10.01.2022

Die sexuelle Revolution frisst nicht nur ihre Kinder

Von Sabine Mertens

Wenn wir Sprache und Kultur vor weiterem Schaden bewahren wollen, dürfen wir uns nicht weiter durch die Genderlobby terrorisieren lassen.

„Als Antwort auf die Frage, wer wird da von wem, warum und wie gezeichnet, gibt es Arten von Zeichen, Familien von Zeichen, Klassen von Deklassierungen, von Unarten, Entartungen. Die Erbsünde schlägt da durch, als Erbkrankheit. Das moralisch Böse schlägt da durch, als moralische Seuche. Ansteckend. Das Böse grassiert.“ 1

Bildung, Sicherheit, Sex, Inklusion

Im September 2020 fand in Deutschland die Präsentation des Unesco-Weltbildungsberichts 2 unter dem Titel „Bildung und Inklusion. Für alle heißt für alle“ statt. Der Bericht weist zwar weltweit Armut als das größte Bildungshindernis aus, beeilt sich aber, darauf hinzuweisen, dass auch in den einkommensstarken Staaten Europas und Nordamerikas nicht alles rosig läuft: „[…] auch andere Faktoren limitieren den Zugang zu Bildung. So gaben junge LGBTI in den USA fast drei Mal häufiger als ihre Klassenkameradinnen und -kameraden an, der Schule fernzubleiben, weil sie sich dort nicht sicher fühlten.“

Damit sind gleich zwei für zukünftige Gesellschaften spielentscheidende Kategorien aufgerufen: Bildung und Sicherheit. Zugleich wird Sexualität explizit in einen macht- und wissenschaftsstrategischen Kontext gestellt, und der Unterschied zwischen Privatheit und Politik außer Kraft gesetzt, wodurch der Inklusionsbegriff einen bedrohlichen Unterton erhält.

In den letzten Jahrzehnten lassen sich in Bezug auf das Thema „Geschlechtergerechtigkeit“ hierzulande verschiedene Entwicklungsphasen und Eskalationsstufen ausmachen. Aktuell gipfeln Vorstöße der Genderlobby in dem Versuch, mit konkreten Einzelmaßnahmen in zunehmendem Maße Forderungen nach eindeutigen Geboten und „Grenzen für das Sagbare“ 3 überhaupt zu erheben. Befördert wird dies einerseits durch einen grassierenden Haltungsjournalismus, andererseits durch eine „mediale Allgegenwart“ 4. Diese erlaubt die beliebige Skandalisierung ansonsten eher marginaler, immer aber privater Schnipsel alltäglichen Sozial- und Kommunikationsverhaltens, das ohne mediale Aufmerksamkeit gar nicht in größeren Kreisen beobachtbar geworden wäre. Öffentliches Beleidigtsein und Pranger ersetzen zunehmend den öffentlichen Diskurs. Zudem gelingt es einer weltweiten Kulturelite immer besser, ihre Macht undemokratisch und laufend neue Regeln produzierend in direkten normierenden Einfluss umzumünzen. Sie tut dies, indem sie z.B. moralische Forderungskataloge und Quoten 5 durchsetzt und sich zugleich als Avantgarde einer festgelegten Zukunft für Alle inszeniert. Die Regulierung von Sprache ist dabei ein wichtiger Akt der Machtdemonstration.

„Öffentliches Beleidigtsein und Pranger ersetzen zunehmend den öffentlichen Diskurs.“

Wunsch und Wirklichkeit

Aus der Taufe gehoben von der zweiten Welle der Frauenbewegung, die in einem Aufwasch mit ihren Emanzipationsbestrebungen auch die deutsche Sprache massiv in Frage stellte, häuften sich in der Sprechweise von Politikern in den 1980er Jahren Doppelnennungen wie „Wählerinnen und Wähler“. Frühere feministische Sprachprovokationen wie der Ersatz des Indefinitpronomens „man“ durch „frau“ blieben auf einen harten Kern von Feministen beschränkt. In der Sprache der Bürger konnten sich derlei Extremformen nicht durchsetzen. Ich erinnere mich, dass ich die Dopplungen jahrelang für eine seltsame Sprachallüre hielt, die sicher wieder verschwinden würde, und sie nicht weiter hinterfragte. Ich war Anfang zwanzig, hatte ein Leben zu leben und eine Familie zu ernähren. So entging mir, dass diese Sprachregelung offiziell „eingeführt“ wurde, und zwar von der Unesco, die eine rechtlich selbstständige Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist. Dies wiederum ist eine internationale Körperschaft, die zur historisch gewachsenen globalen Machtarchitektur eines Herrschaftssystems mit eigenen Begriffen und Lenkungsmechanismen gehört. Wenngleich die demokratische Legitimierung fehlt, wirken ihre Gründungsziele – Wahrung des Weltfriedens und internationale Sicherheit sowie die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte – immer noch als kategorischer Imperativ. 6 Sie verleihen ihren Verlautbarungen Autorität und Glaubwürdigkeit, obwohl die Wirklichkeit den erklärten Zielen damals wie heute widerspricht.

Eine für alle

In dem von der Deutschen Unesco-Kommission 1993 herausgegebenen Dokument „Eine Sprache für beide Geschlechter, Richtlinien für einen nicht-sexistischen Sprachgebrauch“ werden die Dopplungen von männlichen und weiblichen Formen nach amerikanischem Vorbild als „Splitting“ bezeichnet, zu Deutsch: Spaltung. 7 Gesagt, getan. Viele Jahre später wird der Erfolg dieser zigfach wiederholten Sprachhandlung schmerzlich spürbar. Die Transformation der von oben induzierten Aufspaltung von Begriffen und Wörtern in eine gesamtgesellschaftliche (Geschlechter-)Spaltung hat etwa ein halbes Jahrhundert gedauert. Jetzt ist sie breite soziale Wirklichkeit geworden, Wörter als Spalt-Tabletten im täglichen Mediencocktail. Die Formulierung in den Richtlinien der Unesco geht auf einen Text von Marlies Hellinger zurück, den sie in Bezug auf die Definition, was „sexistische Sprache“ sei, schon 1980 wortgleich 8 veröffentlicht hatte, also dreizehn Jahre früher, unter dem Titel: „Richtlinien zur Vermeidung sexistischen Sprachgebrauchs“. Die Unesco-Richtlinien tragen also die Handschriften der Begründer einer feministischen Linguistik, deren Ideologie durch die Auftragsarbeit für die Unesco geadelt wurde. Sie konnte nicht zuletzt dadurch politisch weiter Tritt fassen und sich auch strukturell und administrativ niederschlagen.

Mit der Spaltung der Wörter tritt zugleich eine „Verketzerung“ des Geschlechts zutage. Der Begriff „Verketzerung“ markiert in der Sicht der Soziologin Gerburg Treusch-Dieter einen entscheidenden Unterschied zu anderen Positionen im genderfeministischen Diskurs. Nach der Rolle weiblicher Intellektueller befragt, meinte sie: „[…] man verketzert das Geschlecht und meint den Kopf.“ 9 Durch wiederholte spalterische Sprachhandlungen und deren Institutionalisierung verstetigte sich die „Verketzerung“, ja, sie wurde als Strategie ausgrenzenden Sprechens noch ausgeweitet auf weltanschauliche Unterschiede, die über das Geschlecht hinausgehen. Unter der Prämisse, dass Frauen in der Sprache nicht vorkommen, war damals wie heute erklärtes Ziel, sie durch besagte Doppelnennungen und die Verwendung femininer Personenbezeichnungen „sichtbar“ zu machen. 10

„Ich erinnere mich, dass ich die Dopplungen jahrelang für eine seltsame Sprachallüre hielt, die sicher wieder verschwinden würde, und sie nicht weiter hinterfragte.“

Das Verschwinden des Fräuleins

1968 verlief die Diskursrichtung noch von unten nach oben. Die Spezies der Fräulein verschwand aus Sprache und Kultur durch schlichte Nichtbenutzung der Anrede – eine sprachliche Entdifferenzierung von unten. Die Frauen rückten zusammen und stiegen im Status, der nun nicht mehr von ihrem Verhältnis zum Mann bestimmt war. Analog zu Luther rissen die Frauen reihenweise ihre Schandmäuler auf: „Waschen Sie mit dem Maule!“, zitierte Treusch-Dieter in ihrem „Exkurs zur Kulturleistung der Sauberkeit in staatsbürgerlicher Absicht“ Luther. 11 Der Frankfurter Weiberrat gab auf einem Flugblatt die Parole aus: „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen.“ 12

Der rüde Ton änderte sich spätestens mit dem Einzug der Grünen ins Parlament. Durch die Richtungsänderung der Diskurse, die von da an von oben nach unten verliefen, verloren sie ihre emanzipatorische Schlagkraft. Was vormals Aufrichtungs- und potenzielle geistige Sprengkraft war, wandelte sich in Lenkungsmacht, zu der auch die heutige Sprachindoktrinierung zu rechnen ist. Das Oppositionelle der Opposition wurde vom System langsam aber sicher absorbiert, eine Fähigkeit der Selbsterhaltung und Stabilisierung von Systemen überhaupt. Zur Stabilisierung von Elitendemokratien sagt der Psychologe Rainer Mausfeld: „Die Wurzeln dieser Entwicklungen reichen freilich sehr viel weiter zurück, doch haben [die Entwicklungen] sich […] in den letzten Jahrzehnten rapide beschleunigt und institutionell verfestigt. Der mit ihnen verbundene systematisch geplante und betriebene gesellschaftliche Transformationsprozess gleicht in seinen an die Wurzeln gesellschaftlicher Organisation gehenden Auswirkungen einer ‚Revolution von oben‘, also einer Revolution, die ein Projekt ökonomischer Eliten darstellt und der Ausweitung und Verfestigung ihrer Interessen dient.“ 13

Auf ihrem Marsch durch die Institutionen transformierten aber auch die einstigen Außenseiter diese Einrichtungen. Sie setzten Themen und schafften Fakten, direkt aus den Schaltzentralen der Macht heraus. Über etwaigen Widerstand gegen die neuen Sprachregelungen setzten die Feministen sich schon damals mit der herablassenden Attitüde hinweg, Akzeptanz sei lediglich eine Sache der Gewöhnung. 14 So weit vorgedrungen in das Innere der bundesdeutschen, aber auch globalen Machtarchitektur, gaben sie den Sprachkodex heraus, der die Übertragung ihrer „pathogenen Prosa“ 15 in Gesetzestext vorbereiten sollte: „Sprache ist sexistisch, wenn sie Frauen und ihre Leistungen ignoriert […], wenn sie Frauen in Abhängigkeit von oder Unterordnung zu Männern beschreibt und wenn sie Frauen nur in stereotypen Rollen zeigt, […] wenn sie Frauen durch herablassende Ausdrücke demütigt und lächerlich macht.“ 16

„Über etwaigen Widerstand gegen die neuen Sprachregelungen setzten die Feministen sich schon damals mit der herablassenden Attitüde hinweg, Akzeptanz sei lediglich eine Sache der Gewöhnung.“

Dieses feministische Paradigma macht unmissverständlich klar, dass es globale Gültigkeit beansprucht. Kein Zeitraum kleiner als eine Ewigkeit würde ausreichen, um unter diesen Maßgaben eine auch nur annähernd akzeptable soziale Wirklichkeit zu erreichen. Die Forderungen nach „nicht-sexistischer“ Sprache zielen auf nichts Geringeres als die zentralen, gewachsenen Kulturtechniken einer jeden Sprachgemeinschaft, wo auch immer in der Welt sie heimisch sein mag: ihr menschheitsgeschichtliches Sosein. Die Gesamtheit ihrer Ausdrucksformen. Ihre Instrumente politischer, ökonomischer, sozialer Anerkennung. Ihre Rollenverteilung, nicht nur im Geschlechterverhältnis. Ihre Formen der Machtausübung, ihre Sicherheitsgefüge. Nicht zuletzt ihr Überlebenspotenzial zur Verarbeitung der menschlichen Unzulänglichkeit – den Humor. Die pompöse Forderung nach nicht-sexistischem Sprachgebrauch macht augenblicklich all jene zu Sonderlingen und folglich zu Ausgesonderten, die sich dem neuen Dogma nicht ausdrücklich verschreiben, und gibt sie zur sozialen Ächtung frei.

Sex, drugs and birthcontrol

Die „Verketzerung“ des Geschlechts setzte sich fort, als 1995 auf der „Weltfrauenkonferenz“ in Peking das Konzept des sogenannten Gender-Mainstreaming in der WHO verankert wurde. Einen Eindruck von der Gemengelage gibt die Theologin Ruth Heß im Evangelischen Pressedienst (epd):

„Mit der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking ist er also in der Welt – der neue ‚Kulturkampf‘ um Geschlechterpolitik und mit ihm ‚Anti-Gender‘. Dessen formale Mechanismen liegen 1995 bereits vollständig vor. Es sind dies u. a. zweifelhafte politische Bündnisse [Allianz zwischen christlich- und islamisch-fundamentalistischen Kräften]; diskursive Dominanz durch Rollen­umkehr, Projektionen und Halbwahrheiten, eine taktische Modernisierung zu anti-modernen Zwecken [Vatikan] und – vor allem – der Kampf um Begriffe und Konzepte, der enorme politische Energien bindet und von den eigentlichen Sachfragen ablenkt.“ 17

Der besagte Kulturkampf bezog sich vor allem auf die Begriffe sex und gender, die bis dato bei den Konferenzen synonym verwendet worden waren, von nun an aber das biologische Geschlecht (sex) und das „soziale Geschlecht“ (gender) meinen sollten. Historisch ist der (Geschlechter-)Rollenbegriff wohl am ehesten in Bezug zur Soziologie als Grundwissenschaft zu verstehen. Soziologische Rollentheorie (Talcott Parsons), Symbolischer Interaktionismus (G. H. Mead), und Homo Sociologicus (Ralf Dahrendorf) waren schon damals diskursiv gesicherter Bestandteil des Wissens­kanons, die Neubesetzung der Begriffe sex und gender im Sinne der dekonstruktivistischen Theorie einer Shulamith Firestone oder Judith Butler hingegen nicht. Diese Sex und Gender unterscheidende Sprachhandlung produzierte eine Ad-hoc-Gleichstellung genderfeministischer Hypothesen mit anerkannten Theorien. Ein Trickbetrug, denn hier wurde das Ergebnis eines Diskurses vorweggenommen, der gar nicht geführt worden war. Den daraus folgenden Etikettenschwindel vorausgesetzt, wurde die neue politische Stoßrichtung wenig später in Deutschland und der EU unter dem Begriff Gender-Mainstreaming gleich im größtmöglichen Maßstab, als „Querschnittsaufgabe“, implementiert.

„Die pompöse Forderung nach nicht-sexistischem Sprachgebrauch macht augenblicklich all jene zu Sonderlingen und folglich zu Ausgesonderten, die sich dem neuen Dogma nicht ausdrücklich verschreiben, und gibt sie zur sozialen Ächtung frei.“

Aus einer anthropologisch-historischen Metaperspektive zur akuten Gemengelage kommentierte die Soziologin Gerburg Treusch-Dieter die Weltfrauenkonferenz, als sie in ihrem Beitrag „Nachrichten vom weiblichen Exerzierplatz des Friedens“ auf die Geschlechterdifferenz im Umgang mit dem Tod hinwies und schloss: „Kein Zweifel, daß die Frau an dieser [ihrer eigenen] Entwertung grundlegend beteiligt ist. Ein ‚weibliches Innovationspotential‘ der Zukunft muß sich darum in erster Linie auf Alternativen zum bisherigen Emanzipations- und Modernisierungskonzept besinnen. Der Ausgangspunkt dieser Alternativen aber kann kein anderer sein als der, daß sich die Frau selbst einen Wert zuspricht, indem sie sich vom Richtmaß männlicher Gleichungen löst und sich mit der strukturellen Gewalt ihres gewaltvermeidenden und -verschweigenden ‚Kulturmusters‘ konfrontiert, von dem sie heute, durch ihre lange Geschichte der Selbstentwertung, vor allem getötet wird.“ 18

„Vielfalt“ als Vorwand

Im heutigen Stand der Gender-(sprach-)Doktrin 19 spiegelt sich immer noch die Maßgabe des WHO-Grundsatzprogramms wider, alle Prozesse des gesellschaftlichen Lebens unter dem Aspekt des Geschlechterunterschieds zu sehen. Es gilt, die Geschlechterspaltung in allen Prozessen abzubilden: „Gender Mainstreaming bezeichnet die Verpflichtung, bei allen Entscheidungen die unterschiedlichen Auswirkungen auf Männer und Frauen in den Blick zu nehmen.“ 20 Andererseits ist der Genderbegriff ausreichend bedeutungsoffen, um mühelos eine wachsende Zahl weiterer Geschlechtsidentitäten in sich aufzunehmen. Der so weit gesteckte Bedeutungsrahmen des Genderbegriffs erlaubt es, das Kernanliegen des Genderfeminismus – die Dekonstruktion der Sex-Gender-Differenz 21 – als „work in progress“ laufend zu verändern. So muss man, der dem Feminismusbegriff vorangestellte Genderbegriff legt es nahe, inzwischen auch die äußerst aggressiv auftretende Trans-Bewegung miteinrechnen, und zwar sowohl die Verfechter der Transsexualität wie auch diejenigen, die den menschlichen Körper gänzlich überschreiten wollen: die Transhumanisten.

Vor diesem Hintergrund rückt der Begriff „Vielfalt“ (Diversity) in den Fokus. Er wird fälschlicherweise oft synonym für Freiheit und Selbstbestimmung verwendet und hat als politischer Kampfbegriff einen krassen Bedeutungswandel erfahren. Genderfeminismus resp. Queer-Theorie nehmen ihn für sich in Anspruch. Vielfalt soll z.B. als „geschlechtliche Vielfalt“ immer und überall sichtbar und hörbar gemacht werden. Ihr Zeichen und Symbol ist das geschriebene und gesprochene Sternchen (neuerdings auch wieder der Doppelpunkt) in Wörtern. Beide haben zwar bisher keinen Eingang in die Alltagssprache gefunden, sind aber gerade dabei, die anderen Zeichen für die Geschlechterkluft (gender gap) zu ersetzen (Binnen-I, Schrägstrich, Unterstrich usw.).

„Der Begriff ‚Vielfalt‘ (Diversity) wird fälschlicherweise oft synonym für Freiheit und Selbstbestimmung verwendet und hat als politischer Kampfbegriff einen krassen Bedeutungswandel erfahren.“

Der Stern soll Geschlechtervielfalt markieren, er fungiert als Platzhalter für die beliebig Vielen und alle Möglichen unter der Sonne. Er soll, ebenso wie andere geschlechtsneutralisierende Formen, ausdrücklich auch „non-binäre Menschen“ ansprechen, sie nicht nur „mitmeinen“. Queer-Theorie übersteigt hier den Genderfeminismus und gebärdet sich als höhere Ordnung, wobei „Geschlechtergerechtigkeit“ zum Gebot der Geschlechtsneutralität wird. Die Broschüre „Abinäre Personen in der Beratung – Eine praktische Handreichung für Berater*innen und Multiplikator*innen“ 22 gibt einen Eindruck vom heutigen Stand der Erwachsenenbildung im Gendersektor. Das Heft ist gefördert aus Mitteln des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Es liefert u.a. Formulierungshilfen für den Umgang von Beratern mit „abinären Personen“: „Hallo, ich bin die Therapeut*in Hanna Özgül. Mein bevorzugtes Pronomen ist ‚sier‘ [sic]. Wie darf ich Sie ansprechen? Welches Pronomen darf ich für Sie nutzen?“

Unter der Überschrift: „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft?“ bemerkte Wolfgang Thierse in der F.A.Z.: „Die Forderung nach nicht nur gendersensibler, sondern überhaupt minderheitensensibler Sprache erleichtert gemeinschaftsbildende Kommunikation nicht in jedem Fall. Wenn Hochschullehrer sich zaghaft und unsicher erkundigen müssen, wie ihre Studierenden angeredet werden möchten, ob mit ‚Frau‘ oder ‚Herr‘ oder ‚Mensch‘, mit ‚er‘ oder ‚sie‘ oder ‚es‘, dann ist das keine Harmlosigkeit mehr. Und diejenigen, die das für eine Übertreibung halten, sind nicht einfach reaktionär, so wenig wie die es sind, die sich gegen Reglementierungen von Sprache per Anordnung oder per Verboten wenden.“ 23

Kulturkampf und Sabotage

Die unter dem Überbegriff „Geschlechtergerechtigkeit“ versammelten diversen Identitätsgruppen sehen sich einerseits als Opfer eines unterdrückerischen, hierarchischen Systems, andererseits als kulturelle Vorkämpfer für grenzenlose Freiheit und Selbstbestimmung. Das Hamburger Kampnagel, das sich selbst als „internationales Zentrum für schöne Künste in einer globalisierten Welt“ beschreibt, wartet auf seiner Netzseite mit einer langen „Förder*innenliste“ von (staatlichen) Institutionen auf. Hier wird die Kampfansage an Binarität und Heteronormativität zum kulturellen Imperativ stilisiert und das Feindbild der gefühlt intersektional Diskriminierten klar formuliert: „Queerness [heißt] auch, nicht nur Heteronormativität infrage zu stellen, sondern auch andere Normen unserer Gesellschaft. An dieser Stelle kommt die Figur des ‚weißen, heterosexuellen, nicht-behinderten, bio-deutschen cis-Mannes‘ [sic] ins Spiel …“ Es gehe darum zu verstehen, „dass diese Figur in unserer Gesellschaft oft als Norm angenommen wird – sei es in den Medien, in der medizinischen Forschung, in der Schule, etc. [sic] – während alles andere als Extrafall gilt.“ 24 An einer solchen Norm möchte man sich nicht messen lassen. Im Zuge der Gleichberechtigung, die für alle gilt, wird „diese Norm in queerer Praxis auseinandergenommen und hinterfragt.“ 25 Ein neuer Kampfbegriff ist in der Welt: „verqueeren“.

„Die unter dem Überbegriff ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ versammelten diversen Identitätsgruppen sehen sich einerseits als Opfer eines unterdrückerischen, hierarchischen Systems, andererseits als kulturelle Vorkämpfer für grenzenlose Freiheit und Selbstbestimmung.“

In der Praxis des „Verqueerens“ zeigt sich der tyrannische Charakter dieser Aktionisten. Qua Guerillataktik treiben sie die eigene „Befreiung“ durch Querstellen, also Sabotage, durch Indoktrinierung, Bevormundung, Rechthaberei und den Ruf nach Regulierung von allem und jedem voran. Politisch unliebsame, ob tatsächliche oder nur „gefühlte“ Gegner, werden nicht nur mundtot gemacht. Pranger, Rufmord, virtuelle Bücherverbrennung und Todesanzeigen, z.B. wegen (unterstellter) Transfeindlichkeit, zielen eher auf Existenzvernichtung von Kritikern denn auf demokratischen Diskurs. 26 Zugleich wird versucht, medizinische und rechtliche Hürden für die „sexuelle Selbstbestimmung“ abzubauen. „Weltweit unternehmen Transgender-Aktivisten derzeit Anstrengungen, die Trennung von Geschlecht und Körper in nationalen Gesetzen zu verankern.“ 27

Queer sein bedeutet „Aushebeln von Hierarchien und Machtstrukturen“. 28 Die Queertheorie fokussiert strategisch auf weltweiten Umsturz: „Es ist ein globales Politikum geworden, wie wir der Frage der sexuellen Rechte und der geschlechtsspezifischen ‚Identität‘ im 21. Jahrhundert begegnen wollen.“ 29 Die Gefahr der Zerstörung gewachsener sozialer Ordnungen nehmen die Aktivisten nicht nur billigend in Kauf, sondern streben sie an. Die zunehmende Verwirrung und Zermürbung ihrer Gegner befördert derweil die weitere Destabilisierung ganzer Gesellschaftssysteme und spielt auch der Machtkonzentration auf eine globale Machtelite mit wenigen Megakonzernen in die Hände.

Im öffentlichen Raum erscheinen die verschiedenen sexuell fokussierten Identitätsgruppen allenfalls als amorpher Schwarm mit diffusen Rändern, wenn sie überhaupt zusammen wahrgenommen werden. Sie formen temporär wechselnde Allianzen, geben sich weltoffen und lassen bewusst unklar, wer noch dazukommt, wie eine Netzseite des Deutschen Kinderhilfe e.V. zeichensprachlich deutlich macht: „Was ist LGBTQI+?“ 30 Das Pluszeichen an dieser Stelle geht als Platzhalter für alle Zukünftigen auf Grund seiner dynamischen Richtung hier noch über das Sternchen hinaus.

Das Potemkinsche Sprachdorf

Vor diesem Hintergrund muss man denn auch die aktuellen Zankäpfel verstehen, die sich nur scheinbar ausschließlich auf sprachliche Aspekte beziehen. Das sind der Versuch von Medien und ÖR, das geschriebene und gesprochene Gendersternchen gängig zu machen 31, sowie der des Duden, das generische Maskulinum abzuschaffen. 32 Das Sternchen soll die „Genderlücke“ sichtbar und hörbar machen, ja die Vielfalt an sich. Es soll zukünftig im Sprachgebrauch das generische Maskulinum ersetzen. In diesem Zusammenhang geben sich die zwangsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien als Speerspitze im „Kampf für Geschlechtergerechtigkeit“ von oben nach unten gegen die Sprachgemeinschaft. Damit ignorieren sie ein zentrales Gebot ihres Auftrags: die Verpflichtung zur politischen Neutralität. Nicht nur zur besten Sendezeit in den Nachrichtenformaten von ARD, ZDF, DLF hört man die gesprochene „Geschlechterlücke“. Sie soll die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die sattsam bekannte Tatsache lenken, dass es außer Männern auch noch Frauen gibt sowie zahlreiche weitere „Opfer“ von allerlei Ungerechtigkeiten.

„Pranger, Rufmord, virtuelle Bücherverbrennung und Todesanzeigen, z.B. wegen (unterstellter) Transfeindlichkeit, zielen eher auf Existenzvernichtung von Kritikern denn auf demokratischen Diskurs.“

Das generische Maskulinum ist (wie die beiden anderen generischen Formen Femininum und Neutrum auch) so bedeutungsoffen, dass nicht entschieden werden kann (oder muss), welche weiteren Eigenschaften etwas Bezeichnetem zukommen, außer einem Verweis infolge von Beobachtung und Unterscheidung: Fahrer fahren, Studenten studieren, Käufer kaufen usw. Diese Bedeutungsoffenheit ist zunächst schon allein sprachökonomisch angebracht. Die Begriffe bieten viel „Signal“ 33 (Informationsgehalt). Sprecher, die sich gegendert, also ideologisch, ausdrücken, machen diese sinnvolle Uneindeutigkeit gewaltsam zunichte, indem sie einem Wort Zeichen und Symbole beimengen, die auf irrelevante Inhalte verweisen. Dadurch verwischen sie den Informationsgehalt und überfrachten die Sprache mit „Rauschen“ 34.

Der DLF bietet seine Bühne gern dem Duden für dessen Rollenwechsel vom Beobachter der allgemeinen Sprachentwicklung zum Propagandisten einer politisch gewünschten Pseudosprache. Der Duden lässt seine Redaktionsleiterin über den Umbau seines Online-Nachschlagewerks kurzerhand behaupten, die männlichen Formen seien „nie geschlechtsneutral“ gewesen: „Wir präzisieren im Rahmen unserer kontinuierlichen redaktionellen Arbeit an unseren Inhalten lediglich die Bedeutungsangaben“. 35 Danach ist ein Eigentürmer nicht mehr eine Person, die etwas besitzt, Geschlecht unbekannt, sondern eine „männliche Person, die eine Sache als Eigentum hat“. Wenngleich diese Aussage sachlich falsch ist, und die Sprachgemeinschaft erwiesenermaßen weder so spricht noch das generische Maskulinum so auffasst, behauptet die Chefredakteurin immer noch: „Beim Duden bilden wir die Regeln ab, die die Sprachgemeinschaft macht. Wir beobachten, welche Formen sich herausbilden, und das beschreiben wir.“ 36

In dieser Atmosphäre fühlen Bürger sich zunehmend verunsichert, da sie von solchen Normierungsmaßnahmen an ihrer Sprache stark betroffen, aber nicht an ihnen beteiligt sind. Ihre individuelle Entscheidung, solche Bevormundung, ja Kolonialisierung des Geistes lieber zähneknirschend zu ertragen, als durch individuelle Gegenwehr „Exkommunikation“ zu riskieren, verbucht die Genderlobby dann als „zunehmende Verbreitung“ der Gendersprache. Dabei handelt es sich lediglich um ein von Politik und Verwaltungen selbst konstruiertes Potemkinsches Dorf. Es soll eine soziale Wirklichkeit vorgaukeln, die es so nicht gibt.

„Die zwangsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien ignorieren ein zentrales Gebot ihres Auftrags: die Verpflichtung zur politischen Neutralität.“

Instrumentalisierung von Umfragen

Befragungen zur Akzeptanz von Gendersprache gibt es schon seit den Anfängen der Frauenbewegung. Zuletzt führte Infratest dimap 2020 eine Umfrage für die Welt am Sonntag durch. 37 Wie in allen anderen Umfragen des letzten halben Jahrhunderts sprachen sich auch hier die Teilnehmer mehrheitlich gegen die Gendersprache aus. Allerdings war es diesmal eine knappere Mehrheit als bislang, was an der zweifelhaften Fragestellung gelegen haben könnte. Die Teilnehmer konnten sich lediglich zwischen zwei konkreten Genderformen entscheiden. Formen mit dem Binnen-I, bei denen die Lücke durch eine kurze Pause hörbar gemacht wird, und dem substantivierten Partizip wie in „Studierende“. Die Fragestellung lautete: „Wie stehen Sie zur Nutzung einer solchen Gendersprache in Presse, Radio und Fernsehen sowie bei öffentlichen Anlässen?“ Durch diese Formulierung wurde gleichsam das Standardhochdeutsche mit seinen drei generischen Formen dem Genderdiskurs entzogen. Dabei repräsentiert es ja gerade durch seine generischen Formen die Urform „geschlechtsneutraler“ Sprache. In dem Begleittext zur o.g. Infratest-dimap-Umfrage 38 wird auf die abgefragten Möglichkeiten, die eindeutig aus dem genderfeministischen Baukasten stammen, als „genderneutrale Sprache“ Bezug genommen. Dieser Begriff besorgt augenblicklich eine Diskursverschiebung. Das verketzerte Geschlecht wird neutralisiert. Dadurch wird einmal mehr die Polarisierung zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Fortschrittlichen und Rückwärtsgewandten, Linken und Rechten, Machtausübenden und Machtunterworfenen verstärkt.

Weiter heißt es zusammenfassend: „Gegenüber der Verwendung einer genderneutralen Sprache in Medien und Öffentlichkeit bestehen bei den Deutschen Vorbehalte.“ Ein Zeugnis der Rückständigkeit wird hier ausgestellt, und: „Offener gegenüber einer genderneutralen Sprache zeigen sich die jüngeren Bürgerinnen und Bürger […]“. Zum Schluss: „In den politischen Lagern bestehen Vorbehalte bei den Anhängerschaften von AfD (64 Prozent), FDP (76 Prozent) und CDU (64 Prozent). Aber auch unter den SPD-Anhängern überwiegt die Ablehnung (42 zu 54 Prozent). Dagegen sind in den Reihen von Grünen- und Linken-Wählern jeweils die Fürsprecher einer genderneutralen Sprache in der Mehrheit. Aber auch von ihnen stehen jeweils etwa vier von zehn ihrer Verwendung ablehnend gegenüber.“ Man beachte die beiläufige Skandalisierung der bisher von der Mehrheit der Sprachgemeinschaft anerkannten Standardsprache durch Kopplung an die verfemte AfD und deren Listung an erster Stelle der genannten Parteien. Weder alphabetisch, noch vom Zahlenergebnis her, noch vom Alter und Standing der Parteien ergibt diese Rangfolge Sinn. Sie dient lediglich der Aufmerksamkeitslenkung: Standardhochdeutsch und generisches Maskulinum sind rechts und gefährlich, Gendersprache ist gut, jung und zukünftig.

Der genderfeministische Sprachgebrauch tendiert mal zur Betonung der Geschlechter im Sinne der ursprünglichen Absicht, „Frauen sichtbar zu machen“, dann zur (Re-)Neutralisierung der Geschlechter im Sinne der Vielfaltsideologie. „Non-binäre“ fühlen sich weder durch Doppelnennungen noch Binnen-I oder Unterstrich angemessen gewürdigt. Immer wieder treten neue Opferidentitätsgruppen aus dem intersektionalen Spektrum hervor, und es entstehen neue Opferhierarchien. Für all jene ist der gemeinsame Feind das generische Maskulinum. Die Genderlobby arbeitet unversöhnlich darauf hin, es dem Sprachgebrauch auszutreiben. Durch Dauerbeschuss bringt sie es auf immer absurdere Weise in Verruf.

„Sprecher, die sich gegendert, also ideologisch, ausdrücken, verwischen den Informationsgehalt und überfrachten die Sprache mit ‚Rauschen‘.“

Bullys auf dem Schulhof der Demokratie

Seit der Streichung des generischen Maskulinums aus seiner Onlineausgabe arbeitet der Duden also nicht mehr deskriptiv, sondern interventionistisch, indem er versucht, eine soziale Wunschwirklichkeit zu fabrizieren. In diesem Sinne, so könnte man meinen, habe auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern (ÖR) ein grundlegender Wandel stattgefunden, in dessen Verlauf Bildungsauftrag, Informationspflicht, Pflicht zur Ausgewogenheit und Neutralitätsgebot aufgegeben wurden. Beobachtbar ist aber im Gegenteil, dass die ÖR allen Massenprotesten zum Trotz den Bildungsauftrag im Sinne der elitären Machtausübung nun umso ernster nehmen. Sie verstärken ihre volkserzieherischen Anstrengungen noch, je mehr sich herausstellt, dass Bürger die ihnen verbliebenen demokratischen Freiräume nutzen, um sich der Sprachdoktrin zu entziehen oder sich ihr gar zu widersetzen.

Die Manipulationstechniken von Machteliten zielen „auf weit mehr als nur auf politische Meinungen. Sie zielen auf […] Formung aller Aspekte, die unser politisches, gesellschaftliches und kulturelles Leben betreffen sowie auch unsere individuellen Lebensformen. Sie zielen gewissermaßen auf die Schaffung eines ‚neuen Menschen‘, dessen gesellschaftliches Leben in der Rolle des politisch apathischen Konsumenten aufgeht.“ 39 Der Bundesfinanzminister Olaf Scholz demonstrierte beim SPD Debattencamp12/20, wie perfekt er die Manipulation durch Sprache beherrscht. Den politisch erwünschten Rollenwechsel der Geschlechter propagierte er gekonnt beiläufig: „[…] wenn jemand eine tolle Arbeit machen will, als Altenpfleger oder Handwerkerin [...].“ Durch den Gebrauch respektive das Weglassen eines einzigen Suffixes kodierte er das biologische Geschlecht geradezu in die Berufs- und Funktionsbezeichnungen hinein. So unternimmt es ja auch der Duden mit seinem Online-Werk.

Der (elitäre) Mitläufer als beständige Sozialfigur

Man trifft auf allen Ebenen des sozialen Raums Fürsprecher der Gendersprache, Kader der genderfeministischen Ideologie ebenso wie Mitläufer. Selbst die klügsten Zeitgenossen bedienen sich der Gendersprache. Manche sogar widerwillig, aber sie tun es, „weil man das ja jetzt so macht“. Ich habe mich oft gefragt, wie es kommt, dass die Gendersprache überhaupt so viel Land gewinnen, und wie es geschehen konnte, dass sich so viele kluge Leute dieser Spracherziehung kampflos ergeben. Ich hatte gedacht, Klugheit und genderfeministische Sprache schlössen sich gegenseitig aus. Aber ob man so spricht oder nicht, hat wohl weniger mit Klugheit oder Dummheit zu tun, sondern mit Status und Sozialverhalten. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass gerade Intellektuelle oder Menschen, die gerne zu diesem Sozialtyp gehören würden, sich dieser abgehobenen Sondersprache bedienen. Sie manifestieren damit ihre Zugehörigkeit zu einer Machtelite, deren Ausdrucksweisen ein Distinktionsmerkmal sind. Es trägt zur Vergewisserung und Sicherung ihres Status in der Hackordnung bei.

„Ob man so spricht oder nicht, hat wohl weniger mit Klugheit oder Dummheit zu tun, sondern mit Status und Sozialverhalten.“

Nach dem Soziologen und Sozialphilosophen Pierre Bourdieu ist der Intellektuelle eine Sozialfigur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Intellektuelle ist eine Persönlichkeit, die durch ihr wissenschaftlich oder künstlerisch erworbenes Ansehen als Anwalt des Allgemeinen die politische Öffentlichkeit zur kritischen Intervention gegenüber dem Staat oder den Herrschenden nutzt. Die soziale Ordnung, die sich in diesem Verhältnis ausdrückt, hat sich mit dem Verschwinden des Intellektuellen als Sozialtyp nicht verflüchtigt, sondern geradezu umgekehrt. Nun tritt der Staat selbst mit seinen Verwaltungen als Anwalt eines Pseudo-Allgemeinen seinen Bürgern entgegen, aber nicht mit der Aufforderung zur kritischen Intervention, sondern mit der Forderung zum (Sprach-)Gehorsam. Grüß den Gesslerhut, sobald du den Mund aufmachst!

Brennholz für die Cancel Culture

In jedem Interview, das ich zum Thema führe, wird mir aufs Neue deutlich, dass der rein linguistische Diskurs zu Tode geführt ist, und man trefflicher nur noch von einem Schlagabtausch sprechen sollte. Diejenigen, die die „Revolution von oben“ betreiben, Funktionäre und Mitläufer, die „nur“ ihrer Arbeit nachgehen, sind offenbar nicht an einer echten Diskussion interessiert, sondern wollen nur den permanenten Streit befeuern.

Unlängst hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, mich in einer Schaltung mit dem obersten Moralapostel der Genderlinguistik zu befinden. 40 Nach meinem Empfinden waren seine Hauptstrategien Pauschalisierung, Verbreitung von Fake News und das Zurschaustellen respektive die Verbreitung von Ekel vor mir als der „Andersdenkenden“. Er sprach mich nicht persönlich an, sondern sprach nur über mich. Vielleicht wollte er mir zu verstehen geben, dass er mich für rechten Abschaum hält, von dem er sich und die Umwelt reinhalten will. Dahingehend diskreditierte er mich fortwährend. Er hatte seinen Habitus und seine Argumentationsweise gut vorbereitet, versuchte andere mutwillig misszuverstehen und meinen Kollegen wie mir die Kompetenz komplett abzusprechen. Während er alle Aussagen möglichst eng auslegte, gab er sich selbst allwissend. Das sind die Rahmenbedingungen für die „Cancel Culture“. Redaktion und Technik unterstützen ihn nach Kräften dabei. Die Skypetechnik hätte es wohl hergegeben, dass alle Gesprächspartner einander hätten sehen können. So geht Konferenzschaltung. Allerdings hatte die Redaktion es so eingerichtet, dass ich weder die Moderatorin noch den mir zugedachten Gesprächspartner, geschweige denn beide zusammen sehen konnte.

Die Atmosphäre der öffentlichen Meinungsäußerung ist schon so vergiftet, dass der zuvor erwähnte Text von Wolfgang Thierse in der FAZ einen veritablen Sturm der Entrüstung im Netz erntete. „Wieviel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um? Sehr grundsätzlich gesagt: Ethnische, kulturelle, religiös-weltanschauliche Pluralität, die auch in Deutschland zunimmt, ist keine Idylle, sondern ist voller Streit und Konfliktpotenzial. Wenn Vielfalt friedlich gelebt werden soll, dann muss diese Pluralität mehr sein als das bloße Nebeneinander sich voneinander nicht nur unterscheidender, sondern auch abgrenzender Minderheiten und Identitäten.“ 41 Um diese Einlassungen als „neurechten Sprech“ zu verorten, wie es die Queer-Gemeinde tat 42, müssen die Maßstäbe für „rechts“ schon bis zur Unkenntlichkeit verschoben sein. Eine zukunftsfähige Demokratie braucht offene Debattenräume für eine humanistische Wende.

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