01.03.2005

Editorial

Von Thomas Deichmann

Wellenreiter - In den Reaktionen auf die Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember offenbarte sich eine überwältigende Solidarität mit den Notleidenden und noch viel mehr der großartige Kampf der Betroffenen, dem Schicksalsschlag zu trotzen. Von diesen Potenzialen wurde allerdings nur wenig wahrgenommen, weil das Ereignis binnen kurzem von neuen Strömungen fortgerissen wurde.

So übernahmen alsbald die Warner vor modernem Wandel und technologischem Fortschritt die Wortführerschaft in den zahlreichen Diskussionen. Selbst gealterte Vertreter der frühen „Umweltbewegung“ der 70er- und 80er-Jahre wurden ausgegraben und in Talkshows als Experten zur neuerlichen Apokalypse präsentiert: der Massentourismus und der Wirtschaftsboom in Asien, der menschgemachte Klimawandel (der zwar mit dem Tsunami nichts zu tun hatte, aber sei’s drum…) und ganz allgemein die „moderne Wahnvorstellung“, man könne die „Natur beherrschen“, wurden von den grünen Alarmisten an den Pranger gestellt.
Etwas subtiler, aber in grundlegender Übereinstimmung forderten Bundespräsident Köhler und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Bischof Huber, mehr „Demut“ vor der Natur. Darunter vorstellen konnten sich aufgeklärte Beobachter zwar wenig. Kritiklos abgenickt wurden derart mystische Beschwörungen (zu denen sich der Gedanke aufdrängte, das Zuwenig an „Demut“ habe jetzt die „Rache der Natur“ herausgefordert) dennoch allerorten. Die Nähe von religiöser Frömmigkeit und deutschem Ökologismus war selten zuvor so deutlich.


Dabei zeigten die rasch vonstatten gehenden Bergungsarbeiten in den Krisenregionen, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie nicht nur über einen entschiedenen Willen und Optimismus für ein besseres Leben, sondern auch über die dafür notwendigen Mittel und Technologien verfügen, anstatt sich der Selbstkasteiung hinzugeben. Doch die Kluft zwischen weinerlich alarmistischer Kommentierung hier und dem beispielhaft entschlossenen Handanlegen dort sollte noch größer werden. So warnten deutsche Leitmedien über Wochen vor verheerenden Seuchengefahren in der Krisengegend. Expertenstimmen aus Thailand, Indonesien oder Indien (und aus deutschen Universitäten), die dieses Risiko dementierten, fanden kein Gehör. Wenig später machten dann ebenso haltlose Warnungen die Runde, pädophile Schlepperbanden würden Waisenkinder aus der Krisenregion entführen und US-Soldaten vor Ort hätten nichts Besseres zu tun, als Überlebende der Flutwelle in Trümmerbordells zu missbrauchen.


So wurde die vom Tsunami verwüstete Landschaft zur Projektionsfläche für ein mitunter äußerst zynisches Politik- und Moralgetue. Die Sachlichkeit bei der wissenschaftlichen Aufklärung der Naturgewalten, die Effizienz bei der Hilfe und nicht zuletzt der würdevolle Umgang mit den Opfern und Hinterbliebenen gerieten dadurch ins Hintertreffen. In diesen unheilvollen Sog gerieten auch die Solidaritätsbekundungen der zahlreichen Spender – spätestens, als Politiker einen Wettstreit darüber in Gang setzten, welche Nation am meisten zu spenden bereit sei, als gehe es darum, den „Spenden-Bambi“ der Vereinten Nationen für den „Kanzler der Besten“ zu erringen. Auch in der internationalen Diplomatie sollte diese Rangliste der Spender plötzlich eine bedeutende Rolle spielen, um sich, in der moralischen Gewissheit vorbildlicher Spendenbereitschaft, Geschäfte und politische Kontakte zu sichern.
Zu Hause machten Parteien jeder Couleur aus der Tragödie am Indischen Ozean eine nationale Angelegenheit, die „uns alle gleichermaßen angeht“, als habe man mithilfe der Trümmer- und Opferbilder die Fundamente einer neuen deutschen Leitkultur erspäht. Andauernde Hochrechungen nicht nur der deutschen Spenden-, sondern auch der „Opferquote“ und dazugehörige Berichte über traumatisierte Überlebende, die nach Hause geholt wurden, passten ins Bild. Der ganzen Nation wurde Trauer und Betroffenheit verordnet. Allem Anschein nach gefiel sich die Politik gut in dieser Rolle, gelang es doch, die Bürger zu „berühren“ und zumindest für eine kurze Weile eine Art Gemeinschaftsempfinden aufkommen zu lassen.


Dass das nicht lange tragen sollte, sondern die Kopflosigkeit der deutschen Politik im Anschluss umso deutlicher ans Tageslicht geraten würde, war absehbar. Rasch dominierte wieder das traurige politische Alltagsgeschäft. Politiker widmeten sich zunächst einer neuen Art Selbstzerfleischung, indem sie duckmäusernd eine Reihe korruptionsgeiler Medien bedienten und dabei wieder nur nach der Quote schielten. Dann kam der „DFB-Skandal“, mit dem vorschnelle Hoffnungen einbrachen, im Zuge der WM 2006 auch die Bundestagswahlen gewinnen zu können. Und so weiter. Wahrlich keine viel versprechenden Aussichten für das gerade erst begonnene Jahr.

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