01.01.2006

Die zerstückelte Welt und das Ideal des „neuen Menschen“

Kommentar von Richard Sennett

Die zerstückelte Welt und das Ideal des „neuen Menschen“. Von Richard Sennett

Vor einem halben Jahrhundert, in den 60er-Jahren, jener viel beschworenen Zeit des sorglosen Partnertauschs und Drogenrauschs, kritisierten ernsthafte, junge, bewegte Menschen Institutionen, speziell große Konzerne und Regierungen, Einrichtungen, deren Größe, Komplexität und Unbeweglichkeit den Einzelnen zu lähmen schien. Das Port Huron Statement, das Gründungsdokument der Neuen Linken, attackierte 1962 gleichermaßen den Staatssozialismus und die multinationalen Konzerne als unbewegliche, bürokratische Regime.

Die Geschichte hat den Verfassern des Port Huron Statements ihre Wünsche teilweise erfüllt. Die Fünf-Jahrespläne sind zusammen mit der Kommandowirtschaft verschwunden. Und auch den kapitalistischen Konzern, der seine Angestellten lebenslang beschäftigt und der jahrein, jahraus dieselben Waren oder Dienstleistungen ausspuckt, gibt es nicht mehr. Institutionen des Wohlfahrtsstaates wie das Gesundheits- und Erziehungswesen sind heute weniger starr, und sie sind auch kleiner geworden. Das Ziel der Regierenden heute entspricht dem der Protestbewegung von damals: unbewegliche Bürokratien zu schleifen.

Die Geschichte hat der Neuen Linken ihren Wunsch auf absonderliche Weise erfüllt. Die außerparlamentarische Opposition meiner Jugendzeit glaubte, dass wir, indem wir die Institutionen zerschlagen, Gemeinschaften schaffen könnten – persönliche, solidarische Vertrauensverhältnisse, Beziehungen, die ständig neu ausgehandelt und erneuert würden, eine gemeinschaftliche Welt, in der Menschen auf ihre Mitmenschen eingingen. Das ist ganz und gar nicht eingetroffen. Die Zerstückelung der großen Institutionen hat vielen Menschen eine zerstückelte Existenz beschert. Ihre Arbeitsplätze erinnern eher an Bahnhofshallen als an Landkommunen, das Familienleben leidet unter der Arbeit, und Migration ist das Sinnbild des globalen Zeitalters, in dem man umherzieht und sich nur selten einrichtet. Die Zerschlagung der Institutionen hat nicht zu mehr Gemeinschaftlichkeit geführt.

Wenn Sie nostalgisch veranlagt sind – und welche empfindsame Seele ist das nicht? – werden Sie diese Entwicklungen bedauern. Andererseits wurde aber im letzten halben Jahrhundert unvergleichlich viel Wohlstand geschaffen, in Asien, in Lateinamerika und in den Ländern des Nordens. Dieser neue Wohlstand steht in engem Zusammenhang mit der Zerschlagung der alten Regierungs- und Konzernbürokratien. Gleichermaßen ist die technologische Revolution der letzten 25 Jahre vor allem dort entstanden, wo Institutionen am wenigsten zentral kontrolliert werden. Dieses Wachstum hat einen hohen Preis: noch größeres Wohlstandsgefälle und größere gesellschaftliche Labilität. Dennoch wäre es irrational, sich zu wünschen, der Wirtschaftsboom wäre ausgeblieben.

Hier kommt die Kultur ins Spiel – wobei ich hier „Kultur“ im anthropologischen, nicht im künstlerischen Sinne meine. Welche Werte, welche Verhaltensmuster können Menschen zusammenhalten, wenn um sie herum die Institutionen zerfallen? Meiner Generation mangelte es, als sie die Vorzüge kleiner Gemeinschaften pries, in dieser Hinsicht an Vorstellungskraft. Nicht nur durch „Gemeinschaft“ lässt sich eine Kultur zusammenhalten. Auch die einander fremden Menschen in einer Großstadt haben eine gemeinsame Kultur, ganz unabhängig davon, ob sie sich kennen oder nicht. Aber in einer Kultur, in der man sich wechselseitig unterstützt, kommt es nicht bloß auf die Größe an. Nur ein bestimmter Typ von Mensch kann in einer labilen, stückwerkhaften Gesellschaft vorankommen. Diese Art von Mensch muss idealerweise mit drei Herausforderungen umgehen können:

Die erste hat mit Zeit zu tun. Wie geht man mit kurzfristigen Beziehungen um – und wie mit sich selbst –, während man von Aufgabe zu Aufgabe, von Job zu Job, von Ort zu Ort wandert? Wenn ein fixer institutioneller Rahmen langfristig nicht mehr vorhanden ist, muss der Einzelne entweder seine Lebensgeschichte improvisieren, oder er muss ohne das Bewusstsein einer fixen Identität auskommen.
Die zweite Herausforderung hat mit Fähigkeiten zu tun. Wie entwickelt man neue Skills, wie entdeckt man, vor dem Hintergrund der sich wandelnden Anforderungen der Welt, in sich schlummernde Talente? In der modernen Wirtschaft ist die Haltbarkeit vieler Fähigkeiten sehr gering. In technologischen und wissenschaftlichen Bereichen wie auch in modernen Produktionsbetrieben müssen die Arbeiter heute im Schnitt alle acht bis zwölf Jahre umschulen. Fähigkeiten sind auch eine Frage der Kultur. Die im Entstehen begriffene Gesellschaftsordnung richtet sich gegen die Kunstfertigkeit, dagegen, dass man nur eine Sache, diese dafür aber ausgesprochen gut kann. Diese Art von Fähigkeit ist heute oft ökonomisch katastrophal, da statt Kunstfertigkeit flexible Skills gefordert sind. Es kommt auf potenzielle Fähigkeiten an und nicht darauf, was man einst geleistet hat.
Die dritte Herausforderung leitet sich davon ab. Es geht ums Loslassen, darum, die Vergangenheit abzuschütteln. Die Chefin einer sich dynamisch entwickelnden Firma sagte kürzlich, dass niemand in ihrem Betrieb eine Stelle „besitze“ und dass speziell vergangene Verdienste keine Arbeitsplatzgarantie bedeuteten. Wie kann man sich auf so etwas einstellen? Es bedarf einer besonderen Persönlichkeitsstruktur, einer, die Erfahrungen abschreibt. Diese Art der Persönlichkeit ähnelt der des Konsumenten, der stets die neuesten Produkte will und dafür alte, perfekt funktionierende Dinge wegwirft.

Was ich aufzeigen möchte, ist, wie die Gesellschaft nach diesem idealen Menschen sucht. Und ich verlasse nun den Standpunkt der Wissenschaft, wenn ich diese Suche beurteile. Ein Individuum, das nur kurzfristig denkt, in potenziellen Fähigkeiten, und das seine Erfahrungen hinter sich lässt, ist – um es freundlich auszudrücken – eine ungewöhnliche Art von Mensch. Die meisten Menschen sind nicht so; sie brauchen eine halbwegs stabile Lebenserzählung, sie sind stolz darauf, dass sie etwas Bestimmtes besonders gut können, und sie legen Wert auf die Erfahrungen, die sie gemacht haben. Das von den neuen Institutionen verlangte kulturelle Ideal beschädigt viele der Menschen, die in ihnen leben.

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