01.11.2000

Doch noch ein Wort für den Frieden

Kommentar von Heinz-Norbert Jocks

Zu Peter Handkes Unter Tränen fragend.

Als keine Bomben mehr auf Serbien fielen, flossen bei uns die Informationen langsamer. Ja, so spärlich, als wäre das breite Medieninteresse an der Lage vor Ort immer schon auch ein bisschen unaufrichtig gewesen. Erst die Wahlen vor einigen Wochen haben wieder Interesse geweckt, doch der Krieg ist nun gar kein Thema mehr. Es ist, als leide das weltweite und weltbeherrschende Nachrichtensystem an einer Übersättigung einseitiger Art und als wolle man nichts mehr davon wissen, was real geschehen ist. Der allgemeine Verdrängungsprozess setzt sich fort. Nun, woran liegt das? Wirklich daran, dass es zu schwierig ist, sich ein Überblicksbild nach dem Krieg von der Zeit während der nächtlichen Flugangriffe zu machen? Oder daran, dass man geschwind wieder zur Tages-Ordnung übergehen will, um keine Schuldeingeständnisse machen zu müssen? Findet da etwa ein kollektives Wegschauen statt, so als müssten die Absurdität und der Wahnsinn eines folgenreichen Zerstörungskrieges vertuscht und kleingeredet werden, um kommende Schlachten zu rechtfertigen? Was wurde eigentlich zerstört? Wie viele Menschen starben unschuldig? Und: Wie verkraftet die Natur die tödlichen Attacken? Und vor allem: Warum das alles? Dann: Wie leben die Leute heute, draußen auf dem Land und drinnen in den Städten? Was denken sie? Was ist mit den Flüchtlingen? Und schließlich und endlich: Wird es jemals wieder möglich sein, dass die Völker Jugoslawiens friedlich koexistieren? Immer noch stehen Fragen, nichts als Fragen im unendlichen Raum, die, unbeantwortet geblieben, sich vermehren.


Bezeichnend auch, dass seit dem Stopp vehementer, im Namen des so genannten Humanismus durchgeführter Angriffe auch die polemische Debatte um Peter Handkes gegengängige Außenseiterhaltung gestrichen ist. Vorläufig, jedenfalls! Hier und da gibt es noch ein paar Verrisse und Anfeindungen, aber im großen und ganzen ist Ruhe, besser Scheinruhe eingekehrt. Alles wirkt im Nachhinein wie ein unglaublicher Spuk, zu dem jeder, auch wenn er die Texte gar nicht oder nur unzureichend gelesen hatte, seinen Kultursenf beitrug, als wäre das bedenkenlose Mittun wie irgendeine Mode gerade angesagt. Der Mehrwert von Handkes literarischer Zeugenschaft auf der Grundlage seiner bis heute unternommenen Reisen zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina wird in Abrede gestellt. Über ihn wird so geurteilt, als spräche da ein verblendeter, hirnamputierter, Milosevic-höriger und Verbrechen leugnender Pro-Serbe, dessen gesamte Literatur nun plötzlich mit den Bach des Vergessens hinuntergeht. Welch hanebüchene Korrektur der Dinge! Welch merkwürdiges, auch fragenloses Vorgehen! Im Grunde ein Auslöschungsversuch, der sich seltsamerweise nirgends zu legitimieren braucht.


Denn wer den Dichter attackierte, fühlte sich von vornherein im Recht. Schon allein deshalb, weil er die Mehrheit hinter sich hatte. Dabei erschien die Wahrheit wie ein Besitz; sie war längst keine Suche mehr. Worauf aber Handke mit Nachdruck aufmerksam machen wollte, wenn er darüber berichtete, was er sah, hörte und vorfand, darüber ging man paukenschlagmäßig hinweg. Nur wenige studierten die Texte wirklich und befragten sie vorurteilslos. Stattdessen ein flüchtiges Darüberhinweg und ein verfälschendes Herauspicken von Zitaten in der Absicht, sich die eigene vorgefasste Meinung blind bestätigen zu lassen. Der lange “Abschied des Träumers vom neunten Land” ist jedoch immer noch nicht abgeschlossen. Handke, der sich trotz heftigster Wortgeschwader nicht von seiner vor Ort gewonnenen Sicht abbringen lässt, verfügt offenbar über eine verblüffend unverletzte Energie, wenn es darum geht, einer Sache, die ihm etwas bedeutet, ja eine Herzensangelegenheit ist, auf den Grund zu gehen.


Handke ist ein von der Macht unbestechlicher Augenzeuge, dabei ein Schriftsteller, der “das Fragen immer noch zur innersten Belebung braucht”, wie es in seinen Notizen Am Felsfenster morgens heißt. Auch ein unbeeinflussbarer Moralist, der sich fragt, ob es “das Erbarmen mit einer Gegend, einem Landstrich, einem Land” gibt. Zudem ein hartnäckiger Pazifist, dessen Liebe zu den Menschen, Kulturen und Landschaften Jugoslawiens ihn empfindlich gemacht und eben nicht abgestumpft hat. Seine Befürchtung, die neuen Grenzen in Jugoslawien wüchsen, statt nach außen, nach innen zur Mitte hin, “bis es bald kein Land, weder slowenisch, noch kroatisch, mehr gibt, ähnlich wie im Fall Andorra,” wurde weder ernst- noch wahrgenommen. Doch was wollte er damit sagen? Dieser andere Blick, der einem die Lage in Ex-Jugoslawien wie niemand sonst vor Augen führt, erfährt nun eine weitere Vertiefung. Unter Tränen fragend nennt der in einem Pariser Vorort Wohnende seine in Buchform gedruckten Aufzeichnungen. Es handelt sich um nachträgliche Schilderungen zweier Jugoslawien-Durchquerungen, die in März und April 1999, also während des Krieges, erfolgten.


Schön an der literarischen Beschreibung ist, dass der Leser den Weg quer durchs Land nachvollziehen kann und so auch beglaubigte Eindrücke gewinnt, die das wirkliche Ausmaß wilder Zerstörung nicht nur präsent, sondern auch nachfühlbar machen. Die von den Medien bildarm betriebene Entwirklichung findet hier einmal nicht statt. Stattdessen ein genaues Hinschauen und Mitteilen dessen, was am Rande zu sehen und zu hören ist, und wieder und wieder Begegnungen mit Menschen, die von sich erzählen. Auf der Fahrt nach Belgrad dann sein Eindruck, “dieses ganze Land da, vor, hinter uns und um uns herum, sei, zwischen zwei Sirenentönen, hingestreckt unter dem unverändert blauenden, unverändert leer bleibenden Himmel, hingestreckt zum Gebet”. So weit die Formulierungen eines religiösen Menschen, der auch das Fehlverhalten von Kirchen kritisiert.


Vor dem Hintergrund seiner detaillierten Wahrnehmung fragt er sich nicht nur, “was das für Wahrheiten sind, die vor allem aus Großaufnahmen und Zuschlag-Wörtern bestehen”. Er verdeutlicht auch die scheinheilige Angriffslogik der einseitig kriegsführenden Nato, “wonach auch ein Maisfeld und ein Hühnerstall bombardiert werden können, weil Mais, Hühnerfleisch und Eier als Proviant für die feindliche Soldateska dienen”. Demnach ist auch der Tod der Zugpassagiere auf der Brücke von Grdelica gerechtfertigt, weil die Strecke Beograd-Thessaloniki eine “Nachschub”-Linie ist. Indem Handke in Gaststätten, Hotels und bei Leuten einkehrt, für deren balkanische Gastfreundschaft er schöne Worte findet, hebt er die Abstraktion auf, die Krieg erst ermöglicht. Ja, er weckt Sympathien mit Menschen, deren Gemeinschaftssinn und Kultur. Indem er die Verhältnisse schauend und hörend konkretisiert, macht er diese erst wieder menschlich erfahrbar und ein durch Medienbilder verstelltes wieder als ein fassbares Land zugänglich, in dem “die Toleranz einen Begriff wie ‘Toleranz’ so gar nicht nötig hat.” Diese Anschauungen zeugen von einer schwellenkundigen Literatur, die das von den Medien uns ausgetriebene Mitgefühl in weltfriedlicher Absicht weckt.

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