01.11.2002

end of sex.as we know it

Kommentar von Michael Najjar

michael najjar über seine fotoserie zur zukunft des sex.

die stimmung ist bedrückend. jedes leben ist von diesem ort verschwunden. dort wo jahrzehntelang das überschäumende angebot käuflicher lustkörper den öffentlichen raum bestimmte, herrscht nun die stille der verlassenheit. st. pauli im jahre 2024. ein mythos ist tot.

dieses zukunftsszenario wird das schicksal eines ortes sein, der in einer zeit zum mythos wurde, als öffentlicher sex in all seinen ausdrucksformen einer strikten gesellschaftlichen tabuisierung unterlag. die folgende totale verfügbarkeit und zurschaustellung von sex im öffentlichen raum verliert mit beginn des 21. jahrhunderts den reiz des verbotenen. alles-ist-erlaubt bedeutet auch alles-ist-egal. und das bedeutet auch alles-ist-langweilig.

langweilige tabledanceshows, langweilige blonde prostituiertenklone, gelangweilte prostituierte hinter glasscheiben versiegelt.

eine gegenbewegung wird einsetzen. sex als dienstleistung wird aus dem öffentlichen raum verdrängt und wieder privatisiert. und zwar in einer völlig neuen, bislang unvorstellbaren qualität. sex wird sich zukünftig dem wesen der internetkommunikation anpassen. er wird zu einem vernetzten, dynamischen, entmaterialisierten, arten- und lebensformenübergreifenden prozess.

der computer wird zum kontroll-, prozess- und steuergerät für unsere sexuellen erfahrungen. die wechselwirkung zwischen technologie und begehren wird zu einem postorganischen cyberorganismus führen, der die sexuelle erlebnisfähigkeit tausendfach potenzieren wird, weil unser wichtigstes und mächtigstes geschlechtsorgan sich verändern wird: das gehirn. der sex wird dorthin zurückgebracht, wo er entsteht: in den kopf.
damit wird die transformation von der objektorientierten (via monitorinterface) zu einer subjektorientierten kommunikation (via körper) vollzogen.
im ersten schritt dieser entwicklung werden durch externe visuell-auditive-haptische (z.b. an der wirbelsäule) virtuelle environments im kopf erzeut, die ein völlig „reales“ zusammensein mit dem sex-partner ermöglichen weschnittstellen rden. im nächsten schritt wird das gehirn direkt als interface dienen, somit wird der körper selbst zum navigationsinstrument.

damit wird dem unterschied zwischen leben und fiktion ein ende bereitet.

der ozean des begehrens weitet sich ins unendliche: wir werden den sexpartner nach unseren phantasien und wünschen selbst kreieren. das eigene geschlecht: veränderbar. das geschlecht, aussehen, charakter des sex-partners: frei wählbar.

das erleben der orgasmuserfahrung des anderen geschlechts oder beides auf einmal: kein problem. flirt, gefühle, berührungen, sensuelles feedback, erotische stimulation, stellungen, orgasmen: freie auswahl.
der sexuelle akt vollzieht sich in vom eigenen geist geschaffenen räumen und umgebungen.

der virtuelle sex wird emotionen und gefühle vermitteln, die intensiver und angenehmer als beim konventionellen sex sind, und er wird körperliche erfahrungen vermitteln, die uns heute noch unbekannt sind. die auflösung des körpers und seine rekonstruktion im virtuellen raum wird sexuelle interaktion in ungeahntem ausmaß möglich machen.
die orgie wird zum paradigma der neuen „cyberotic-welt“.

wir werden mit unserem virtuellen sex-partner so echt zusammensein, dass eine unterscheidung zwischen realem und virtuellem sex nicht mehr möglich sein wird. der virtuelle körper wird sich wiederum in eine vielfalt weiterer virtueller köper und persönlichkeiten auffächern, die sich ebenfalls in der „cyberotic-welt“ im wahrsten sinne des wortes „umhertreiben“. das führt zwangsläufig zum dauerzustand der schizophrenie. dieser wird folglich in zukunft keine mentale krankheit, sondern der geistige normalzustand sein. damit wird der reality check zur permanenten notwendigkeit.

diese entwicklung wird unsere wahrnehmungsfähigkeit dramatisch beeinflussen, und wie immer ist der sex eine der haupttriebfedern gesellschaftlicher veränderungen. da der sex selbstverständlich von seiner reproduktionstechnischen notwendigkeit – sprich fortpflanzung – getrennt wird, steht dem unendlichen „sexual-cerebral-pleasure“ nichts mehr im wege.

wer wollte da noch sein geld für skianoraktragende blondinenklons zum fenster raus- oder für gelangweilte schnellfickschaufensterpuppen zum fenster reinwerfen?

in zukunft geht es um wirkliche grenzüberschreitungen und um grenzüberschreitungen von wirklichkeit. das bedeutet das ende des sex, wie wir ihn kennen – und damit auch das ende eines wirklichen mythos.

jetzt nicht

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