24.07.2009

Eiskaltes Herzblut up north

Von Vasile V. Poenaru

Ende Mai schnitt die kanadische Generalgouverneurin Michaëlle Jean in der fernen nördlichen Provinz Nunavut einer gerade mit ihrer Beihilfe geschlachteten Robbe das Herz heraus und ließ es sich an Ort und Stelle vor der Kamera ungeniert roh schmecken.

Das Blut wischte sie sich dann säuberlich von den Fingern weg, ganz so, als hätte sie bloß ein bisschen genascht. Als Medienmensch sei sie sich der weitreichenden Implikationen ihres Auftritts durchaus bewusst, bekundete sie später gelassen. So anschaulich kann Weltpolitik sein.

Im Namen der Königin! Oder im Namen des Premierministers? Im Namen der Robbenjäger aus entlegenen Orten, im Namen der Fallensteller aus alten Zeiten, im Namen der Verfechter eines anderen Kanada wollte Jean etwas sagen, ohne etwas zu sagen. Die Schlagzeilen ließen nicht lange auf sich warten, denn was ein kanadisches Staatsoberhaupt tut und kundgibt, ist der Öffentlichkeit ja schließlich kaum einerlei – besonders wenn dabei Blut fließt (siehe http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,627053,00.html).

„I tried the heart of the seal and it’s fresh“, so Jean. Wie aus dem Kühlschrank, könnte man fast meinen. Besser gesagt, frisch heißt ja in diesem Falle vielmehr: mit normaler Körpertemperatur. Vergammelt war das Fleisch der unmittelbar vorher in Rankin Inlet getöteten Robbe nicht. Ob das Herz womöglich sogar noch schlug, als Ihre Exzellenz demonstrativ eine Scheibe davon aß, sei hingestellt.

Eine Sache der Tradition? Des nördlichen modus operandi? Der transatlantischen Diplomatie? Oder ganz im Gegenteil himmelschreiende Gefühlslosigkeit? Angewandter Multikulturalismus: Ein Schlag auf den Kopf, Herz raus und so richtig anekeln. Die bestmögliche Lösung der Robbenfrage im Land des letzten Mohikaners als kulinarische Entscheidung. Schmeckt gut.

Hatte die Vertreterin der Queen einfach mal Appetit auf etwas blutiges Frisches? Oder wollte sie dem alten Kontinent angesichts des neulich eingeführten Robbenprodukt-Banns – auch durch ihre Jacke mit reichem Besatz aus weißem Robbenpelz – einen Denkzettel verpassen? Es möge sich ein jeder selber ausmalen, was ihre Geste zu bedeuten habe, warf Michaëlle Jean den anwesenden Journalisten eher wortkarg zu. Eine symbolische Geste, die entschlüsselt sein will.

Gut so, lautete die offizielle Robbenherzdoktrin rund um Ottawa. An Verstärkung sollte es nicht fehlen. Die konservative Regierung stand jedenfalls brav geeint hinter der Staatsschefin. Wir, die waschechten Kanadier, werden keinen Millimeter weichen – und natürlich auch keinen Kilometer, um den Ausdruck unter Wahrung kanadischer Maßstäbe gleichsam zielgerecht enstellt wiederzugeben. Herz ist Trumpf. Die Robbenfrage sei an sich keine Schuldfrage, sondern die zeitgemäße Berücksichtigung althergebrachter „Aktivitäten“ in einer ausgesprochen unwirtlichen Gegend. Überleben: Schon mal gehört? Ein messerscharfes Wort. Damit sollen u. a. Tierschutzorganisationen zurechtgewiesen werden, die nebst der kommerziellen Robbenjagd die traditionelle gleich mit verbannen wollen. Seehunde abschlachten, um zu überleben. Tausende Ureinwohner haben es schon immer so gehalten. „It is part of their way of life.“

Ein Verdacht. Weit mehr steht auf dem Spiel als das eiskalte Herzblut im Munde einer Frau, die die Königin auf dem Glatteis kanadischer Politik vertreten soll. Premierminister Stephen Harper stärkte der Generalgouverneurin bemerkenswert prompt den Rücken, und Verteidigungsminister Peter MacKay nannte sie sogar unbeirrt „Canada’s new Braveheart“. Beide waren zuvor selber „droben“ gewesen, um sich für Grund, Boden, Wasser und Robben breitzumachen. Eine Aura monumentaler Geschichtlichkeit war somit der ohnehin bereits hochgradig politisierten Angelegenheit aufgeklebt worden. Denn Überleben, das wollen, das müssen Kanadas Konservative wie kaum je zuvor. Und politisches Kapital ist heutzutage ohne hinreißende Metapher und zerschmetternde Vergleiche schwer aufzutreiben.

Einfühlungsvermögen: Darum dreht sich der Biss ins Herz der Robbe. Generalgouverneurin Michaëlle Jean wollte ihr Einfühlungsvermögen in bezug auf die Ureinwohner des kanadischen Nordens, die Inuit, unter Beweis stellen – und wohl auch in bezug auf den kommerziellen Robbenfang, denn da drückt ja jetzt der Schuh ganz besonders. Die Tierschutzorganisationen wollen natürlich ihr Einfühlungsvermögen in bezug auf die Robben selbst geltend machen, und der Premierminister will der Staatschefin Sicherheit geloben, um es mal mittelalterlich auszudrücken. Schließlich war sie es ja, die ihm Ende 2008 sozusagen als Karriereretterin freundlicherweise entgegenkam und das Parlament kurzerhand vertagte, um einem vom Regierungschef mit gutem Grund gefürchtetes Misstrauensvotum vorzubeugen. Erstaunlich, was sich so alles in den Kulissen der eiskalten kanadischen Herzkammern tut.

Weit entfernt von Ottawa wird ein Krieg der Bilder und Gegenbilder ausgetragen, ein Krieg der Wahrzeichen und Geschmacksurteile. Die politische Klasse in Kanada hat sich mit diesem Biss einer kaiserlichen Botin, nein, einer königlichen Vertreterin, mehr eingehandelt, als sie verdauen konnte. Köstliches Robbenherz? Aus dem Herzen gesprochen hat Michaëlle Jean nicht nur dem Verteidigungsminister.

„Bewundernswert“ wurde sie von Gleichgesinnten genannt. Eine Serviette, mit denen sich all die Unglücksworte behutsam wegwischen ließen, die verschiedenen hohen Tieren im Wirkungsfeld dieser Affäre entfuhren, die unseren Norden mitsamt „the northern way of life“ unwillkürlich verteidigen wollten, gibt es nicht. Zufriedenstellend? Unzufriedenstellend. Ein hypothetischer Lehrer der Heimatskunde, der Urteilskraft oder sagen wir mal eben schlechthin der angewandten Minima Moralia würde notwendig zum Schluss kommen müssen: Kanadas Spitzenpolitiker sind sitzen geblieben.

Hand aufs Herz (im übertragenen Sinne): Es fällt schwer, Pragmatismus und Populismus streng auseinander zu halten. Zwar wohnen die allermeisten Kanadier unweit der südlichen Grenze des Landes, doch man fühlt sich dem Nordpol weitgehend verbunden. Es geht hier nicht allein um ein paar tausend freilich auch an sich durchaus belangvolle Ureinwohner und um die blutigen Finger einer tatfreudigen Generalgouverneurin, sondern in erster Linie wohl auch um das tiefere Selbstverständnis einer Nation, deren Territorialansprüche und nationale Wahrzeichen von den Nato-Verbündeten bestritten werden. Die Robbenverwertungsindustrie im ehemaligen Paradies der Fallensteller macht lediglich einen Teil der Debatte aus.

Die Blutspur im Eis als PR-Event: Sie führt wo hin. Taut die Arktis auf, so wird sie durch kanadische Hochheitsgewässer verdünnt und in die vier Himmelsrichtungen getragen. Friert die Arktis zu, so erstarrt die Spur im Aufgehobensein einer überparteilich intendierten Perspektive zu einem stillen Schrei großkanadischer Unbehaglichkeit. Die Fabel vom hohen Tier und dem Seehund wird jetzt an allen Eislöchern, an allen Lagerfeuern, an allen Tankstellen und an allen Straßenecken erzählt. Ein letztes Machtwort, nein, ein Schlüsselwort: Wir sind die Leute im Norden. Wir verzehren hier seit je unser schmackhaftes Rohfleisch und tun, was wir nicht lassen können. How!

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