01.11.2005

Editorial

Von Thomas Deichmann

Vor der Wahl ist nach der Wahl - Dieser Titel stand vor genau einem Jahr schon einmal auf unserem Cover (Novo73/74). Damals bezog er sich auf den Urnengang in den USA. Für die Situation hier und heute müsste man eigentlich einen Superlativ finden, denn offenbar noch zielstrebiger als zuvor forcieren die Volksvertreter seit den Bundestagswahlen ihre eigene Demontage.

Ein besseres Programm für die Steigerung der allseits monierten „Politikverdrossenheit“ hätte es nach dem 18. September kaum geben können. Der Affentanz des Ex-Kanzlers um seinen Regierungssessel wurde abgelöst von Sondierungs- und Koalitionsgesprächen, bei denen man von den herzlich wenigen Positionen, für die sich die eine oder andere Partei im Wahlkampf noch stark gemacht hatte, überhaupt nichts mehr hörte. Die Unionsparteien unterstrichen, was wir nicht nur in der letzten Novo-Ausgabe begründet prognostizierten: dass sie nämlich genauso wenig wie ihre Kontrahenten befähigt sind, so etwas wie einen „Wandel“ herbeizuführen. Die Grünen begriffen wenigstens, dass sich alle Parteien mittlerweile auf einem inhaltlichen Nullniveau eingefunden haben. Sie gaben konsequenterweise bekannt, künftig mit jedem koalieren zu wollen.


Nicht einmal ansatzweise ist es nach den Wahlen gelungen, so etwas wie eine Aufbruchstimmung zu generieren. Das Gegenteil ist der Fall. Den vorläufigen Gipfel der „politischen Auseinandersetzung“ im Deutschland nach der „Richtungswahl“ lieferte die frühzeitig begonnene „Wahlanalyse“ innerhalb der Union. Nicht die allparteiliche Inhalts- und Visionslosigkeit kam zur Sprache. Vielmehr wurden ausgerechnet nun auch noch jene Züge, die Merkel so manchem Beobachter sympathischer und aufrichtiger als Schröder erscheinen ließen, als wesentliche Gründe für das schlechte Abschneiden der CDU ausgemacht. Merkel sei es nicht gelungen, „Wärme auszustrahlen“ und „positive Emotionen“ zu wecken, diagnostizierten Vertreter der christlichen Volkstherapiefraktion. Das glitschig-clowneske „Ich liebe meine Doris“ im Wahlkampf des Ex-Kanzlers wurde hingegen als erfolgreiches Stilmittel ausgelobt.
Man fragt sich, wo all dies noch hinführen soll. Werden Parlamentarier demnächst in PrimeTime-Soaps auftreten? Einige Ministerposten (vor allem bei der SPD) scheinen schon einzig unter dem Gesichtspunkt potenzieller TV-Quotentauglichkeiten vergeben worden zu sein.
Schadlos zu ertragen ist dieses Theater für all jene, die diese Spirale der anhaltenden Degneration unserer politischen Kultur durchbrechen wollen, kaum mehr. Doch Zynismus oder gar der Rückzug ins Private sind keine Alternative. Wir bleiben beim Plädoyer unserer Wahlausgabe*: nehmen Sie die Klärung der Lage unserer Gesellschaft selbst mit in die Hand, verteidigen Sie ihre verbliebenen geistigen und materiellen Freiräume und erschließen Sie neue. Hierfür werden wir Ihnen im kommenden Jahr hoffentlich noch weitere Foren bieten können. Melden Sie sich, wenn Sie sich einklinken möchten.

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