01.11.2007
Ein gutes Gesundheitswesen muss man wollen
Analyse von Sabine Reul
Sabine Reul über uninspirierte und wenig zielgerichtete gesundheitspolitische Debatten.
Die Gewundenheit politischer Reformpfade ist gelegentlich frappierend. In den USA hat man zu Beginn der 70er-Jahre die sozialstaatsorientierten Grundsätze des Gesundheitswesens, die noch 1965 bei der Gründung der staatlichen Gesundheitsprogramme Medicare und Medicaid für Rentner, Arme und deren Kinder, Behinderte und Erwerbslose Pate standen, durch die Einführung marktorientierter Versorgungsformen zurückgedrängt. Diese unterwarfen die Erbringer von Gesundheitsleistungen quasi-marktwirtschaftlichen und dirigistischen Kostensenkungsvorgaben. Jenseits des Atlantiks hat man also schon damals das getan, was man nun in Deutschland mit der aktuellen Gesundheitsreform tut – just in dem Moment, in dem das Pendel in der US-Gesundheitspolitik zur anderen Seite ausschlägt, weil das System kollabiert.
Mehr als 47 Mio. Amerikaner (ca. 16 Prozent der Bevölkerung) sind zurzeit – zumindest vorübergehend – nicht krankenversichert. [1] Dazu zählen immer mehr Beschäftigte, die zwar zu viel verdienen, um staatliche Medicaid-Leistungen in Anspruch nehmen zu können, deren Arbeitgeber aber die hohen Beiträge zur Krankenversicherung nicht zahlen wollen. Das heißt für Menschen am unteren Ende der Wohlstandspyramide konkret: entweder 300 Dollar für das Insulin aus eigener Tasche bezahlen oder die Miete. Laut Umfragen sagen inzwischen 37 Prozent der erwachsenen Amerikaner, dass sie aus Kostengründen nicht die medizinische Behandlung erhalten, die sie eigentlich bräuchten. [2]
Trotzdem – oder vielleicht eben deshalb – haben die USA das teuerste Gesundheitswesen der Welt. Mit 6410 Euro hat Amerika die höchsten Gesundheitskosten pro Kopf; hier liegt Deutschland mit 3628 Euro auf Rang zehn. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt beträgt in den USA 15,3 Prozent, in Deutschland 10,7 Prozent. [3] Dass das amerikanische Gesundheitssystem durchaus nicht kosteneffizient ist, liegt u.a. daran, dass Versorgungsmängel letztlich höhere Kosten verursachen. Die Behandlung unversicherter Patienten, die den Arzt und Medikamente nicht bezahlen können, sondern in der Ambulanz oder Notaufnahme erscheinen, wenn es fast schon zu spät ist, ist eben nicht nur menschlich und medizinisch defizitär, sondern auch kostenintensiv.
Deshalb fordern viele US-Politiker jetzt die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht, und das Thema wird voraussichtlich im Präsidentschaftswahlkampf 2008 eine große Rolle spielen. Eine breite Kampagne, der neben Patientenorganisationen, Gewerkschaften, Ärzteverbänden, Krankenhäusern und Versicherungsunternehmen auch die pharmazeutische Industrie und andere Unternehmerverbände angehören, plädiert für die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf mindestens die Hälfte der derzeit 47 Mio. unversicherten Amerikaner.
Dabei blickt man anerkennend auf das deutsche Gesundheitssystem mit seinem fast universellen Versicherungsschutz, wie es jüngst Ulla Schmidt erlebte, deren Vortrag zur deutschen Gesundheitsreform an der Universität von Minneapolis mit anhaltendem Ovationen belohnt wurde. Begeistert war das Auditorium indes wohl weniger vom „Wettbewerbsstärkungsgesetz für die Gesetzliche Krankenversicherung“ (GKV-WSG) als solchem, das selbst in Deutschland nur die wenigsten verstehen. Auch war wahrscheinlich unbekannt, dass die in Deutschland vorgesehene Verpflichtung aller Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung hierzulande ohnehin nur ca. 300.000 relativ gut situierte Selbstständige und wohlhabende Bürger betrifft, die auf eine Versicherung verzichten zu können meinen. Den Zuhörern gefiel einfach, dass die Ministerin die universelle Krankenversicherung als ein „Menschenrecht“ bezeichnete, eine Wohlfühlvokabel, die bei Amerikanern, die sich über die Mängel ihres Gesundheitssystems Sorgen machen, gut ankam.
Der Hintergrund der Reformbestrebungen in den USA ist vielschichtig und bietet interessante Aufschlüsse über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen und amerikanischen Gesundheitssysteme. Eine breite Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung wünscht eine bessere Versorgung für bislang Unversicherte, nicht zuletzt, weil das Problem auch die Mittelschichten betrifft. Aber es geht auch um einen komplexen Verteilungskampf zwischen Arbeitgebern, die über hohe Versicherungsbeiträge klagen, und der Bundesregierung und den Einzelstaaten, die die steigenden Kosten der staatlichen Programme und der Behandlung unversicherter Patienten eindämmen möchten. Schon haben die Einzelstaaten die Initiative ergriffen: Kalifornien und Massachusetts wollen Steuerkredite für Versicherungsbeiträge einführen oder die Beiträge direkt subventionieren, damit mehr Menschen eine private Versicherung abschließen können, während man in Maryland Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter nicht versichern, zur Einzahlung von acht Prozent der jährlichen Gehaltssumme in einen Krankenversicherungsfonds verpflichten will.
Das US-Gesundheitssystem war im Unterschied zum deutschen immer ein stark in Richtung privater Vorsorge gewichteter Kompromiss zwischen Markt und staatlicher Sozialversorgung. Private Versicherungen und Selbstzahler decken in den USA mehr als 55 Prozent der Ausgaben – in Deutschland sind es nur 21 Prozent.[4] Dass das System so schlecht funktioniert, sollte daher hierzulande all jenen zu denken geben, die sich von einem irgendwie marktgängigeren Gesundheitswesen automatische Effizienzgewinne versprechen.
Aber das US-System hat durchaus seine guten Seiten. In den USA erzielen Pharmaunternehmen für ihre Produkte die weltweit höchsten Preise. Effektiv subventionieren die Amerikaner daher die globale medizinische Forschung und Entwicklung, was für sie zwar ungerecht sein mag, für den Rest von uns aber ein Segen ist. Auch die amerikanischen Health Maintenance Organizations (HMO), privatwirtschaftlich organisiert und oft Versicherer und medizinische Versorgungsunternehmen in einem, sind so schlecht nicht, denn sie ersparen Patienten endlose Praxiswanderungen und Mehrfachuntersuchungen, da sie Allgemein- und Fachärzte nebst zugehörigen Geräten unter einem Dach vereinen. Was die innovative Vernetzung privater und öffentlicher Anbieter angeht, hat Amerika Deutschland sicher einiges voraus.
Die Finanzierung einer guten medizinischen Versorgung für alle ist ein ganz anderes Thema – und da sind sich Deutschland und die USA trotz aller Unterschiede im Kern doch ähnlicher, als man denkt. Amerika erlebte in der Phase ungebremsten Wachstums in den 60er-Jahren einen kurzen Moment des Vertrauens in die Möglichkeit, allen Menschen ein gutes Leben sichern zu können, und nahm mit der Gründung von Medicare und Medicaid einen Schritt in Richtung einer staatlich garantierten Gesundheitsversorgung. Dieser Moment ist lange vorbei, und seither dreht sich alles um das Zurückfahren solch hoher Erwartungen. Bei uns ist die sozialstaatliche Ausrichtung des Gesundheitswesens aus historischen Gründen ein zentraler Aspekt der Sozialordnung. Wenn auch zeitlich verzögert, wird aber auch in Deutschland seit den 90er-Jahren der Anspruch, allen die Gesundheitsversorgung zu bieten, die die moderne Medizin ermöglicht, durch sukzessive „Reformen“ zurückgeschraubt.
Ideologisch geprägt ist der Prozess des Zurückfahrens gesellschaftlicher Erwartungen hierzulande nicht von der puritanischen Selbstversorgermentalität, die für die USA bislang prägend war, sondern von den geistigen Strömungen der 90er-Jahre: der Globalisierungsangst und den auf ihr fußenden Standortdebatten. Niedrige Erwartungen an die Leistungskraft der Wirtschaft und an die Innovations- und Selbstorganisationskräfte des Gesundheitssektors und seiner Leistungsträger bestimmen hier die Einstimmung der Gesellschaft auf Rationierung, Regulierung und Mangelwirtschaft.
Seit den 90er-Jahren beherrscht hier das Dogma der Lohnnebenkostensenkung jede Debatte über das Gesundheitssystem. Dessen Irrationalität zeigt sich nicht nur daran, dass das GKV-WSG nach Auskunft aller informierten Beobachter eine weitere Steigerung der Kassenbeiträge nach sich ziehen wird. Angesehene Wirtschaftsexperten halten die Bedeutung der Lohnnebenkosten für das Wirtschaftswachstum zudem für eher unerheblich. So kam eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schon in den 90er-Jahren zu dem Ergebnis, dass eine Senkung der Beitragssätze zur Sozialversicherung um einen Prozentpunkt auf die Arbeitskosten je nach Branche nur einen senkenden Effekt von ca. 0,4 Prozent habe – eine für Investitionsentscheidungen vernachlässigbare Größe. [5] Außerdem gehen von höheren Gesundheitsausgaben wegen der hohen Personalintensität im Gesundheitssektor durchaus auch positive Beschäftigungseffekte aus.
Den Arbeitsmarkt und das Wirtschaftswachstum durch Senkung der Lohnnebenkosten ankurbeln zu wollen, ist daher eine fragliche Strategie. Eine Senkung der Lohnnebenkosten bewirkt besten- (oder, wie man’s nimmt, schlimmsten-)falls eine Neuverteilung der BIP-Anteile zulasten des Faktors Arbeit (also der Normalbürger). Ob das dann tatsächlich dem Faktor Kapital zugute kommt oder die so geschaffenen Finanzierungslücken im Gesundheitswesen dann wieder über Steuererhöhungen aufgefangen werden (wie konkret jetzt schon von Finanzminister Steinbrück für 2008 angekündigt), ist dabei offen. Im Übrigen liegt Deutschland bei den Lohnkosten ohnehin im Mittelfeld der OECD-Länder und bei der prozentualen Veränderung mit +1,1 Prozent 2005–2006 auf dem letzten Platz; gleichzeitig ist die Lohnquote hierzulande seit 1979 von damals 73 Prozent auf unter 65 Prozent im ersten Quartal 2007 gesunken. [6]
Aus Sicht der Patienten sieht der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem deutschen System aktuell in etwa so aus: Dort weiß ich, dass ich mir eine Physiotherapie für den kaputten Rücken nicht leisten kann, und gehe gar nicht erst zum Arzt. Hier gehe ich und erfahre, dass das Praxisbudget die Verordnung der Behandlung nicht mehr gestattet, und zahle selbst oder lege mich unverrichteter Dinge ins Bett.
Das Problem ist überall das gleiche: Eine gute Gesundheitsversorgung ist etwas, was die Gesellschaft wollen muss. Will sie es und stellt die entsprechenden Ressourcen dafür bereit, kann der Gesundheitssektor seine zivilisatorischen Potenziale entfalten, nicht nur, was die Gesundheit und Versorgungssicherheit der Menschen betrifft, sondern auch in Hinblick auf Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Produktivität, an denen private Anbieter am Gesundheitsmarkt ebenso mitwirken wie öffentliche Leistungsträger. Will sie es nicht, dann bekommt sie eben ein schlechtes Gesundheitssystem. Ob das dann privat oder sozialstaatlich organisiert ist, ist sekundär.