05.04.2018
Die Sicherheitssimulanten
Von Christoph Lemmer
Ob im öffentlichen Nahverkehr, beim Sex oder im Internet: Überall sollen offizielle Maßnahmen oder Kampagnen für „mehr Sicherheit“ sorgen. Ihr realer Nutzen ist fraglich.
In der Münchner U-Bahn ist es seit einigen Jahren während der morgendlichen Stoßzeit üblich, Fahrgäste beim Einsteigen in die Züge notstandshalber zu betreuen. Immer kurz vor dem Einlaufen eines Zuges stellen sich uniformierte Männer oder Frauen, dunkle Einheitshose, orangefarbene Sicherheitsweste, an den Bahnsteigrand und halten die Massen davon ab, sich vor den Triebwagen zu werfen. Gleichzeitig spricht der Chef der Truppe Anweisungen in sein drahtloses Mikrofon, zu hören über die Lautsprecheranlage in der Station. Abstand halten, durchtreten, nicht mehr einsteigen, Türen freimachen und ganz oft irgendwas mit „Vorsicht“ oder „Achtung“. Und während der Chef des uniformierten Abfertigungsteams Anweisungen ins Mikrofon bellt, öffnet er beiläufig die Schiebetür zum Zugführer, dem er schon beim Einfahren vertraulich zuwinkte und während der Einsteigeprozedur lässig ein paar kumpanöse Worte zuwirft. Ein Gutteil der Fahrgastmassen schafft es derweil, den Zug gesteckt zu füllen, unfallfrei, wenngleich oft nicht ganz befriedigend, weil der Zug schon voll ist, obwohl noch viele zusteigen möchten. Dann stellen sich die Untertürsteher in den Weg und versperren mit ausgebreiteten Armen den weiteren Zustieg. Der Chef am Mikrofon ruft „zurückbleiben“ und wirft seinem entschwindenden Lokführerkollegen einen letzten grüßenden Blick von Chef zu Chef zu.
Tag für Tag, Morgen für Morgen wiederholt sich diese faszinierende Vorführung bundesrepublikanischen Tiefenverständnisses von Ordnung und Sicherheit im 21. Jahrhundert, die in Wahrheit nichts anderes ist als Simulation und Fetischisierung von Sicherheit. Faktisch geht es um Machtausübung staatlicher und staatsnaher Organe. Diese Simulation begegnet uns inzwischen auf Schritt und Tritt. Das Beispiel aus der Münchner U-Bahn ist da noch vergleichsweise harmlos. Allerdings fügt es sich ein in eine Fülle staatlicher, halbstaatlicher oder offiziöser Maßregeln für jeden und alles. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung druckt Anweisungen für sicheren Sex auf bundesweit geklebten Plakaten. Plakatwände mit maßregelnden Parolen finden sich auch an Autobahnen. „Fuß vom Gas!“, heißt es da etwa. Auf deutschen Spielplätzen setzen halbamtliche Spielplatzbeauftragte strenge Sicherheitsnormen für Klettergerüste durch. In jedem nicht-privat genutzten Gebäude gibt es detaillierte Vorschriften für Fluchtwege und noch strengere Vorschriften darüber, welche Schilder und Aufkleber dort angebracht zu sein haben. Auch das ist ein gutes Geschäft für die, die mal einen Kursus als Fluchtweginspektor absolviert haben und berechtigt sind, Fluchtwegprotokolle mit ihrem Stempel zu offizialisieren.
„Was wäre also noch zu verbieten? Das Darkweb? Das Internet?“
Hinter all dem steckt eine zutiefst ambivalente Sicht des Staates und seiner Erfüllungsgehilfen auf „die Leute“. „Die Leute“ sind die Volksmassen ohne Uniform oder um den Hals baumelndes Kärtchen, das jene als Mitglied des Systems über den Rest stellt. Sie betrachten „die Leute“ einerseits mit größtem Misstrauen, andererseits als stets betreuungsbedürftige Subjekte der amtlichen Fürsorge. Es sind „die Leute“, die etwa auf Flughäfen vor Bombenanschlägen zu schützen sind. Es sind aber gleichzeitig dieselben Leute, die unter Generalverdacht stehen, Bomben durch die Kontrolle zu schmuggeln, die also nach Kräften gefilzt, durchleuchtet und abgetastet gehören. Jeder ist dabei gleich und gleichermaßen verdächtig. Dasselbe gilt in Gerichtsgebäuden. Jeder, der ein Strafgericht betreten will, muss sich durchsuchen lassen, auch Journalisten mit Akkreditierungskärtchen. Das müssen sie auch dann, wenn sie als Gerichtsreporter seit Jahren jeden Morgen den immer gleichen Justiz- oder Polizeibeamten oder den uniformierten Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste begegnen. Die Frage, ob so jemand tatsächlich eine Waffe einschmuggeln würde, ist bestenfalls ironisch gemeint. Wagt es aber einer, diese Routine zu hinterfragen, ist sofort Schluss mit Ironie. Da kommt dann immer die heilig-ernste Antwort, es müssten alle gleich behandelt werden. Sonst wäre das ja diskriminierend denen gegenüber, die schärfer kontrolliert würden. Es ist eine entlarvende Antwort. Sie sagt ja in letzter Klarheit, dass es um Sicherheit de facto nicht mehr geht, sondern um alles Mögliche Sonstige.
Nur was? Und wen könnte man danach fragen? Die, die die Regeln machen, bemühen zumeist die Fassade und geben vor, die Simulation sei gar keine. Vielleicht glauben sie das sogar. Gelegentlich aber öffnen sich unbeabsichtigt Zugänge in die Gedankenwelt der Offiziellen. Eine solche Gelegenheit war vor kurzem eine Veranstaltung der „Fachstelle für Demokratie“ der Münchner Stadtverwaltung. Es ging um den Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum im Sommer 2016. Da hatte ein junger Mann mit einer Pistole vom Typ Glock 17 wild um sich geschossen und neun Menschen getötet. Anschließend nahm er sich selber das Leben. Die Waffe hatte er illegal bei einem Waffendealer im hessischen Marburg gekauft. Den hatte er in einem verschlüsselten Forum im sogenannten Darkweb kennengelernt, einer Ecke des Internets, die sich nur mit Aufwand und etwas Vorwissen erreichen lässt. Beide – Amokschütze und Waffendealer – vertraten oder vertreten rechtsextreme Ansichten. Die waren auch das Thema besagter Veranstaltung der Fachstelle für Demokratie. Drei Gutachter diskutierten auf dem Podium mit einer Staatsanwältin, dem Chef der damaligen Kripo-Sonderkommission und einem leitenden Beamten aus dem bayerischen Justizministerium. Alle waren sich einig, dass Rassismus in irgendeiner Weise im Spiel gewesen sein mochte, wenn auch die Staatsanwältin darin nicht das tragende Motiv sehen wollte. Es entspann sich dann eine Diskussion, in deren Verlauf sich auch mehrere Münchner Stadträte zu Wort meldeten. Es ging um die Frage, wie sich derartige Taten „in der Zukunft ausschließen lassen“. Einer der Stadträte schlug vor, man könne doch die Anbahnung solcher Waffengeschäfte im Internet verbieten. Die Reaktion bestand in zustimmendem Kopfnicken bei Podium und Plenum.
In dieser Szene steckt gewisse Komik, wie sie in Momenten versehentlicher Wahrheit gern zutage tritt. Illegale Waffengeschäfte sind ja längst verboten und somit auch der Versuch. Was wäre da also noch zu verbieten? Das Darkweb? Das Internet? Und wohin soll die Frage nach dem Verhindern solcher Verbrechen „in der Zukunft“ eigentlich führen? Wer so fragt verlangt den absoluten Staat, der alles kontrolliert. Er fordert ein System der vorbeugenden, gedankenbasierten Verbrechensbekämpfung wie im Film „Minority Report“ – und dies gerade nicht zum Zwecke der Sicherheit, sondern allein der Simulation von Sicherheit.
„Es ist so normal geworden, dass Stadt und Staat jede Bewegung der Bürger irgendwie betreuen und beaufsichtigen.“
Faktisch, real und simulationsfrei wäre es dagegen, eine Straftat befriedigend aufzuklären. Im Fall des OEZ-Amoklaufs wäre zu fragen, was die Ermittlungsbehörden mit ihrem Wissen im Vorfeld anfingen – oder unterließen. Im Prozess gegen den mutmaßlichen Waffendealer kam nämlich heraus, dass das zuständige Zollfahndungsamt über einen gekaperten Nutzeraccount im Darkweb schon ein Jahr vor dem Amoklauf direkten Kontakt mit dem späteren Amokläufer hatte. Der hatte sich in dem betreffenden Forum bei mehreren Usern nach einer Waffe umgehört, einer Glock 17. Er ahnte wohl nicht, dass sich hinter einem dieser User ein Fahnder verbarg. Wie die Behörde mit dieser Anfrage umging, ist bisher nicht aufgeklärt. Mit anderen ähnlichen Anfragen ging sie so um, dass sie mit ihren Chatpartnern Scheingeschäfte vereinbarte, sie in die Falle lockte, sie festnahm und vor Gericht brachte. Das tat sie auch mit dem Mann, der dem Amokläufer tatsächlich eine Glock 17 nebst Hunderten Schuss Munition verkaufte und der daraufhin angeklagt wurde. Die Fahnder schnappten ihn nur wenige Tage nach dem Amoklauf. Man wüsste schon gern, wie dieser Erfolg zustande kam.
Hier steht nämlich die Frage im Raum, ob eine Behörde vorab von einer Straftat wusste und sie geschehen ließ. Es ist dieselbe unangenehme Frage, die auch seit dem Auffliegen des NSU im Raum steht – angesichts der Dichte von Zuträgern des Verfassungsschutzes im Unterstützersumpf der Neonazi-Terroristen. Derselbe Staat, dessen Regierungschefin maximale Aufklärung versprach, schredderte jedoch genau die Akten, die diese maximale Aufklärung vielleicht ermöglicht hätten. Stattdessen Simulationen zuhauf, von öffentlich finanzierten Programmen „gegen rechts“, zu denen auch die Fachstelle für Demokratie der Stadt München gehört, oder dem von Union und SPD im Bundestag beschlossenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Sie ziehen alle an einem Strang, die Staatlichen, die Offiziellen und die Offiziösen, in Bundestag, Landtagen, Kreis- und Kommunalverwaltungen. Sie verwischen Grenzen zwischen den staatlichen Gewalten und erheben die Simulation von Sicherheit zum Fetisch. Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle haben da wenige Chancen. Sie schreiten alle in dieselbe Richtung. Da muss der Weg doch richtig sein.
Wie bei den Münchner Verkehrsbetrieben mit ihren allmorgendlich überfüllten Bahnsteigen. Es ist ja so normal geworden, dass Stadt und Staat jede Bewegung der Bürger irgendwie betreuen und beaufsichtigen. Niemand sagt mehr etwas dazu. Wirklich niemand? Doch halt: Letztens entspann sich in einem dieser überfüllten U-Bahn-Waggons tatsächlich eine subversive Debatte. Einer fragte: Warum setzen die nicht einfach mehr Züge ein, statt stur ihren Zehnminutentakt zu fahren? Es erhob sich zustimmendes Gemurmel. Dann fuhr der Zug in die nächste Station. Die Fahrgäste drängten aneinander vorbei. Einige stiegen aus, neue kamen hinzu. Es war nur ein kurzer Anflug von Rebellion. Man sollte sich etwas einfallen lassen zur Betreuung der Passagiere auch während der Fahrt.