01.11.2000

Die verordnete Einschränkung der Freiheit

Von Sabine Reul

In der Sache richtig erscheinen NPD-Verbot oder die gesetzliche Garantie einer gewaltfreien Erziehung. Doch die Beschneidungen der individuellen Freiheit im Sinne der Formel „der Zweck heiligt die Mittel“ sollte nicht einfach hingenommen werden.

Diffuse Motive und oft arbiträre Anlässe treiben zurzeit in Deutschland die Entwicklung eines neuen Politikverständnisses voran. In der Bekämpfung des Rechtsextremismus, in Fragen Jugend und Familie, aber auch in der Steuer- und Rechtspolitik wird ressortübergreifend eine Neigung zu staatlicher Verhaltenssteuerung immer spürbarer. Zwar sind wir hier zu Lande noch nicht so weit wie in Großbritannien, wo Teenager in einer groß angelegten Regierungskampagne derzeit zu sexueller Enthaltsamkeit aufgefordert werden. Aber der Trend zu einer vermehrt auf Belehrung und Lenkung der Bürger setzenden Politik ist unübersehbar. Und beunruhigend ist, dass er – so er wahrgenommen wird – recht unkontrovers ist.

“Wenn der Zweck so heilig ist, denken viele, ist Kritik an den Mitteln doch wohl kleinlich.”

Vordergründig liegt das sicher daran, dass die Ziele regulativer staatlicher Eingriffe oft moralisch über jeden Zweifel erhaben scheinen. Wer beispielsweise gegen das im Juli im Bundestag verabschiedete elterliche Züchtigungsverbot oder das geplante Verbot der NPD Stellung bezieht, setzt sich dem Vorwurf aus, gegen Gewaltfreiheit in Ehe und Familie oder gegen Antirassismus zu sein. Wenn der Zweck so heilig ist, denken viele, ist Kritik an den Mitteln doch wohl kleinlich. Was ist schon die Unverletzlichkeit der Privatsphäre gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit von Kindern oder das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegen den Anspruch, als Ausländer frei von Angst und Erniedrigung leben zu können?
Wirklich? Es fehlt nicht an Hinweisen darauf, dass Missstände, deren Bekämpfung eine solch dramatische Güterabwägung zu fordern scheint, zunächst meist überzeichnet und dann oft ebenso schnell wieder vergessen werden. Aber diese Erkenntnis bleibt merkwürdig folgenlos, so dass sich der Wandel der politischen Normen nahezu unkommentiert vollzieht.

Klassische bürgerliche Freiheitsrechte finden heute weder auf der Ebene der Politik noch in der Gesellschaft Fürsprache oder Resonanz. Selbst die FDP vermag mittlerweile nur noch allenfalls zaghaft gegen die ausufernden Bemühungen der rot-grünen Koalition, das Alltagsleben gesetzlich zu regulieren, Einspruch anzumelden. Und die Unionsparteien, denen die Ordnung immer näher am Herzen lag als die Freiheit, finden hier offenbar zunehmend Berührungspunkte mit der sonst so ungeliebten Koalitionsregierung.
Zwar behindert mitunter – vor allem auf Seiten der CDU – die parteipolitische Konkurrenz diese Annäherung noch. Aber auf Seiten der sich derzeit stark profilierenden CSU sieht das schon ganz anders aus. In Bayern wurde nicht nur das NDP-Verbot ins Gespräch gebracht. Hier kritisiert man inzwischen auch die Ökosteuer nicht etwa als unvernünftig oder unzumutbar, sondern weil sie das gesetzte Ziel der Steuerung des Verbraucherverhaltens zugunsten der Umwelt nicht wirklich erreiche.

“Die Freiheit des Individuums galt früher einem an den Idealen der Aufklärung orientierten Menschenbild.”

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert beherrscht Skepsis gegenüber dem als idealistisches Konstrukt entlarvten autonomen Subjekt das geistige Leben der westlichen Länder. Diese intellektuelle Entwicklung ist zwar für den Trend zur Abwertung des Individuums nicht allein verantwortlich, hat ihm aber zumindest einen starken geistigen Nährboden geschaffen.
Die Freiheit des Individuums galt früher einem an den Idealen der Aufklärung orientierten Menschenbild als Grundlage und Ziel einer emanzipierten Gesellschaft. Das Ideal einer Gesellschaft, in der die Bedürfnisse des Einzelnen in der Gemeinschaft Erfüllung finden, wie umgekehrt die Gemeinschaft von der Freiheit ihrer einzelnen Mitglieder lebt, empfindet unser skeptischer Zeitgeist aber als geradezu abenteuerlich naiv und optimistisch.

Intellektuelle Skepsis gegenüber der Freiheit und Misstrauen gegenüber dem Individuum haben sich mit einer generellen Vertrauenskrise der Gesellschaft verbunden. Motor dieser Entwicklung war, zumindest was ihre geistige Artikulation betrifft, zweifellos die Linke. Aus Irritation über die beharrliche Dominanz des privaten über das kollektive Leben in der satten Ära des Nachkriegsbooms speiste sich die linke Konsum- und Kulturkritik. Sie erblickte in der Sphäre des Privaten nur noch verschleiernde Unterdrückungsmechanismen. Die Kritik der Privatheit fand ihre prägnanteste Ausprägung im radikalen Feminismus. Der feministischen Sozialkritik erschienen das Geschlechterverhältnis und die Familie als der primäre Ort der Gewalt und Unterdrückung und die Idee des autonomen Subjekts als bloße Glorifizierung männlicher Selbstherrlichkeit.
Aus diesem Milieu entstanden schon in den siebziger Jahren im Zeichen des Kampfes gegen Pornographie, Vergewaltigung und Missbrauch die ersten Vorläufer einer linken Politik, die statt der sozialen Verhältnisse das Verhalten der Individuen problematisiert.
Auch der Antifaschismus, der im Zeichen der Politisierung des Privaten zu einem Generalverdacht der Verführbarkeit und latenten Gewaltbereitschaft des Individuums mutierte, trug zu dieser Neuausrichtung radikaler Politik bei. Sie mündete schließlich im Ruf nach staatlicher Intervention in Familie und Alltagsleben. Das Ergebnis ist ein Politikmodell, das darauf setzt, die Gesellschaft vor den Menschen zu schützen.

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