01.03.2003

Eine „Revolution im verteidigungspolitischen Denken“

Analyse von Kai Rogusch

Auch die Bundeswehr wird in Zukunft Präventivkriege führen – sogar im eigenen Land. Von Kai Rogusch.

Anfang diesen Jahres kaperte ein geistig verwirrter Psychologiestudent ein einmotoriges Leichtflugzeug, kreiste etwa zwei Stunden über der Frankfurter Innenstadt und drohte damit, sich in ein Hochhaus zu stürzen. Mit dem kleinen Motorsegler hätte er nicht viel anrichten konnte, allenfalls wären Fassadenschäden entstanden. Trotzdem wurden unmittelbar nach der Entführung des Seglers Nato-Dienststellen informiert. 70 Minuten später entschied das Bundesverteidigungsministerium, zwei Phantom-Flugzeuge aufsteigen zu lassen. Man wies auf das hohe Abschreckungspotenzial der Kampfflieger hin; es sei darum gegangen, Präsenz zu zeigen, obwohl „ein Abschuss nie zur Debatte stand“. Der Vorfall legte in Frankfurt zum Teil den öffentlichen Verkehr lahm. Einige Medien sprachen von der Verwundbarkeit unserer Gesellschaft angesichts drohender Terrorgefahren, an die der Segelflieger erinnert habe.

Es ist interessant, welche Ausmaße mittlerweile die bundesweite Politisierung von gesamtgesellschaftlich unbedeutenden Vorfällen angenommen hat: Die tragische Entführung und Ermordung des Bankierssohnes Jakob von Metzler im Herbst letzten Jahres, übrigens ebenfalls in Frankfurt am Main, sorgte auf höchster politischer Ebene für Diskussions- und Gesetzgebungsprozesse zur Verschärfung des Sexualstrafrechts. Der Frankfurter Segelflieger veranlasste den deutschen Verteidigungsminister, Peter Struck, zu folgender Aussage: „Ich habe den Eindruck, dass wir ohne eine Klarstellung im Grundgesetz, auch für solche Fälle, wie wir sie gerade erlebt haben, nicht auskommen.“ Zugleich sagte Struck, er fordere nicht, den Einsatz der Bundeswehr verfassungsrechtlich neu zu regeln und etwa beim Einsatz gegen gewalttätige Demonstranten zu ermöglichen.

Natürlich ließen sich die Unionsparteien hier nicht die Möglichkeit nehmen, ihr ureigenstes Politikfeld, die „innere Sicherheit“, zu besetzen. Wolfgang Schäuble, der den Phantomeinsatz in der Sache nicht kritisiert hatte, legte entsprechend nach: Rot-Grün sei an einer Grundgesetzänderung nicht gelegen. „Sie wissen, wenn sie das Problem lösen wollen, kommen sie um eine Grundgesetzänderung gar nicht herum.“ Man müsse anerkennen, dass seit Ende des Kalten Krieges die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwömmen. Hier gehe es darum, mit einer Grundgesetzänderung Vorsorge zu treffen, nicht mehr und nicht weniger. Auch der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber empfahl, im Rahmen eines „umfassenden Konzeptes der inneren Sicherheit“ und angesichts der „Komplexität der Gefahrenlage“ das Grundgesetz zu ändern: Wo bislang der Einsatz der Bundeswehr im Innern nur in eng umgrenzten Fällen des Katastrophenschutzes, bedeutender Unglücksfälle oder des inneren Notstandes erlaubt ist, solle nun der „neues Sicherheitslage“ Rechnung getragen werden. Neben der Sicherung des Luftraumes solle der Bundeswehr auch der Schutz ziviler Objekte obliegen; dazu gehören etwa Flughäfen und Botschaftsgebäude, auch Wasserwege sind im Gespräch. Die Koalitionsfraktionen sind sich über diese Vorschläge zum Teil noch uneins.

„Das politische Brimborium um den Frankfurter Segelflieger zeigt, dass es weniger um vernünftige politische Sacherwägungen geht als um das Beleben und zeitgleiche Befrieden der Ängste einer zunehmend verunsicherten Wählerschaft.”

An der durch den Segelflieger verursachten politischen Dynamik erkennt man sehr gut, wie in Zeiten der Orientierungslosigkeit visionslose Politiker auch bei unbedeutenden Vorfällen einem diffusen Bedürfnis nach Sicherheit entgegenkommen wollen. Zwar hat sich in den letzten zehn Jahren nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Sicherheitslage tatsächlich verändert. Wenn Staaten im ehemaligen Ostblock zerfallen und der Nahe Osten in Unruhe ist, ändern sich auch die Verteidigungsdoktrinen und die Bedrohungsszenarien. Dennoch zeigt das politische Brimborium um den Segelflieger, dass es hier weniger um vernünftige politische Sacherwägungen geht als um das Beleben und zeitgleiche Befrieden der Ängste einer zunehmend verunsicherten Wählerschaft. Parallelen dazu gibt es beim ständig sich neu herausbildenden parteiübergreifenden Konsens, durch Verschärfungen straf- und polizeirechtlicher Maßnahmen den verunsicherten Bürger zu schützen. An dem Wettbewerb um das Wahlkampfthema Sicherheit nehmen nicht nur die konservativen Parteien teil. Die gesamte Politik wendet sich eher einem subjektiven Empfinden innerer Unsicherheit zu als den objektiven Daten der Kriminalstatistik. Die zahlreichen Militärinterventionen der letzten Jahre haben das Streben der Politik nach umfassender Sicherheit auch in der Außen- und Militärpolitik offenbart. Besonders die Verknüpfung der Doktrin der humanitären Intervention mit dem Begriff der Konfliktprävention zeigt, wie westliche Politiker versuchen, den Verlust alter sinnstiftender Orientierungen zu kompensieren.

Überall dabei

Die Vorschläge der Unionsparteien zum Einsatz der Bundeswehr im Innern sind nur das jüngste Beispiel für die fortlaufenden Kompetenzerweiterungen der Armee, mit denen die Politik versucht, zum einen dem Bedürfnis der Bürger nach umfassender Sicherheitsvorsorge entgegenzukommen. Zum anderen hat sich gerade in den letzten Jahren das Bestreben westlicher Politiker verstärkt, durch Interventionen in Konfliktherden eine neue Mission zu finden. Neben dem Auftrag der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland und des Bündnisgebietes der NATO beschränkte sich der Aktionsradius bis zur Zeitenwende 1989 auf humanitäre Hilfen für Erdbebenopfer oder Hungernde.

Seit der Wiedervereinigung 1990 hat sich das Aufgabenspektrum unter dem Banner der Risikovorsorge und Konfliktprävention explosionsartig erweitert: Die Bundeswehr beteiligte sich 1999 an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien, kämpft Seite an Seite mit einer multinationalen Truppe im Rahmen von „Enduring Freedom“ in Afghanistan und wirkt an so genannten friedenserhaltenden Maßnahmen im Kosovo, Bosnien und Mazedonien zum Teil federführend mit. Deutschland ist heute weltweit nach den USA der größte Truppensteller für internationale Einsätze: Auf dem Balkan sind etwa 7000 deutsche Soldaten stationiert, im Februar diesen Jahres wurde das deutsche Kontingent in Afghanistan auf bis zu 2500 Soldaten verstärkt. Die seit den 90er-Jahren zunehmenden Interventionen in die Belange anderer Länder wurden allesamt im Rahmen internationaler Allianzen wie NATO, UNO oder EU betrieben. 1999 erweiterte die NATO mit einer Neudefinition kurzerhand ihr Operationsgebiet: Danach fühlt sie sich auch für die Randzonen des euroatlantischen Raums verantwortlich. Auch die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) sieht ihre Aufgabe nicht bloß darin, das Territorium der Europäischen Union zu verteidigen.

„Deutschland ist heute weltweit nach den USA der größte Truppensteller für internationale Einsätze.”

Operationen über Raum und Zeit

Die Terroranschläge des 11. September haben den allgemeinen Eindruck verstärkt, wir lebten in einer Zeit noch nie da gewesener Risiken, die uns überall und zu jedem möglichen Zeitraum treffen können. Ebenfalls in Übereinstimmung mit der so genannten Bush-Doktrin geht Peter Struck davon aus, dass „nicht mehr starke, sondern schwache Staaten, nichtstaatliche Akteure und asymmetrische Bedrohungen“ uns beschäftigten werden. Eine umfassende Sicherheitsvorsorge sei deshalb nötig. Dieses Denken ist nicht ganz neu: So hatte etwa Bundesinnenminister Otto Schily schon Ende 1998 seine Sicherheitsstrategien für das 21. Jahrhundert vorgestellt, welche die Zusammenarbeit sämtlicher staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen mit dem Bürger vorsahen – mit dem Ziel, sich den vielfältigen Wurzeln kriminellen Verhaltens zuzuwenden. Schily hat sich vor kurzem mit dem Vorsitzenden des amerikanischen „Department for Homeland Security“ auf eine intensive Zusammenarbeit verständigt. Es ist daher nur konsequent, dass Verteidigungsminister Struck in seinen anstehenden Verteidigungspolitischen Richtlinien auch auf Überlegungen zum Einsatz der Bundeswehr im Innern eingehen möchte.

So findet auch die Transformation der NATO in ein globales Interventionsbündnis die uneingeschränkte Zustimmung Peter Strucks. Die für spätestens Oktober 2006 anvisierte Nato-Response-Force (NRF) soll den komplexen Bedrohungen überall begegnen, wo immer sie ihren Ursprung haben. Struck sieht die NRF als einen „zentralen Baustein für die Bedeutung der NATO in der gemeinsamen euroatlantischen Sicherheitsvorsorge“. Die NATO solle künftig „Gefährdungen für das Bündnisgebiet und für unsere Bevölkerung auf Distanz halten“.

Längst fasst auch die Bundeswehr künftige Präventivkriege ins Auge. Sicherheitsfachleute meinen, das verteidigungspolitische Denken der Bundesrepublik Deutschland unterlaufe derzeit eine Revolution. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, spricht von einer Umdefinition des Begriffes der Verteidigung, wobei mit dem Wegfall der territorialen Begrenzung sich das Problem der Klarheit der Begriffe stelle: „Das, was wir in Afghanistan tun, dient auch der Verteidigung unserer Souveränität, unserer Ordnung und all dieser Dinge, die wir bisher in den Begriff Verteidigung untergebracht haben.“[1] Laut FAZ steht die Bundesrepublik Deutschland vor einer „neuen Epoche der Sicherheitspolitik“.

Im Zeitalter des Interventionismus muten Dinge wie parlamentarische Mitbestimmung, rechtsstaatliche Klarheit und innerstaatliche sowie völkerrechtliche Normen wie ein Anachronismus an. Skrupel gegenüber dem Militärischen schwinden. Auch die FDP ist für ein Entsendegesetz: Damit wird der Grundsatz relativiert, wonach über jeden anstehenden Einsatz der Bundeswehr eine Entscheidung des Bundestages herbeigeführt werden soll. Militärische Einsätze, die künftig weit über den traditionellen Auftrag der Verteidigung des Bündnisgebietes hinausgehen, werden so zu einer administrativen Routine, und das unter Umgehung der deutschen Verfassung, der Nato-Charta sowie der UN-Charta.

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