01.11.2001

Die Ursachen des Terrors liegen im Westen – aber anders, als manche meinen

Essay von Sabine Reul und Thomas Deichmann

Wer sich ein Bild über die Einstellungen der Attentäter des 11. September machen möchte, ist sicherlich besser beraten in europäischen Metropolen wie London und Paris mit jungen Muslimen zu reden als sich auf eine anstrengende Reise ins afghanische Hochgebirge zu begeben.

Seit dem 11. September hat man das akute Empfinden, in einem seltsamen geistigen Niemandsland zu leben. Jeder logische Zusammenhang zwischen Worten und Taten, Ideen und Wirklichkeiten, der bis dato wenigstens hier und da noch im Ansatz greifbar war, scheint aufgelöst. Das Kernland der Vereinigten Staaten wurde zum ersten Mal seit fast zweihundert Jahren angegriffen – in einem mörderischen Inferno, angestiftet durch eine obskure Terrorbande, die weder ihre Identität noch ihre Zwecke bekannt gibt. Und nun befinden wir uns in einem Kriegszustand, von dem es heißt, er werde ein dauerhafter sein, dessen Ziele aber ebenso schwer nachvollziehbar sind wie seine Folgen für den Zustand der Welt.Bis zum Beginn der Dauerbombardements am 7. Oktober gab es Bemühungen, das Neuartige der Ereignisse zu erkunden und angemessene Strategien zur Abwehr des Terrors zu finden. Aber dieses Innehalten war nur von kurzer Dauer. Jetzt beherrschen Notstandspakete und Kriegsvokabeln das Weltgeschehen.

„Nichts wird so bleiben, wie es war“ ist die ebenso erschreckende wie inhaltsleere Formel, mit der man uns seit dem 11. September auf den Aufbruch in eine düstere Zukunft voller unabsehbarer Gefahren einstimmen möchte. Wieder eine jener fatalen Prophezeiungen, die sich selbst zu erfüllen neigen, weil sie Rationalität und Augenmaß schon im Ansatz außer Kraft setzen, meinen wir.

Das kennen wir doch schon: Samuel Huntington’s These vom Kampf der Kulturen war von dieser besonderen Art Unsinn, der an maßgeblichen Stellen nur lange genug geglaubt werden muss, um irgendwann ominöse faktische Kraft zu erlangen, weil er Denken und Handeln in destruktive Bahnen lenkt.

Wir sind der Meinung, erstens, dass die Welt sich am 11. September nicht grundlegend verändert hat, sondern die Anschläge auf New York und Washington die Wirklichkeit, so wie sie schon länger ist, sichtbar gemacht haben. Und bevor man da zum Äußersten greift, sollte man erst einmal genauer betrachten, was da sichtbar wurde. Zweitens denken wir, hinter der Floskel, alles werde – oder müsse – sich ändern, steckt auf Seiten der westlichen Eliten ein explosives Gemisch aus rhetorischem Überschwang, Fatalismus, Ratlosigkeit und Missionssuche, was für die Zukunft nichts Gutes verheißt. Daher möchten wir hier einfach das tun, was uns in Anbetracht dieser Gegebenheiten angesagt scheint: uns alle mal wieder auf den Teppich holen.

Neuer Terrorismus

Dass sich Gesellschaften gegen terroristische Angriffe schützen müssen, steht außer Frage. Aber das heißt keineswegs zwingend, dass ein Offensivkrieg die richtige Antwort ist. Ursachen und Hintergründe der Anschläge vom 11. September lassen eher vermuten, dass im Bombenkrieg gegen Afghanistan wieder jene Art weltpolitischer Autismus zum Vorschein kommt, der seit dem Ende des Kalten Krieges schon reichlich Unordnung und Instabilität verursacht hat.

Die amerikanische Regierung und ihre Verbündeten geben vor, man könne, indem man das Taliban-Regime und Osama bin Laden außer Gefecht setze, dem Problem einer neuartigen, traditionellen politischen Kategorien nicht zugänglichen Mordbereitschaft sektenhafter terroristischer Gruppierungen begegnen. Offenbar bereitet es den Strategen des US-Establishments große Mühe, sich von den Denkschablonen der bipolaren Welt zu befreien und anzuerkennen, dass sich die Zeiten gewandelt haben. Das ist zweifelsohne auch ein Grund dafür, weshalb sämtliche Geheimdienste blind für die Bedrohung durch diese neue Form des Terrorismus waren.

Wer meint, hier habe man es mit Bewegungen zu tun, die mit politischen Befreiungsbewegungen oder radikalen Gruppierungen der Nachkriegsära vergleichbar sind, ist auf dem Holzweg. Die alten Befreiungsbewegungen existieren schon lange nicht mehr. Manche haben sich in Luft aufgelöst, andere zeigten sich anpassungsfähig und wurden, wie der ANC in Südafrika, zum Mitgestalter demokratischer Reformen. Wieder andere änderten ihren Charakter und verkamen zu Sekten. Mit dem Zerfall der alten Ordnung entstanden, gestützt auf anhaltende gesellschaftliche Stagnation und geistige Atrophie, mancherorts auch neue Strömungen, die – ganz im Kielwasser der westlichen Ideologie des Multikulturalismus – für bornierte ethnische Abgrenzung und staatliche Separation in immer kleinere Entitäten operieren. Sie taten und tun das nicht selten mit Waffengewalt – siehe Balkan und Westasien.

Aber es wäre falsch, diese Formen infantiler Zerstörungslust an bestimmten, durch den Zerfall der alten Ordnung besonders betroffenen Weltregionen festmachen zu wollen. Und hier scheint der fundamentale Irrtum der westlichen Kriegspolitik zu liegen. Denn hinter der hier zum Vorschein kommenden Fragmentierung und der Entstehung neuartiger reaktionärer geistiger Strömungen und obskurer Netzwerke ohne jegliches emanzipatorische Potenzial verbirgt sich eine Krise der westlichen Weltordnung selbst. Der Westen hat seine Integrationsfähigkeit und seine Anziehungskraft verloren.  Und das betrifft keineswegs nur die „Anderen,“ die in Ländern leben, wo die Vorzüge des globalen Markts, der modernen Technik oder der postmodernen Liberalität wohl nicht stets so vor Augen stehen wie anderswo. In den Vereinigten Staaten selbst gibt es eine breite Strömung des inneren Rückzugs aus dieser Welt, der auch hier gelegentlich in Attentate extremistischer Sekten mündet.

Dass der Krieg gegen bärtige Gebirgsbewohner an der Sache vorbeigeht, zeigt schon das Profil der Attentäter vom 11. September. Diese Selbst- und Massenmörder passen überhaupt nicht zum Bild der bekannten Extremisten, etwa der Selbstmordattentäter Palästinas, was selbst der israelische Terrorismusexperte Ehud Sprinzak bekundet.

Die Attentäter des 11. September wurden weder in streng religiösen Familien im konfliktgeladenen Gazastreifen sozialisiert, noch verbrachten sie ihre Kindheit oder Jugend in strengen Koranschulen oder Taliban-Ausbildungslagern. Die meisten lebten in wohlhabenden Familien im Nahen Osten, einer war der Sohn eines reichen Saudis, der seinen Geschäften in den USA nachging. Allesamt waren sie gut gebildet, drei von ihnen studierten in Hamburg, wo der Terroranschlag voraussichtlich geplant wurde, einer kam erst während seines Studiums an der London School of Economics mit dem Islam in Kontakt. Fünf Terroristen sollen in Großbritannien gelebt haben. Ihre Flugstunden nahmen die Highjacker wie andere Söhne reicher Eltern in Flugschulen an der Ostküste der USA. Im Gegensatz zu den durchschnittlich 22-jährigen Selbstmordattentätern aus dem Libanon waren die Terroristen des 11. September wesentlich älter – einer von ihnen bereits 41.

Es drehte sich bei den Terroristen nicht um „verzweifelte Opfer“ repressiver politischer und ökonomischer Lebensverhältnisse im Nahen Osten, wie Vertreter der alten Friedensbewegung annehmen.

“Wer sich ein Bild über die Einstellungen der Attentäter des 11. September machen möchte, ist sicher besser beraten, in europäischen Metropolen wie London oder Paris mit jungen Muslimen zu reden als sich auf eine anstrengende Reise ins afghanische Hochgebirge zu begeben.”

Am 11. September waren Männer fern der traurigen Lage dort oder in Afghanistan am Werk, die in gesicherten Verhältnissen lebten, die Freiheiten und Vorzüge der westlichen Welt in Anspruch nahmen und offenbar auch zu schätzen wussten. So wurde berichtet, dass es sich bei einigen der Terroristen nicht einmal um strenggläubige Muslime handelte – sie konsumierten Alkohol und hatten Freundinnen, mit denen sie sich wie andere junge Männer in der Öffentlichkeit zeigten. Wer sich ein Bild über die Einstellungen der Attentäter des 11. September machen möchte, ist sicher besser beraten, in europäischen Metropolen wie London oder Paris mit jungen Muslimen zu reden als sich auf eine anstrengende Reise ins afghanische Hochgebirge zu begeben.

Der Zerfall der alten Weltordnung hat auch im Westen Werte und Leitbilder durcheinander gebracht und alte Gewissheiten und Orientierungen entkräftet. Wesentlich mehr noch als in Europa macht sich in den Vereinigten Staaten Anomie breit – eine gelegentlich nihilistische Züge annehmende Regression in privatistische Feindbilder, die in der Globalisierungshysterie genauso zum Vorschein kommt wie in einer überall anzutreffenden selbst-fixierten Opferkultur.Die Trittbrettfahrer der gegenwärtigen Terrorangst, die postalisch Milzbrand in Umlauf bringen oder Bombenalarm geben, zeugen davon. Auch frühere Terroranschläge kommen dem 11. September sehr nahe: Zum Beispiel war der von Oklahoma 1995 die Tat eines weißen rechtsradikalen Irren, der von einem Netzwerk militanter Splittergruppen profitierte. Der Massenselbstmord von Sektenmitgliedern in den USA, Briefbomben und vermehrte Übergriffe radikaler Tierschützer und Abtreibungsgegner, die Anschläge der Aum-Sekte in Tokio: der 11. September lässt sich mit solchen Anschlägen eher vergleichen als mit Aktionen gewaltbereiter Palästinenser – obgleich aus diese heute durchaus immer mehr selbst Züge dieser destruktiven Orientierungslosigkeit annehmen.

“Die Ausrufung des internationalen wie nationalen Ausnahmezustands ist eher geeignet, die beschriebenen Probleme zu verschärfen als Ansätze zu ihrer Lösung zu bieten.”

Sicher wird es noch einiger Anstrengungen bedürfen, um die komplexen Hintergründe der Ereignisse vom 11. September wirklich zu verstehen. Aber dass wir es hier mit einem umfassenderen Problem zu tun haben, das in der mangelnden Integrations- und Sinngebungskraft der westlichen Eliten begründet ist, scheint auf der Hand zu liegen.  Die sich mit dem Kriegsbeginn sofort einstellende Einengung der Debatte auf militärische Fragen ist daher bedauerlich. Der Kriegsaktionismus scheint nämlich nicht nur kontraproduktiv in Hinblick auf globale Stabilität und Frieden. Die Ausrufung des internationalen wie nationalen Ausnahmezustands ist auch eher geeignet, die beschriebenen Probleme zu verschärfen, als Ansätze zu ihrer Lösung zu bieten. Deshalb sind wir – auch wenn wir durchaus meinen, dass es Situationen gibt, in denen auf Gewalt auch mit Gewalt zu antworten ist – gegen diesen Krieg.

Pazifisten vs. Bellizisten

Etwas umnachtet finden wir vor diesem Hintergrund die Art, in der hier zu Lande die Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen verläuft. Auch die unabhängigen Geister unserer Republik scheinen noch immer in den Schützengräben des Kalten Krieges zu sitzen. Auf der einen Seite friedensbewegte Moralisten, die meinen, Ostermärsche seien die probate Antwort auf einen Massenmord, der alle Normen der Zivilisation außer Kraft setzte. Daneben Altlinke, die ihn mitunter zur authentischen antikapitalistischen Revolte stilisieren möchten. Und auf der anderen Seite Globalisierungsbefürworter, die – gestern noch freundliche Marktoptimisten – sich heute als Bellizisten gebärden, denen der Bombenkrieg gegen Afghanistan nachgerade nicht weit genug geht. Bei jedem Einwand gegen diese Militäraktion schreit man hier „Antiamerikanismus“, ganz so als wolle man aus den schrecklichen Ereignissen der letzten Monate wohlfeile Gelegenheit ziehen, den Kulturkampf gegen die 68er wieder zu beleben. Man gewinnt den Eindruck, hier wird einfach auf beiden Seiten in seliger Bewusstlosigkeit die jeweilige Lieblingskuh durchs Dorf getrieben.

Fruchtbarer wäre es, nähme man zur Kenntnis, dass die Zeiten der Blockkonfrontation vorbei sind und alte Reflexe zum Verständnis der Lage nichts beitragen. Fortschrittliche Kapitalismuskritik ist heute ebenso wenig in der politischen Landschaft festzustellen wie der Antiamerikanismus aus den Zeiten der Blockkonfrontation. Vielmehr haben wir es heute mit einem angstgespeisten Mainstream-Anti-Ismus (gegen Kapital, Globalisierung, Wissenschaft, McDonalds usw.) zu tun. Er ist Ausdruck eines Zivilisationspessimismus, der durch verängstigte und visionslose Regierungen im Westen in den letzten Jahren hoffähig gemacht wurde. Insofern spiegeln die Attentäter aus dem Nahen und Mittleren Osten der westlichen Welt ihre eigene Dekadenz vor. 

Dysfunktionale Eliten

Wir stehen heute vor einem komplexen, neuartigen Problem, auf das es keine einfachen Antworten gibt. Die westlichen Eliten haben das Vertrauen in sich selbst und in ihre eigene Ordnung verloren. Seit den frühen 90er-Jahren prägt defensive Anpassung an diesen Vertrauensverlust das politische Geschehen sowohl im nationalen wie im internationalen Rahmen. Sie artikuliert sich unter anderem in der Übernahme der relativistischen Ethik des Selbstzweifels, auf den in den letzten Jahrzehnten die Sozialkritik zusammengeschnurrt ist. Der Multikulturalismus und die implizierte Betonung von Unterschieden zwischen Menschen verschiedener Herkunft, die Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit und die Risiko-Obsession der letzten Jahre zählen hierzu ebenso wie der wachsende Marktskeptizismus.

Der Friedensbonus, auf den viele nach dem Ende des Kalten Krieges gehofft hatten, hat sich nicht eingestellt. Warum? – weil die westlichen Eliten zu einer wirklich vorausschauenden Neugewichtung der Weltpolitik offenbar nicht in der Lage sind. Dass Politik heute oft wie ein chaotisches Neben- und Durcheinander widersprüchlicher Impulse erscheint, die allesamt immer zu kurz oder daneben greifen, ist die Folge dieser Defensivität.

Seit dem 11. September erleben wir diese Problemlage in verschärfter Form. Weder dem Krieg gegen Afghanistan noch der breiteren internationalen Kampagne gegen den Terrorismus liegt ein schlüssiges strategisches Konzept zugrunde. In Washington scheint man nicht einmal zu wissen, ob und gegen wen man eigentlich Krieg führen möchte. Während Staatssekretär Paul Wolfowitz wohl am liebsten gleich die halbe arabische Welt eingeäschert hätte, warnten andere Kabinettsmitglieder vor Eskalation und gaben unumwunden zu, man wisse gar nicht so genau, woher die Bedrohung eigentlich komme.

Das Ergebnis ist ein sehr seltsamer Krieg. Man wirft aus großer Höhe Bomben ab, behauptet aber, dabei keine Zivilisten zu treffen. Gleichzeitig wirft man als Zeichen guten Willens Essenspakete hinterher. Doch sowohl Bomben als Nahrungsmittel sind eher symbolisch – erstere deshalb natürlich nicht weniger tödlich. Man war selbst nach wochenlangem Dauerbombardement dem selbst gesetzten Ziel der Ergreifung oder Tötung Osama bin Ladens und Zerschlagung der Taliban kaum einen Schritt näher; und die symbolischen Essenspäckchen werden der afghanischen Bevölkerung auch nicht über den Winter helfen.

Der ganze Krieg hat daher den Charakter einer PR-Aktion. Am deutlichsten wurde dies in der Debatte darüber, ob man ihn mit Beginn des Ramadan aussetzen solle. Ist der Krieg – wie uns gesagt wird – erforderlich, um eine tödliche globale Gefahr abzuwehren, sollte man ihn wohl kaum aus Rücksicht auf den religiösen Kalender der Muslime abstellen (zumal er sie ja am Fasten eher nicht hindert). Ist er aber doch nicht wirklich so nötig oder sinnvoll, warum führt man ihn dann?Angesichts dieser Ungereimtheiten wenig überraschend sind die Reaktionen der Öffentlichkeit. Trotz der Fahnenmeere in den Vereinigten Staaten und der angestrengten Bemühungen ihres Präsidenten, die Bevölkerung im Kampf „gegen das Böse“ zu einen, signalisierten weit weniger junge Menschen als bei vergleichbaren früheren Anlässen Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen. Umfragen zeigen, dass sogar in den USA die Zustimmung zum Krieg Woche um Woche brüchiger wird. Selbst jene, die anfangs nicht die geringsten Zweifel an der Berechtigung Washingtons hatten, auf den Massenmord vom 11. September militärisch zu reagieren, bekommen kalte Füße. Und in Pakistan, wo in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober Demonstrationen gegen den Krieg recht schwach besucht waren, machten sich einen Monat später größere Menschenansammlungen auf den Marsch ins Gebirge zum Heiligen Krieg.Es wird noch eine Weile dauern, bis deutlicher wird, wohin die gefährliche Reise geht. Wenig erbaulich ist die Vorstellung, dass der politische Zerfallsprozess der letzten Jahre nach dem Afghanistan-Intermezzo an Fahrt gewinnt, dass die zerfahrene Suche nach Halt und Pseudo-Orientierung auf allen Ebenen in neue politische Irrationalismen mündet und alle dekadenten Trends der letzten Jahre vermehrt an die Oberfläche gespült werden.

Kein Mensch weiß, was mit Afghanistan nach dem Ende der Bombardierung geschehen soll. Die angebliche Stärke der so genannten Nord-Allianz wurde mittlerweile als Mythos entlarvt, Pakistan steht vor der vorhersehbaren Implosion. Dass sich die Militäraktion stabilisierend auf die Region und den Nahen Osten auswirken werde, glaubt kaum jemand. Auch die Vorstellung, ein Dauerkriegszustand der angekündigten Art sei der richtige Kitt für den Zusammenhalt der Staatengemeinschaft und der Gesellschaften im Inneren, ist alles andere als bestechend. Das brüchige Selbstbewusstsein der Großmacht USA und seiner Verbündeten in Europa lässt sich so jedenfalls nicht reparieren. Dazu bedürfte es positiver Zukunftsvisionen auf Grundlage glaubwürdiger Szenarien. An denen aber mangelt es, und daher scheint es leider wahrscheinlicher, dass sich die Spirale der Destruktion fortsetzt – doch davor warnen wir in Novo seit Jahren und wir wurden nicht selten reflexartig missverstanden.

Man kann es auch so sehen: Das westliche Gesellschaftssystem überlebte zwei Weltkriege einschließlich des deutschen Faschismus, es behauptete sich gegen den Stalinismus, arrangierte sich mit den antikolonialen Freiheitsbewegungen der Dritten Welt und bändigte die Arbeiterbewegung. Heute ist eine Handvoll verrückt-brutaler Extremisten in der Lage, einen „monumentalen Krieg“ gegen einen undefinierten Feind auf den Plan zu rufen, den Nato-Bündnisfall auszulösen und führende Politiker anzuregen, den weltpolitischen Notstand zu verkünden. Das verheißt für unsere Zukunft erst einmal wenig Gutes. Es gibt zwar parallel auch die Möglichkeit einer anderen Entwicklung, die sich zumindest vorübergehend stabilisierend auf das Weltgeschehen auswirken könnte: dass angesichts der Ereignisse Politiker sich ein wenig mehr um Rationalität bemühen und nicht mehr so leicht von relativistischen Zeitgeisterscheinungen und destruktiven Reflexen treiben lassen. Schließlich könnte die Situation genutzt werden, um die internationale Kooperation auch für sinnvollere Ziele auf eine höhere Ebene zu heben.

Dass sich Russlands Präsident Putin beeilte, ins Boot der Kriegsallianz zu springen und dafür euphorischen Beifall erhielt, dass auch China und selbst der Iran gemäßigte Zustimmung für den Kampf gegen den Terrorismus verkündeten, könnte ja auch die Möglichkeit signalisieren, das eine oder andere Kriegsbeil zu begraben. Auch das Verhältnis der westlichen Industrienationen untereinander wirkt derzeit gefestigter denn je. Auf politischer und wirtschaftlicher Ebene gab es selten zuvor derart intensive Kooperationsbemühen. Ob aber unsere gegenwärtigen Eliten den Weg aus der Krise finden, scheint trotz dieser Hoffnungsschimmer überaus fraglich.

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