01.09.2000

Eine beeindruckende Solidarleistung

Analyse von Vera Lengsfeld

Vor zehn Jahren wurde die deutsche Wiedervereinigung besiegelt. Vera Lengsfeld rechnet, vergleicht und stellt fest: So schlecht, wie allgemein beschrieen, sieht es mit der Wirtschaft im Osten nicht aus.

Wider alle düsteren Beschreibungen und Prognosen: Der Aufbau Ost ist nicht gescheitert. Seit 1990 sind immense Leistungen vollbracht worden. Insgesamt summieren sich die Transfers aus dem Westen, also die über die öffentlichen Kassen oder die Sozialversicherung vermittelten Finanzen, auf weit über 1.400 Milliarden DM. Allein 1999 beliefen sich die Transferleistungen auf 195 Mrd. DM. Zwar wird der Osten Deutschlands auch in den kommenden Jahren auf hohe finanzielle Zuschüsse aus dem Westen angewiesen bleiben, gleichwohl zählt der Aufbau Ost zu den beeindruckendsten Solidarleistungen des 20. Jahrhunderts. Die neuen Bundesländer sind sichtbar aufgeblüht. Wer das nicht sehen will, ist blind – oder sehr vergesslich.

Die Bevölkerung hat heute einen Lebensstandard, der in der sozialistischen Mangelwirtschaft nicht vorstellbar gewesen wäre. Kurz nach der Währungsumstellung verdienten Arbeiter und Angestellte in der Industrie der neuen Bundesländer durchschnittlich 1.393 DM im Monat, Arbeiter und Angestellte in den alten Bundesländern durchschnittlich 3.983 DM. Seitdem ist das verfügbare Einkommen in den neuen Bundesländer deutlich angestiegen: 1999 lagen die ostdeutschen Bruttomonatsverdienste bei gut 75 Prozent des westdeutschen Niveaus. Dem Verfall von Wohnraum und Infrastruktur ist Einhalt geboten, die Erneuerung mit großem staatlichen und privatem Aufwand vorgenommen worden. Die ökologische Lebensgrundlage, in der DDR unerträglich beeinträchtigt, wird wiederhergestellt. Die marktwirtschaftlichen Institutionen sind in den neuen Ländern fest etabliert.

Zwar stehen Erfolge neben Misserfolgen. Doch ist die Erneuerung der Wirtschaft im Osten Deutschlands weit vorangekommen. An die Stelle der zusammengebrochenen Produktionsstrukturen sind Unternehmen gerückt, die sich im Wettbewerb bewähren und an den Weltmärkten orientieren. Der Strukturwandel ist noch lange nicht abgeschlossen, die sektoralen Wachstumsraten sind sehr unterschiedlich. Doch das Bruttoanlagevermögen der gewerblichen Wirtschaft ist weitgehend modernisiert: Es besteht inzwischen schon zu mehr als 80 Prozent aus Anlagen, die nach 1990 errichtet worden sind. Ein privater Unternehmenssektor ist verankert. Es gibt etwa 500.000 den Industrie- und Handelskammern zugehörige Unternehmen; damit erreicht die Dichte der IHK-Unternehmen im Osten bereits vier Fünftel des westdeutschen Wertes. Und in großem Umfang ist unternehmerisches Potenzial aus dem Osten selbst aktiviert: Rund vier Fünftel der Betriebe des Produzierenden Gewerbes haben ostdeutsche Mehrheitseigentümer; in den neuen Bundesländern gibt es gut eine halbe Million Selbständige.

Seit der Vereinigung sind die Lohnstückkosten gesunken: 1998 lagen sie im Osten nur noch um 24 Prozent, 1991 dagegen mehr als 50 Prozent über dem westdeutschen Niveau. Die Arbeitskosten im Osten – gemessen am Bruttoeinkommen je Arbeitnehmerstunde – liegen bei 69 Prozent des westdeutschen Niveaus; 1991 lag dieser Wert noch bei rund 49 Prozent.

“Staatliche Förderprogramme sind wichtig, aber sie sind kein Allheilmittel.”

Im gleichen Zeitraum stieg die Produktivität von knapp 33 Prozent des Westdurchschnitts auf nunmehr fast 60 Prozent. Sie wird aber, so sagen die Prognosen, bis 2010 kaum über 65 Prozent des Westniveaus steigen. Der Osten Deutschlands wird in Zukunft gleichwohl einen stabilen, wettbewerbsfähigen Wirtschaftssektor haben. Doch muss die Nachhaltigkeit der Dynamik sichergestellt werden. Denn das Wachstum 2000 ist das niedrigste seit 1990. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts wird in diesem Jahr im Osten bei rund 2,5 Prozent liegen und zumindest nicht höher sein als in Westdeutschland. Auch ist nicht sicher, ob der gesunde Wirtschaftssektor in absehbarerer Zeit groß genug sein wird, alle Beschäftigungswünsche zu erfüllen. Der private Kapitalstock liegt im Osten ohnehin weit unter dem im Westen. Das wirtschaftliche Potenzial muss demnach ausgebaut werden. Dafür sind die staatlichen Förderprogramme wichtig, sie sind aber kein Allheilmittel. Der Staat muss sich auf die Herstellung optimaler Rahmenbedingungen konzentrieren. Entscheidend ist die Stärkung der unternehmerischen Initiative.

Mittlerweile ist die Quote der Erwerbstätigen im Westen und Osten beinahe gleich groß und liegt bei etwa 60 Prozent. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern höher als im Westen. Der zweite Arbeitsmarkt wird dieses Problem nicht lösen. Die neueste Studie (8/2000) des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle belegt, dass die Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen (ABM) selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäftigung sind. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass sich die Beschäftigungschancen verschlechtern und Maßnahmeteilnehmer ihre Suchbemühungen reduzieren. Und am bedenklichsten ist: Reguläre Arbeitsplätze werden durch subventionierte verdrängt. Zudem sind arbeitsmarktpolitische Aktivitäten teurer als die Verwaltung der Arbeitslosigkeit. Diese Mittel wären für Investitionen besser eingesetzt. Und weil Arbeitsmarktpolitik nicht flächendeckend durchgeführt werden kann, ist sie ungerecht.

Die ABM kaschieren viel, der Druck wird gemildert, die Probleme werden aber nicht gelöst. Rentable Arbeitsplätze müssen geschaffen werden, alles andere ist wirtschaftspolitisch nebensächlich. Neue Arbeitsplätze entstehen jedoch nur, wenn mehr Firmen wettbewerbsfähig werden. Die Lohn- und die staatliche Wirtschaftspolitik müssen sich hierauf konzentrieren .

“Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen sind selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäftigung”

Es wurden bei der Vereinigung Fehler gemacht. Der größte Fehler war, die Eröffnungsbilanz zu verschönen. Die Bevölkerung in Ost und West wurde mit dem Ausmaß des wirtschaftlichen Bankrotts, der ökonomischen und sozialen Verwüstung, die das SED-Regime hinterlassen hatte, nicht ernsthaft konfrontiert. Das wiederum gab der in PDS umbenannten SED bald die Möglichkeit, die flächendeckende Neustrukturierung der alten Wirtschaftsstrukturen, die daraus resultierende Arbeitslosigkeit, die Probleme der in Unselbständigkeit gehaltenen Menschen mit der offenen Gesellschaft zu Fehlern der Vereinigung zu erklären. Noch heute bedient die PDS auf kommunaler Ebene populistisch solche Haltungen und Emotionen. Fakt ist jedoch: Die DDR ist zwangsläufig untergegangen. Die Wirtschaftsdaten sprechen für sich: Schon Ende 1981 bahnte sich ein Kreditstopp westlicher Banken für die DDR an. Die Investitionseffizienz halbierte sich im kurzen Zeitraum von 1981 bis 1984. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es kein reales Wirtschaftswachstum mehr. Die Innovationsschwäche der DDR war evident. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit verschlechterte sich rapide. Der Versuch, die Mikroelektronik weltmarktfähig zu entwickeln, scheiterte völlig. Der im Jahre 1988 von der DDR mit viel propagandistischem Brimborium gefeierte 256-Kilobit-Chip kostete 534 DDR-Mark je Stück, auf dem Weltmarkt war er für 2 Dollar zu bekommen. Starke Importdrosselungen schränkten den Lebensstandard der Bevölkerung immer merklicher ein. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf stieg nach 1985 nur noch unwesentlich an und fiel bis 1989 relativ zum bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auf 33 Prozent. Im April 1988 forderte der SED-Planungschef Gerhard Schürer eine Senkung des Lebensstandards. Im Laufe des Jahres 1989 verschlechterte sich die Lage sichtbar. Schürer prognostizierte im Mai 1989 – selbstredend intern – die Zahlungsunfähigkeit der DDR für 1991.

Der Verschleißgrad in sensiblen Bereichen der Industrie, so schätzte das MfS im Oktober ein, lag bei 50 Prozent, bei landwirtschaftlichen Anlagen bei 65 Prozent. Am 27. Oktober 1989 trug Generalleutnant Kleine, Leiter der MfS-Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft), seinen Abteilungsleitern eine Krisen-Analyse vor. Nach seiner Einschätzung wären mindestens 500 Milliarden erforderlich gewesen, um den Anschluss an die westlichen Länder auf dem Gebiet der industriellen Produktion nicht zu verlieren. Dies hätte zwei vollen jährlichen Nationaleinkommen der DDR entsprochen.

“Der Untergang des DDR-Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands waren revolutionäre Vorgänge.”

Nach dem Sturz Honeckers im Oktober 1989 hatte das SED-Politbüro Schürer beauftragt, eine Analyse der wirtschaftlichen Lage der DDR für den neuen SED-Generalsekretär Egon Krenz anzufertigen. In einem dem Politbüro am 30. Oktober 1989 vorgelegten Papier schrieb Schürer: “... in solchen Städten wie Leipzig, und besonders in Mittelstädten wie Görlitz u.a. gibt es Tausende von Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind… Die Feststellung, dass wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält einer strengen Prüfung nicht stand… Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40% hinter der BRD zurück.” Und: “Allein das Stoppen der Verschuldung gegenüber dem NSW [dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet] würde”, so Schürer das Jahr 1990 prognostizierend, “eine Senkung des Lebensstandards um 25-30 % erfordern und die DDR unregierbar machen.”

Der Untergang des DDR-Kommunismus und die Wiedervereinigung Deutschlands waren revolutionäre Vorgänge. Der “Phantomschmerz”, wie Martin Walser die deutsche Teilung nannte, ist 1989 gewichen. In zwölf Monaten war hinweggefegt, was bis dahin zu den “unverrückbaren” Wahrheiten der veröffentlichten Meinung in Deutschland gehört hatte.

Eine Bewegung, die sich die Losung “Wir sind ein Volk!” auf die Fahnen schrieb, musste aber auf die meinungsbildenden Geschichtsphilosophen der alten BRD verstörend wirken, denn die “Realität anerkennen” bedeutete schon seit den siebziger Jahren immer häufiger, die Teilung Deutschlands zu akzeptieren. Die Wiedervereinigung galt Sozialdemokraten als “Illusion” (Egon Bahr), als “Mythos” (Walter Momper), als “Gefahr für den Frieden” (Peter Glotz) und als “Lebenslüge” der Bonner Republik (Willy Brandt). CDU-“Vordenker” Heiner Geißler wollte 1988 die “Wiedervereinigung” sogar als Zielbestimmung aus dem Grundsatzprogramm der CDU streichen lassen. Antje Vollmer (B’90/Grüne) sagte noch am 8. November 1989: “Dabei ist die Rede von der Wiedervereinigung – das ist mit jetzt sehr wichtig – historisch überholter denn je.”

Folglich gab es Widerstände gegen die Vereinigung in Freiheit. Der Osten hatte zu büßen, um meinungsführenden Intellektuellen aus dem linken und links-liberalen Spektrum im Westen und DDR-Nostalgikern im Osten ein reines Gewissen gegenüber der nationalen Geschichte zu verschaffen. Gewarnt wurde vor einem “4. Reich”, einem neuen “Großdeutschland”, polemisiert wurde gegen einen “Anschluss” der DDR. Nach Auschwitz, so Günther Grass, hätten die Deutschen die Einheit nicht mehr verdient.

Doch Grass und seine Mitstreiter standen 1989 jenseits der Geschichte. Joschka Fischer sagte eine Woche nach der Maueröffnung: “Die Geschichte ist in unseren bundesrepublikanischen Alltag eingebrochen.” Er traf den Kern des Problems: Die Normativität des Faktischen hatte über die Ideologie gesiegt. Heute soll die Rede von einer “gescheiterten inneren Einheit” die historische Niederlage der 68er-Intellektuellen verdecken. Doch von ewiggestrigen Miesmachern in Ost und West können wir uns nicht aufhalten lassen.

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