01.01.2006
Die Schaffung des alltäglichen Ausnahmezustandes
Analyse von Kai Rogusch
Kai Rogusch bewertet das Luftsicherheitsgesetz als untauglichen Versuch der Regelung eines „absoluten Dilemmas“.
In den letzten Jahren sind beklemmende Grenzfragen unserer Existenz immer stärker in den Mittelpunkt der Debatten über den Zustand unserer Gesellschaft sowie der Politik gerückt. Zuweilen wird die öffentliche Beschäftigung mit einem Thema durch einzelne Ereignisse und Randphänomene ausgelöst, die dann beinahe über Nacht zu einer zentralen Frage aufgebläht und einer politischen oder rechtlichen Lösung zugeführt werden sollen. Auffällig hierbei ist, dass der so mehr oder minder plötzlich entstehende unmittelbare „Problemdruck“ Lösungen suggeriert, deren Konsequenzen weit über den Rahmen des ursprünglichen Ereignisses hinausgehen und an die Grundfesten unserer Vorstellungen von Gesellschaft und individueller Freiheit rühren. Dass Diskussionen über Rechtsfragen heute immer stärker durch Extreme geprägt werden, ist sehr bezeichnend für unser gegenwärtiges morbides politisches Klima. Die scheinbar „drängenden Zukunftsfragen“ drehen sich zusehends um „Worst-Case-Szenarios“ und „Was-wäre-wenn-Fragen“, zu deren Beantwortung der komplette politische Apparat in Gang gesetzt wird.
Ein gutes Beispiel für die Verselbständigung einer Debatte über ein eher kleines Extremereignis sind die seit fast drei Jahren anhaltenden Auseinandersetzungen über die Neufassung des „Luftsicherheitsgesetzes“. Ausgangspunkt hierfür war ein offenbar geistig verwirrter Motorseglerpilot, der am 5. Januar 2003 mit seiner Maschine plötzlich über der Innenstadt von Frankfurt am Main auftauchte. Der Zwischenfall endete letztlich glimpflich und ohne Verletzte, löste aber eine hitzige politische Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Innern sowie über die Fragestellung aus, wie mit einem zu Terrorzwecken entführten vollbesetzten Passagierflugzeug verfahren werden solle, dass sich etwa einer Großstadt oder einer sensiblen Einrichtung nähere. Das Bundesverfassungsgericht hat nun über die Frage zu entscheiden, ob es gegen fundamentale Prinzipien unserer freiheitlichen Gesellschaft verstößt, dem Bundesverteidigungsminister die gesetzliche Befugnis zum Abschuss eines Passagierflugzeug zu erteilen, um Hunderte oder gar Tausende anderer Bürger zu retten, die sich in einem Hochhaus oder in der Nähe eines Atomkraftwerkes befinden.
Im Kern stellt die Diskussion über das Luftsicherheitsgesetz die Frage, ob man die Tötung von an einer Straftat unbeteiligten Bürgern (hier der „ohnehin schon dem Tod geweihten Passagiere“) zur Rettung anderer Menschenleben legalisieren kann. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Altliberale Burkhard Hirsch meint, eine derartige Legalisierung würde letztlich den Präzedenzfall dafür schaffen, etwa alten Menschen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden und somit „dem Tode geweiht“ seien, ihre Organe zu entnehmen, um sie jüngeren, hoffnungsvolleren Menschen einzupflanzen.
Auf diese Argumentation stützt sich die Verfassungsbeschwerde von vier Rechtsanwälten, einem Patentanwalt und einem Flugkapitän, die aus privaten und beruflichen Gründen häufig Flugzeuge benutzen und sich durch die drastischen Eingriffsmöglichkeiten des Luftsicherheitsgesetzes in ihren Grundrechten auf Menschenwürde und Leben verletzt sehen. Das Luftsicherheitsgesetz mache sie zu bloßen Objekten staatlichen Handelns, da der Gesetzgeber sie im Falle einer von dem von ihnen benutzten Flugzeug ausgehenden terroristischen Bedrohung bereits „abgeschrieben“ habe. Auf diese Weise, so die Argumentation der Beschwerdeführer, würden Wert und Erhaltung ihres Lebens durch die angegriffenen §§ 13 bis 15 LuftSiG unter mengenmäßigen Gesichtspunkten und nach der ihnen „den Umständen nach“ vermutlich verbliebenen Lebenserwartung in das Ermessen des Bundesministers der Verteidigung gestellt. Keinesfalls dürfe aber der Staat eine Mehrheit seiner Bürger dadurch schützen, dass er eine Minderheit vorsätzlich tötet. Sonst drohe der Rückfall ins Mittelalter mit der damit einhergehenden Billigung von „Menschenopfern“.
In der Tat geht die gegenwärtige Terrorbekämpfung an unsere rechtsstaatliche Substanz. Ob die von den Beschwerdeführern geäußerten drastischen Argumente gegen das Luftsicherheitsgesetz fundiert sind, ist dennoch zweifelhaft. Die Befürworter des Gesetzes argumentieren, dass nicht der Staat die Flugzeugpassagiere zum Objekt mache, sondern vielmehr die Entführer deren Menschenwürde verletzten. Wenn der Staat nicht handelte, dann stürben die Menschen im Hochhaus. Deshalb dürfe der Staat versuchen, die Katastrophe abzumildern. Es gehe nicht um die Frage, 500 oder 600 Tote, sondern um die Alternative: handeln oder 1100 Tote. Den Opfern geschehe kein Recht, aber der Verteidigungsminister und der Pilot der Luftwaffe handelten rechtmäßig.
„Das Luftsicherheitsgesetz ist ein Schritt auf dem Weg hin zu einer Reorganisation unserer Gesellschaft um den ‚Ausnahmezustand‘.“
Die Gegner des Luftsicherheitsgesetzes wenden wiederum ein, dass es für einen Piloten der Luftwaffe sehr schwierig einzuschätzen sei, ob eine Passagiermaschine tatsächlich zu einem terroristisch motivierten Absturz missbraucht werden soll. Zudem verweisen sie auf die „praktischen“ Schwierigkeiten eines Flugzeugabschusses. Das Problem habe sich am 11. September gezeigt: Wenn das Flugzeug wie hier auf ein Gebäude zuraste, hätte der Pilot der Luftwaffe die Maschine über der Millionenstadt abschießen müssen. Der ehemalige General Hermann Hagena, früher selbst einmal Kampfpilot, verweist darauf, wie schwierig es für einen Kampfpiloten sei, den richtigen Moment für einen Abschuss zu wählen: „Er muss ein gewisses Risiko eingehen, aber er wird mit Sicherheit nicht zu früh schießen wollen. Er wird also warten, bis also aus seiner Sicht sicher ist, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht und nur durch einen scharfen Schuss abgewendet werden kann. Er muss aber auch so früh schießen, dass er eine Chance hat, das Flugzeug so zu beschädigen, dass es seinen Flug nicht mehr fortsetzen kann.“
Je später der Pilot auf Befehl schieße, desto größer werde also die Gefahr, das das Flugzeug oder einzelne Teile davon auf die Stadt stürzen und es wiederum Opfer gebe. Doch um zu verhindern, dass der Abschuss selbst Opfer verursacht, müsse man sehr viel früher handeln – möglichst über unbewohntem Gebiet. Doch dann sei schon gar nicht klar, ob es tatsächlich zu einem tödlichen Anschlag komme. Das Luftsicherheitsgesetz sei also der untaugliche Versuch der Regelung eines „absoluten Dilemmas“.
Mittlerweile beschäftigen sich renommierte Publizisten verstärkt mit so genannten „tragischen Konflikten“, die sich nur innerhalb eines „rechtswertungsfreien Raumes“ bereinigen ließen. So schrieb etwa der Jurist Dr. Josef Lindner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.10.2004 in seinem Beitrag „Tragische Konflikte“: „Tragische Konflikte, aus denen es kein Ausweg und in denen es keine richtigen Entscheidungen gibt, bringen auch die Rechtsordnung in Schwierigkeiten. Die hergebrachte Alternative ‚rechtmäßig’ oder ‚rechtswidrig’ versagt. Notwendig ist eine neue Kategorie: der rechtswertungsfreie Raum.“
Lindner schlägt vor, eine „Dogmatik des rechtswertungsfreien Raumes“ zu entwickeln und sie in das System der Rechtsordnung einzupassen: „So müssten im Fall der Anwendung von Gewalt zur Herbeiführung einer Aussage gesetzlich die Voraussetzungen geregelt werden, unter denen ein tragischer Konflikt angenommen werden kann. Es müsste in der rechtlichen Regelung sodann unmissverständlich zum Ausdruck kommen, dass die Anwendung von Gewalt zwar ausnahmsweise zugelassen, jedoch nicht für rechtmäßig erklärt wird, sondern in den rechtswertungsfreien Raum fällt.“ Lindner schwebt hier nichts anderes vor als die Implementierung des Ausnahmezustandes in unsere Rechtsordnung. Zwar sieht er für eine derartige Praxis „verfahrensmäßige Absicherungen“ vor. Aber gerade dies bestätigt den Befund einer Institutionalisierung des Ausnahmezustandes.
Das Luftsicherheitsgesetz ist ein Schritt auf dem Weg hin zu einer Reorganisation unserer Gesellschaft um den „Ausnahmezustand“. Dieser Weg hat weit reichende zerstörerische Konsequenzen für das politische und das soziale Leben, denn dieses bedarf eben der bewusst erzeugten und erkämpften Freiräume, die im Ausnahmezustand als „gefährlich“ gebrandmarkt und beschnitten werden. Eine politische Klasse, die gesellschaftliche Randphänomene zum normsetzenden Alltag erklärt, beweist ihre akute Visionslosigkeit sowie ihre fortgeschrittene Entrücktheit von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wer keine Vorstellungen einer besseren Zukunft anzubieten hat und sich als bloßer Problemverwalter von Krisen versteht, dem tun sich wahre Abgründe auf. Wenn wir erst einmal an diesem morbiden Ausgangspunkt verharren, haben wir von unserer Zukunft tatsächlich nur noch wenig zu erwarten.