aus dem nahe gelegenen serbischen Dorf Kravica zu, die vom Massaker zum orthodoxen Weihnachtsfest 1992/93 erzählt. Ein Massaker, das von den muslimischen Streitkräften aus Srebrenica auch an den Frauen und Kindern von Kravica verübt wurde (das einzige Verbrechen, auf das die Bezeichnung Genozid zutrifft).
Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini: aber die schreckliche Antwort, die abscheuliche Rache der serbischen Streitkräfte (nicht nur für die Morde in Kravica, sondern auch für die während dreieinhalb Jahren in circa 30 Dörfern um das muslimische Srebrenica begangenen Verbrechen an bosnischen Serben) ist, da sie sich ausschließlich gegen Soldaten und/oder muslimische Männer richtete, als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu bezeichnen: Nuance, die (Ausnahme unter den sonst so wichtigen „Nuancen“!) fast nicht zählt angesichts von Tausenden und Abertausenden bosnisch-serbischer Verbrechen, ja und ja, gegen die Menschlichkeit.
Und davon abgesehen – und das ist es, was die Leser in ihren Herzen endlich verstehen müssen – sind die Zahlen der jungen und weniger jungen Toten in den bosnischen Kriegen auf allen Seiten, bei den Muslimen, den Kroaten, den Serben, fast auf gleicher Höhe – warum nicht auch einmal den Friedhof von Visegrad besuchen, den riesigen Friedhof von Vlasenica?
Und vor allem, ich wiederhole es voller Trauer: Ich wollte nie sagen und habe an keiner Stelle gesagt, das Massaker von Kravica sei „der einzige Genozid“ in Bosnien gewesen, sondern ein Verbrechen, auf das dieses Wort zutrifft – es gab andere bosnisch-serbische, muslimische, kroatische Massaker, die mit diesem Terminus bezeichnet werden können.
Und hören wir auf, die „Sniper“ von Sarajevo blind mit den „Serben“ gleichzusetzen. Die Mehrzahl der Blauhelme, die in Sarajevo getötet wurden, waren Opfer muslimischer Scharfschützen. Und hören wir auf, die (schreckliche, dumme, unfassbare) Belagerung von Sarajevo ausschließlich der bosnisch-serbischen Armee zuzuschreiben. In Sarajevo war in den Jahren 1992 bis 1995 die serbische Bevölkerung zu Tausenden in zentralen Stadtteilen wie Grbavica eingeschlossen und dort durch die muslimischen Streitkräfte belagert – und wie! Und hören wir auf, die Vergewaltigungen ausschließlich mit den Serben in Verbindung zu bringen. Und hören wir auf mit der einseitigen Assoziation von Wörtern, nach der Manier des Pawlowschen Hundes.
Während der Vorbereitungen des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien war ich mehrfach in Rambouillet, und am Ende, angesichts des voraussehbaren Scheiterns der „Verhandlungen“, des westlichen Diktats, von einem Belgrader Fernsehsender befragt, habe ich das serbische Volk (in meinem Herzen die Bombardierung, die Besatzung und die Lager, vor allem Jasenovac, Nazi-Kroatien unter der deutschen Besatzung in Jugoslawien 1941 bis 1944) mit dem jüdischen Volk verglichen. Und da, in meiner – glaub’ mir, Leser, Leserin –Not, in dem Durcheinander in meinem Kopf, habe ich tatsächlich einen Satz gesagt, der in etwa lautete „die Serben sind noch größere Opfer als die Juden“.
Von den deutschen Medien später darauf angesprochen, konnte ich nicht glauben, eine derartige Dummheit tatsächlich ausgesprochen zu haben – zumal diese Dummheit überhaupt nicht zu meinem Gefühl im Moment des auf Französisch vor der Kamera abgegebenen Statements passte. Ungläubig hörte ich das Tonband an – und, indeed, ich hatte auf lächerliche Weise die Worte verwechselt. Aber Achtung! Ich habe mich sofort schriftlich korrigiert, und die deutschen Medien haben meine Korrektur veröffentlicht – die Frankfurter Allgemeine Zeitung Wort für Wort, ohne jeden Kommentar. Die schriftliche Richtigstellung meiner Verwechslung wurde damals akzeptiert. Warum jetzt nicht mehr?
Ja, und ich war in Pozarevac, bei der Beerdigung von Slobodan Milosevic. Warum, habe ich im Focus vom 27. März 2006 erklärt: Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wusste über diesen „Schlächter“ und „zweifellos“ schuldigen „Diktator“, dem noch sein Tod zur Schuld gereichen sollte, weil er sich „vor dem Schuldspruch, ohne Zweifel lebenslänglich, weggestohlen“ habe – warum, fragte ich, bedurfte es da noch eines Gerichtes, um ihn schuldig zu sprechen?
Solche Sprache war es, die mich veranlasste zu meiner Mini-Rede in Pozarevac – in erster und letzter Linie solche Sprache, nicht eine Loyalität zu Slobodan Milosevic, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache.
Vergrößern wir die Öffnung. Dass diese Bresche niemals wieder durch verfaulte und vergiftete Wörter zugestopft wird. Böse Geister, verflüchtigt euch! Verlasst endlich die Sprache! Erlernen wir die Kunst des Befragens. Bereisen wir ein sonores Land, im Namen Jugoslawiens, im Namen eines anderen Europas. Es lebe das andere Europa. Es lebe Jugoslawien. Zivela Yugoslavija.