03.10.2019

Ein Aufklärer im Dienste von Freiheit und Demokratie

Von Sascha Tamm

Titelbild

Foto: Fotocitizen via Pixabay / CC0

Heute wäre James M. Buchanan 100 Jahre alt geworden. Der US-amerikanische Verfassungsökonom, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat wertvolle Anregungen gegeben.

Heute werden einschneidende politische Entscheidungen in immer mehr Lebensbereichen gefordert und getroffen. Die langfristigen Folgen für die Freiheit der Menschen und die Stabilität der demokratischen Ordnung werden dabei oft ignoriert. Der große Verfassungsökonom James M. Buchanan eröffnete Alternativen zu dieser Tendenz.

Politische Entscheidungen sollten auf der Grundlage der besten verfügbaren Informationen und Theorien getroffen werden, die für das jeweilige Handlungsfeld relevant sind. So können z.B. die Erfolgsaussichten von geplanten Maßnahmen, ihre Nebenwirkungen und ihre Kosten abgeschätzt werden. Über diese allgemeine Forderung besteht eine gewisse Übereinstimmung bei vielen Teilnehmern an demokratischen Prozessen.

Oft ist in diesem Zusammenhang Kritik daran zu hören, dass Politik auf der Grundlage von schlecht oder gar nicht naturwissenschaftlich fundierten Argumenten betrieben wird. Das gilt auch – wenn auch in deutlich geringerem Maße – für die ökonomische Analyse des Maßes der Zielerreichung und die Kosten-Nutzen-Relation politischer Interventionen. Anders gesagt: Wer könnte etwas dagegen haben, dass Entscheidungen auf einer möglichst guten Wissensgrundlage getroffen werden? Wer könnte, etwas allgemeiner gesprochen, etwas gegen Aufklärung und den damit verbundenen Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ haben? Natürlich gibt es verschiedene Auffassungen von Wissenschaftlichkeit, verschiedene Interpretationen von Beobachtungen und theoretischen Zusammenhängen – aber es ist in der öffentlichen Debatte jedenfalls hilfreich, sich auf „die Wissenschaft“ berufen zu können.

„Buchanan war einer der Begründer der Public-Choice-Theorie und der Vater der modernen Verfassungsökonomik.“

Doch ein Bereich bleibt bis heute meistens ausgespart von diesem grundsätzlich richtigen aufklärerischen Impetus: Die Betrachtung der politischen Prozesse selbst aus einer genuin ökonomischen Perspektive, also aus einer Perspektive, die die Nutzenkalküle der verschiedenen Teilnehmer an diesen Prozessen analysiert. Hier herrschen in vielen Köpfen weiter Ideen, die in anderen Wissenschaften und auch in anderen Bereichen der Ökonomie einfach als naiv angesehen werden würden. Dazu gehört etwa die Vorstellung, dass Politiker und die Umsetzer politischer Entscheidungen in bürokratischen Apparaten vor allem einem abstrakten öffentlichen Interesse bzw. dem Gemeinwohl dienen würden und keine eigenen Interessen hätten und nach ihnen handelten.

Das erschien James M. Buchanan, dessen Geburtstag sich am 3. Oktober zum hundertsten Mal jährt, nicht plausibel. Er äußerte über seine gesamte Laufbahn hinweg immer wieder sein Erstaunen darüber, dass vor ihm die Frage nach den individuellen Präferenzen und Nutzenkalkülen der Beteiligten am politischen Prozess nur wenig gestellt und erst recht nicht systematisch beantwortet wurde. Eine weitere Motivation für seine Arbeit waren Entwicklungen in westlichen Demokratien, die immer weiter weg vom Ideal eines auf seine notwendigen Aufgaben beschränkten Staates hin zu einer steigenden Steuerlast und zu wachsender Staatsverschuldung führten. Buchanan fragte danach, wie es in einer Demokratie wie der US-amerikanischen dazu kommen konnte, dass Menschen gegen ihre eigenen langfristigen Interessen handelten und immer mehr von ihrer individuellen Freiheit aufgaben. Die Reflexion darüber, welche Interessen Politiker, Angehörige des öffentlichen Dienstes und Wähler bei ihren Handlungen verfolgen, ist eine unverzichtbare Analyseebene, wenn die Menschen dem Anspruch gerecht werden wollen, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Wenn sie langfristig in einem Gemeinwesen leben wollen, das ihren Interessen entspricht und ihre Freiheit bewahrt, sollten sie verstehen, wie Entscheidungsprozesse funktionieren und welche langfristigen Folgen mit ihren Entscheidungen verbunden sind.

Buchanan war einer der Begründer der Public-Choice-Theorie und der Vater der modernen Verfassungsökonomik. Ihm und den Ökonomen, die von seiner Arbeit inspiriert wurden, verdanken wir, dass es heute sowohl das Instrumentarium für die ökonomische Analyse politischer Entscheidungsprozesse als auch für die Erarbeitung von Vorschlägen für Regeln und weitere institutionelle Arrangements gibt, die vor Fehlentwicklungen schützen können.

„Es ging Buchanan darum, Wege aufzuzeigen, wie in komplexen politischen System die individuelle Freiheit geschützt werden kann.“

Gerade weil die öffentliche Debatte trotzdem in großen Teilen weiterhin auf einem naiven, oder wie Buchanan selbst es nannte, romantischen Politikverständnis aufbaut, lohnt es sich, seine Ideen aufzunehmen und weiterzuverfolgen. Wie notwendig das ist, wird schnell und eindringlich deutlich, wenn Politiker und Aktivisten bei der Verfolgung von bestimmten, als besonders wichtig eingestuften Zielen fordern, sich über bestehende Regeln hinwegzusetzen bzw. sie so auszulegen, dass ihre handlungsbeschränkende Wirkung praktisch entfällt. Beispiele dafür sind die Eurorettung oder die Klimarettung.

Auch ein anderes wichtiges Merkmal seines Denkens kann einen wichtigen Beitrag für aktuelle Debatten leisten. Buchanan war strikter methodischer und normativer Individualist. Individuen und ihre Präferenzen waren für ihn die einzig wesentliche Analyseeinheit, ihre Freiheit das Ziel jeder legitimierbaren Politik in einer Demokratie.

Wie andere Ökonomen auch wollte er neben der Erklärung von menschlichen Handlungen Vorschläge machen, die den Menschen helfen können, ihre Ziele zu erreichen. Doch er hatte einen grundlegend anderen Anspruch an dieses Ziel: Es ging ihm nicht darum, die Wohlfahrtsfunktion einer Gesellschaft zu maximieren oder bestimmte gesellschaftliche Ziele, wie immer diese auch bestimmt werden, zu erreichen. Sein Anspruch war weder, die Ziele und Interessen der Menschen kritisch zu hinterfragen, noch ihnen die Mittel in die Hand zu geben, ihre Gewinnaussichten im politischen Spiel zu maximieren. Buchanan war auch die Vorstellung fremd, Politikern eine „richtige“ Politik zu empfehlen. Das wäre ein anmaßender Eingriff in die Bestimmung von Werten und politischen Zielen, die nur den einzelnen Wählern, nicht aber Politikern oder sie beratenden Experten zusteht.

Es ging ihm vielmehr darum, Wege aufzuzeigen, wie in komplexen politischen System die individuelle Freiheit geschützt werden kann. Dazu untersuchte er die Interessen der einzelnen Teilnehmer am politischen Spiel und suchte nach Regeln, durch die nicht intendierte, negative Folgen vermieden werden können. Er beschrieb sein Programm in folgender Weise: „Unsere Regeln und unser Denken über Regeln müssen erneuert werden, mit dem Ziel, den Schaden zu begrenzen, den Regierungen anrichten können. Gleichzeitig muss der Nutzen staatlich-kollektiven Handelns erhalten bleiben. Gute Spiele hängen mehr von guten Regeln als von guten Spielern ab.“1 Damit ist ein hoher Anspruch an die Handelnden in demokratischen Systemen verbunden. Sie sollen sich nicht ausschließlich darauf konzentrieren, ihre kurzfristigen Interessen im (Umverteilungs-)Staat so gut wie möglich durchzusetzen, sondern auch darauf, ein langfristig funktionierendes Regelsystem, eine Verfassungsordnung, zu bewahren und weiterzuentwickeln.

„Nur innerhalb des von einem Verfassungsvertrag vorgegebenen Rahmens können Mehrheitsentscheidungen über politische Fragen legitim sein.“

Hier wird sichtbar, dass sich Buchanan nicht in einer Disziplin betätigte, die heute in der politischen Debatte sehr populär ist – in der Politikerschelte. Er kritisierte Politiker nicht dafür, dass sie ihren eigenen Interessen nachgehen. Er zeigte, dass und wie sie das tun. So sind Politiker daran interessiert, potentiellen Wählern möglichst spürbare Leistungen zukommen zu lassen, sie die Kosten dafür möglichst wenig spüren zu lassen. So wird vieles, das bestimmten Wählergruppen zugutekommt, nicht über meist unpopuläre Steuererhöhungen finanziert, sondern über die Aufnahme von Krediten. Die Belastungen für kommende Generationen sind erst einmal nicht entscheidungsrelevant für die Wähler, die erhaltenen Leistungen schon.

Buchanan behauptet auch nicht, dass die Bürger nicht über genügend Informationen oder Wissen verfügen oder moralisch nicht qualifiziert seien, richtige Entscheidungen zu treffen. In einem Staat mit starken Umverteilungsmechanismen ist es rational, sich den größtmöglichen Umverteilungsgewinn im politischen Spiel zu sichern. Das führt jedoch langfristig zu immer höheren Schulden sowie immer stärkeren Eingriffen in die Entscheidungsspielräume der einzelnen Menschen. Zudem werden gesellschaftliche Konflikte um die Zuteilung von Ressourcen immer intensiver.

Buchanan zeigt einen Ausweg, der jedoch nur auf der Basis von intensiver öffentlicher Debatte und einiger geistiger Anstrengung zu haben ist: langfristig wirksame Verfassungsregeln, mit denen sich die Menschen selbst binden.

Vorschläge für derartige Regeln, für einen freiheitssichernden Verfassungsvertrag waren Buchanans Angebot an die Wähler. Er schlug ihnen Regeln vor, damit kurzfristige Verteilungsinteressen nicht die Überhand über das langfristige Interesse an einer stabilen Verfassungsordnung gewinnen, die allein Freiheit und Eigentum jedes Einzelnen schützen kann. So ist er einer der Väter des Konzepts einer Schuldenbremse sowie zahlreicher Ideen, das Wachstum von Bürokratie und Staatsausgaben einzuschränken.

Entgegen einer immer wieder vorgebrachten Kritik war Buchanan nicht etwa ein Feind der Demokratie – ganz im Gegenteil. Er betonte immer wieder, dass die individuellen Interessen aller Menschen gleichwertig sind. Daraus leitete er allerdings eine radikale Bedingung für einen Verfassungsvertrag ab: eine strikte Einstimmigkeitsregel. Es muss der Maßstab für einen Zwang und Einschränkungen der Freiheit legitimierenden Vertrag sein, dass jeder einzelne ihm zustimmt. Jenseits von Praktikabilitätsfragen liefert er hier einen wichtigen freiheitlichen Kompass für politisches Handeln. Nur innerhalb des von einem Verfassungsvertrag vorgegebenen Rahmens können Mehrheitsentscheidungen über politische Fragen legitim sein.

„Es geht um eine Selbstbeschränkung des politischen Handelns zu Gunsten der individuellen Vertragsfreiheit.“

Die Interessen und Wertvorstellungen der einzelnen Menschen müssen in einem freiheitlichen Staat die alleinige Quelle politischer Entscheidungen sein, es gibt also kein „übergeordnetes“ Interesse oder keinen über den Interessen der Einzelnen stehenden Wert, der Einschränkungen der individuellen Freiheit rechtfertigen kann. Was eine „richtige“ Politik ist, können nach Buchanan nur die Wähler im Rahmen von Regeln bestimmen, die sie sich selbst gegeben haben und mit den sie sich selbst und ihren kurzfristigen Interessen Schranken setzen.

Die Bürger vieler Demokratien stehen somit im Sinne Buchanans heute vor einer großen Herausforderung. Sie müssen Verfassungsregeln verteidigen und weiterentwickeln, durch die sie sich selbst beschränken. Allerdings muss diese Selbstbeschränkung einen ganz anderen Charakter haben, als von vielen gefordert wird. Es geht nicht darum, die Produktion oder den Konsum von bestimmten Gütern zu verbieten, es geht nicht darum, die Entscheidungen der Menschen über ihre Lebensweise zu regulieren. Es geht um das genaue Gegenteil, um eine Selbstbeschränkung des politischen Handelns zu Gunsten der individuellen Vertragsfreiheit: Um Regeln, die die Menschen daran hindern, mit den Mitteln politischer Umverteilung Vorteile zu erlangen. Um Regeln, die einen Verfall von bewährten Institutionen, von Eigenverantwortung und Freiheit verhindern. Um Regeln, die jedem einzelnen Menschen so viel Freiheit garantieren, wie im Zusammenleben mit anderen möglich ist. Und schließlich um Regeln, die langfristige finanzielle Stabilität garantieren, ohne die materieller Fortschritt und Wohlstand nicht möglich sind.

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