01.05.2000
Die österreichische Schande und die europäische Moral
Kommentar von Gerhard Zeillinger
Gerhard Zeillinger kommentiert den Aufstieg Haiders und die Reaktionen danach.
Europas Angst vor der Demokratie: Die Akte Jörg Haider
Selten hat eine Regierungsbildung in einem europäischen Nachbarland eine solche Welle der Entrüstung provoziert. Noch bevor die neue ÖVP/FPÖ-Koalition in Wien überhaupt an Taten gemessen werden konnte, wurde sie bereits als Hort des Neofaschismus gebrandmarkt und mit EU-Sanktionen belegt. Nie zuvor ist einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union das Recht auf politische Souveränität so massiv abgesprochen worden. Die Reaktionen haben jedoch mehr mit dem Zustand der politischen und intellektuellen Eliten Europas als mit den politischen Zielsetzungen der neuen Regierung Österreichs zu tun.
Alexander Ewald und Kai Rogusch widmen sich auf den kommenden Seiten den politischen und rechtlichen Implikationen der europäischen Österreichpolitik. Der Publizist Gerhard Zeillinger kommentiert die Entwicklungen aus österreichischer Sicht. In einem Punkt sind sie sich einig: Welche Regierungen sich Österreich auch immer zulegen mag, ist einzig Sache der Österreicher.
Der moralische Fingerzeig hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erfolgen können. Beinahe zeitgleich zur Angelobung der neuen rechtskonservativen Regierung in Wien marschieren deutsche Neonazis in Berlin durchs Brandenburger Tor, setzen aufgebrachte Spanier die Wohnungen und Autos von marokkanischen Einwanderern in Brand, und österreichische Schüler können nicht mehr in westeuropäische Länder reisen, ohne dort als Nazis und Rassisten beschimpft zu werden. Ist Österreich zu einer europäischen Schande ersten Ranges geworden? Zu einem Fremd-Körper, der nicht mehr ins Gefüge aufgeklärter Gesellschaften passt? Freilich, die Frage darf nicht lauten, was in dieser Situation gespenstischer ist: ein Anti-Ausländer-Wahlkampf der FPÖ oder deutsche Skins, die einem Ausländer ein Hakenkreuz in den Leib schneiden, ein verbales Lob Haiders auf die Waffen-SS oder wenn braune Horden erstmals seit 1945 mit wehenden Fahnen wieder durchs Brandenburger Tor ziehen. Allein schon die Fragestellung wäre gespenstisch. Und so kann nicht einmal der Hinweis zulässig sein, dass es sich bei dem Aufmarsch in Berlin, am Vorabend des Jahrestages der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland, um eine völlig legale, von den Behörden erlaubte Demonstration handelte. Wenige Wochen später, um den Jahrestag des deutschen Einmarsches in Österreich herum, marschieren dieselben noch einmal, aus Solidarität mit der neuen österreichischen Regierung. Relativiert das etwas in Europa? Nein, Österreich muss sich noch mehr schämen. Und genauso wenig hilft es weiter, noch einmal den französischen Staatspräsidenten zu zitieren, der Ausländer als “lärmende, stinkende Wohlfahrtsschnorrer” bezeichnet hat. Auch das mag europäische Großmachtpolitik sein, den Rassismus-Vorwurf schnell aus dem eigenen Land zu exportieren: So “stinken” am Ende auch österreichische Politiker, und ihre französischen Kollegen können ihnen hinfort nicht mehr die Hand schütteln oder müssen den Saal verlassen, wenn ein österreichischer Diplomat aufsteht.
“Ob es einem angenehm ist oder nicht, das Ergebnis von Demokratie kann eben auch so aussehen wie die Zusammensetzung der gegenwärtigen österreichischen Regierung”
Österreich ist ein kleines, ein unbedeutendes Land, und doch den 14 EU-Staaten auf einmal bedeutend genug, um an ihm einen etwas ungewohnten Moralismus zu statuieren, der der Praxis des einen oder anderen dieser 14 Länder im Grunde eher fremd ist. Aber die Schande, die österreichische, bleibt. Und so ist es weltmännisch, nach Paris zu reisen, jedoch unmoralisch, wenn man sich nach Österreich zum Schifahren begibt. Freilich, diese Argumentation ist jedem kritischen Intellektuellen eine gefährlich-unangenehme, weil sie ausnahmsweise mit Biertisch-Diskussionen ein Gemeinsames hat und jegliches Differenzieren ungewollt Gefahr läuft, die österreichische Situation zu verteidigen. Noch nie hat sich Dialektik als so verfänglich erwiesen.
Aber nicht nur die entrüstete Reaktion der EU-14, auch der moralische Widerstand im Inland hat sein Fragwürdiges. Wenn die Opposition offen zum Sturz der Regierung aufruft, “damit sich die Demokratie wieder durchsetze”, wenn eine überparteiliche Menschenrechtsorganisation meint: “Der Widerstand gegen diese Regierung muss und wird weitergehen – bis das Wahlergebnis korrigiert wird”, dann gilt es zu klären, was die selbst ernannten aufrechten Österreicher unter Demokratie verstehen, ob diese gar korrigiert gehörte, wenn man sich mit ihrer nicht immer erfreulichen Konsequenz nicht abzufinden bereit ist. Wäre es nicht vielmehr ein Verstoß gegen das demokratische System per definitionem, wenn es plötzlich ein moralisches Korrektiv gegen Mehrheitsentscheidungen des Volkes geben soll? Ob es einem angenehm ist oder nicht, das Ergebnis von Demokratie kann eben auch so aussehen wie die Zusammensetzung der gegenwärtigen österreichischen Regierung. Vielmehr müsste der moralische Widerstand sich gegen eine Entwicklung richten, die dazu geführt hat, dass ein Großteil der Wähler überhaupt so entschied. Populismus statt Politik, Plattheit statt Ideologie hat die Bedürfnisse des Zeitgeistes offenbar besser erfüllt. Das sollte gerade jetzt jene, die Politisierung für sich beanspruchen, am allerwenigsten verwundern. Die Beliebigkeitspolitik einer austauschbar gewordenen SPÖ, die zwecks Machterhalt nur noch darum bemüht war, die eigene Oberfläche medienwirksam aufzuputzen, war keine Gegenströmung, sondern billiges Begleitprogramm. 14 Jahre lang hat man Jörg Haider mit den denkbar falschen Mitteln bekämpft, sie haben den Populisten nur noch populärer gemacht. Die so genannten EU-14 erweisen sich nicht einfallsreicher, mehr noch, sie verhalten sich wie politische Anfänger, die glauben, mit schnellen Drohungen eines der resistentesten Phänomene aus der Welt schaffen zu können. Wenn österreichische Schüler, österreichische Wissenschaftler jetzt in Europa offen boykottiert werden, dann ist das für beide Seiten eine schmerzliche Entwicklung. Österreicher nun fremdenfeindlich zu behandeln, wird kaum ein geeignetes Mittel gegen angebliche österreichische Fremdenfeindlichkeit sein. Die Methode gleicht jenem Verhalten, das man in Europa ja nicht mehr zulassen will. Über das ganze Land wird die Sippenhaft verhängt.
“Wenn österreichische Schüler, österreichische Wissenschaftler jetzt in Europa offen boykottiert werden, dann ist das für beide Seiten eine schmerzliche Entwicklung”
Die Frage, was Haider nun wirklich ist, Faschist, “Feschist”, Rechtsextremist, Rechtspopulist, ist dabei eine wenig nützliche; im Grunde trifft alles Austauschbare auf ihn zu, und wer Haider in den diversen Fernsehtalkshows erlebt hat, weiß, wie geschickt er sich jedem Diskurs, der ihn festmachen möchte, zu entziehen versteht. Nicht nur das Erwiesene abzustreiten, krumm zu biegen, lächerlich zu machen, zählt zu Haiders politischen Grundmitteln, auch der ständige Widerspruch in der eigenen Absicht und Terminologie scheint Teil seiner Strategie zu sein. Und vielleicht gehört zu seinem Image auch ein gewisser pathologischer Zug, der mit seinem unangebrachten, diabolisch empfundenen Grinsen begänne. Aber immerhin, man darf Haider laut Gerichtsurteil “geistigen Ziehvater des Rechtsextremismus in Österreich” zeihen, man kann ihn einen “landesweit bekannten Arisierungsnutznießer” (Der Standard) nennen, er ist und bleibt ein bedenkenloser Verherrlicher der Waffen-SS, ein Umdeuter der Konzentrationslager in “Straflager”, ein Gleichsetzer Churchills mit Hitler und was alles noch. Dass es bei alldem dem Ausland die Haut zusammenzieht, überrascht nicht. Doch der Anteil jener, die sich darüber empören, ist in den Staaten der EU gewiss nicht höher als jener in Österreich. Ich möchte sogar behaupten, dass die leidenschaftlichsten Haider-Gegner in Österreich sitzen, und das könnte eigentlich zuversichtlich machen. Faktum ist freilich, dass Haiders Vasallen, politische Dilettanten einerseits, dumpf tönende Volksverhetzer und Verharmloser des Nationalsozialismus andererseits, die gegenwärtige österreichische Regierung mitbilden. Diese Schande bleibt.