01.11.2007

Emotionale Unterbelichtung

Kommentar von Jürgen Wimmer

Jürgen Wimmer über Bambi-Schock und Massenmord im Film.

Kaum etwas hat Generationen von Kindern im Kino jemals so hart getroffen wie der Bambi-Schock. Mitten in die Disney-Idylle mit den putzigen Tierchen und ihren Kulleraugen platzt der Jäger, der die Mutter der Titelfigur erschießt: endgültig, unwiderruflich, ohne Hintertürchen. Und Generationen von Eltern mussten hinterher Tränen trocknen (auch die eigenen) und den Kleinen tröstend den Kreislauf des Lebens erklären. Bambi (ewig ist’s her: 1942) war gnadenlos und konsequent. Seiner Beliebtheit tat dies nie einen Abbruch, im Gegenteil.

Das Kino des dritten Jahrtausends kennt keinen Bambi-Schock mehr. Heute würde Bambis Mutter am Ende wieder auftauchen, weil der Jäger in Wahrheit danebengeschossen hat, oder ein Zauberer macht sie wieder lebendig, oder es war einfach nur ein Missverständnis, und alles ist wieder gut. Kaum ein Filmemacher traut sich noch, einem Sympathieträger etwas wirklich Übles zustoßen zu lassen. Das wäre allzu verstörend und ist einem heutigen Publikum nicht mehr zuzumuten. Und genau deshalb sind so viele Filme eine Zumutung.

Konsequenz ist zurzeit nicht gerade die Stärke Hollywoods. Der Tod eines Helden (oder seines Freundes) lässt sich jederzeit mit irgendwelchen Tricks aufheben und ungeschehen machen. Wäre Karl May heute Drehbuchautor, mit so etwas wie Winnetou käme er nie im Leben durch. Der edelste aller Indianer wirft sich am Ende doch glatt in die Schussbahn einer Kugel, die für seinen Freund Old Shatterhand bestimmt ist. Ein Produzent würde das heute vom Script-Doktor umschreiben lassen, und dann steht Winnetou mit einer geprellten Rippe wieder auf, schüttelt sich lässig den Staub ab und klopft einen möglichst coolen Spruch (für die Teenager). Außerdem braucht man den Kerl ja noch für die nächsten Fortsetzungen.

Und was wurde nur aus den Leinwandschurken? Henry Fonda bei Sergio Leone, der war noch zum Fürchten (in Spiel mir das Lied vom Tod, 1968), schon von der Besetzung her ein Geniestreich, denn Fonda war bis dahin im Kino das personifizierte Gute. Und dann wird er eingeführt, wie er mit seinen strahlend blauen Heldenaugen einen kleinen Jungen ansieht und ihn dann in aller Seelenruhe erschießt. Da weiß jeder: Das ist ein wirklich hassenswertes Scheusal! Die heutigen Filmbösewichte sind dagegen nur noch Weicheier und Maulhelden. Gern bedienen sie sich eines furchterregenden Inventars an Schusswaffen, doch sie schießen so schlecht, dass sie mit einer Uzi aus drei Metern Entfernung keinen Wohnwagen treffen. Nicht einmal Serienkiller dürfen noch richtig widerlich sein, meist sind es Blaupausen des unsäglichen Hannibal-Lecter-Klischees: der hochintelligente Psychopath, der Kunst und klassische Musik liebt und nebenbei wildfremde Leute zum Frühstück verspeist.

„Während der Bambi-Schock ins Mark trifft, stülpen Folterpornos allenfalls den Magen um.“

Betrachten wir den Thriller Disturbia (2007): Ein Jugendlicher, richterlich zu Hausarrest verurteilt, fängt aus Langeweile an, seine Nachbarn auszuspionieren, und kommt dabei einem Serienmörder auf die Spur (ja, ganz recht, das ist im Großen und Ganzen bei Hitchcocks Das Fenster zum Hof geklaut). Zusammen mit seinem besten Freund und einer adretten Nachbarin, die gern ihre Bikinis vorführt, geht er der Sache auf den Grund. Nun ließe der Titel Disturbia vermuten, dass sich hier etwas Verstörendes ereignet. Aber die Opfer bleiben stets unpersönlich, und außerdem ist der Killer so dämlich, dass er von innen eine Blutfontäne an die Scheibe klatschen lässt, damit jeder gleich Bescheid weiß. Den spitzelnden Nachbars-Teenagern droht dagegen niemals echte Gefahr. Da ist eine Szene, wo der beste Freund des Helden scheinbar tot in einer Abstellkammer liegt. Aber das stellt sich natürlich als kleiner Scherz heraus (solche Witzchen reißt man bekanntlich gern, wenn der Schlitzer einen jagt). Immerhin, eine Gestalt darf der Killer am Ende doch noch umbringen, damit er nicht ganz so harmlos wirkt; aber das ist nur ein dümmlicher Polizist, der von Anfang an als Unsympath dargestellt wurde, und deshalb muss da auch niemand seine Emotionen investieren. Das einzig Verstörende an Disturbia bleibt seine merkwürdige Einstellung zur Privatsphäre, denn man muss kein Serienkiller sein, um spitzelnde Nachbarn zu verabscheuen.

Auf der anderen Seite hagelte es in diesem Jahr heftige Kritik an den sogenannten Folterpornos, also Horrorschockern wie Saw III und Hostel: Part II (die in Deutschland sowieso geschnitten waren). Trotz der ausführlich dargestellten Grausamkeiten ist Bambi im Grunde der härtere Film, weil der Bambi-Schock ins Mark trifft, die Folterpornos dagegen allenfalls den Magen umstülpen. Zu den Figuren, die da abgeschlachtet werden, baut das Drehbuch von Anfang an eine genügend große Distanz auf; sie werden als austauschbare Abziehbilder vorgeführt und landen nicht selten durch eigene Blödheit im Folterkeller. Hier geht es nicht darum, Geschichten zu erzählen; hier werden nur die Ekelgrenzen beim ohnehin brechreizresistenten Publikum ausgetestet. Mit mehr Anteilnahme schaut man dem Metzger beim Schweineschlachten zu.

Nur selten gestattet sich heute noch ein Filmemacher kompromisslose Unerbittlichkeit, zum Beispiel Darren Aronofsky mit Requiem for a dream (2000). Gnadenlos lässt er seine vier Hauptcharaktere im Abgrund von Sucht, Knast oder Prostitution enden, ohne ein versöhnliches „Es wird ja alles wieder gut!“ Aber damit lässt sich an der Kasse natürlich kein Geld verdienen. Das ist nicht gerade seichtes Popcorn-Kino und somit nichts, worin Werbegeld investiert würde. Denn Emotionen sind im Grunde unerwünscht, echte jedenfalls; dafür gibt es umso mehr die Instant-Gefühle zum schnellen Aufkochen, ganz wie aus der Tüte mit Nudelsuppe. Als Geschmacksverstärker dient meist ein arg manipulativer Soundtrack mit Pathos und Schmalz, der die entsprechenden Knöpfe drückt:
Jetzt gefälligst gerührt sein! Und: Angst haben, wird’s bald!? Aber kaum etwas davon glüht nach. Das sind keine Bambi-Schocks. Das ist beim Verlassen des Kinosaals schon halb verblasst und vergessen.

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