01.11.2003

Die neuen Retter der Welt?

Analyse von Philip Cunliffe

Immer mehr Entwicklungsländer beteiligen sich an Friedenseinsätzen der Uno. Warum das so ist, erklärt Philip Cunliffe.

Sämtliche Staaten des ehemaligen Jugoslawien zeigen sich bereit und willig zur Unterstützung weltweiter „Friedenseinsätze“ des Westens. Soldaten aus Kroatien und Mazedonien gehören der ISAF-Truppe in Kabul an, Mazedonien und Slowenien haben Soldaten in den Irak entsandt, Slowenien hat Truppen in den ehemaligen Schwesterrepubliken Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Serbien (Kosovo) stationiert. Und während seines Staatsbesuches in den USA im Juli 2003 hat der serbische Premier Zoran Zivkovic die Idee einer serbischen Beteiligung an Friedenseinsätzen, möglicherweise sogar im Irak, verbreitet. Der bosnische Außenminister Mladen Ivanic kündigte hingegen Mitte August an, dass Bosnien und Herzegowina ebenfalls erwäge, Soldaten in den Irak zu schicken, und dass ein Kontingent der bosnisch-serbischen Armee bereits für solche Operationen trainiert habe.

Die Praxis der militärischen Unterstützung von so genannten Friedensmissionen unter westlicher Führung ist aber nicht auf die Balkanstaaten beschränkt. Polen wird mit 2300 Soldaten den Kern der multinationalen „Stabilisierungskräfte“ im südlichen Irak bilden, beteiligt sind auch Truppen aus weit voneinander entfernten Ländern wie der Ukraine und Nicaragua. Und in Liberia stationierte die USA kürzlich ihre Bodentruppen, aber erst nachdem die Hauptstadt Monrovia von nigerianischen Truppen eingenommen worden war.

Blickt man zurück, so wird klar, dass die Bereitstellung von „Friedenstruppen“ in Staaten der so genannten Dritten Welt eine lange Tradition hat. Die UNO-Streitkraft für Notfälle (UNEF), die gegründet wurde, um die israelisch-ägyptischen Waffenstillstandslinien nach dem Suez-Krieg 1956 zu beobachten, setzte sich aus Truppen aus Indien, Jugoslawien, Indonesien und Brasilien zusammen. Auch heute stammen die zehn größten Kontingente der Einheiten für UNO-Militäreinsätze allesamt aus Entwicklungsländern. Gemeinsam stellen sie dabei bis zu 60 Prozent des Gesamtpersonals.

Während die Entsendung von Soldaten in Krisengebiete in den USA und Westeuropa nicht selten hart umstritten ist, scheinen die Regierungen in minder entwickelten Weltregionen mit Enthusiasmus auf neue Friedenseinsätze zu warten. Die New York Times berichtete kürzlich, dass „Afrika eine neue, aktivere Haltung gegenüber seinen Problemgebieten eingenommen hat ... Afrikaner leiten die gegenwärtigen Friedensbemühungen im Kongo, in Burundi, Somalia und Sudan. Afrikanische Friedenstruppen sind in vielen Gebieten des Kontinents im Einsatz.“

Die Begeisterung der ehemaligen jugoslawischen Republiken für Friedenseinsätze ist jedoch zweifelsohne das bemerkenswerteste Beispiel dieses Trends, denn nur wenige Staaten besitzen das zweifelhafte Privileg, an solchen Missionen teilzunehmen, während sie gleichzeitig selbst von fremden Armeen besetzt sind. Die Besatzungstruppe in Bosnien-Herzegowina, SFOR, besteht aus 13.000 Soldaten; die Besatzungstruppe in der serbischen Provinz Kosovo, KFOR, umfasst 29.000 Soldaten; und die bescheidenere EU-Truppe in Mazedonien unter dem Namen „Operation Concordia“ zählt 3500 Soldaten.

"Der Ehrgeiz einiger Staaten, an UNO-Missionen teilzunehmen, scheint vor allem durch den Wunsch auf Reintegration in die „Internationale Gemeinschaft“ motiviert zu sein."

Die Ukraine und Serbien haben sich in den letzten Monaten besonders hervorgetan, um als Friedensbewahrer in fremden Krisenherden aktiv werden zu können. Das serbische Verteidigungsministerium brennt derzeit geradezu darauf, etwa 1000 Soldaten im Ausland einzusetzen. Ein solcher Einsatz würde die kleinen Kontingente der anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken bei aktuellen Einsätzen zahlenmäßig in den Schatten stellen. Ähnlich ist es in der Ukraine: Das Land ist mit 1058 Soldaten schon jetzt der zehntgrößte Teilnehmer an UNO-Friedenseinsätzen und hat weitere 1600 Personen für die Stabilisierungskräfte im Irak angeboten. Mit etwas Fanatasie könnte man eine Analogie mit dem devsirme (auf Deutsch Blutzoll) herstellen – einer berüchtigten Institution während der ottomanischen Herrschaft auf dem Balkan, die darin bestand, dass christliche Knaben von ihren Familien getrennt wurden und zu einer Eliteeinheit von Legionären, den Janissaren, herangebildet wurden. Diese Truppen kehrten dann oftmals in die Balkanländer zurück, um die Herrschaft des Sultans über ihre eigenen Leute zu festigen.

Um die Erhöhung der Anzahl serbischer Friedenstruppen im Ausland zu rechtfertigen, sagte Serbiens Vize-Premier Zarko Korac, er hoffe, dass diese Operationen das internationale Ansehen Serbiens, das während der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, rehabilitieren würden. Im Falle der Ukraine meinen Beobachter, die dortige Regierung versuche, die USA versöhnlich zu stimmen, nachdem Washington sie vor einigen Monaten der Unterstützung Saddam Husseins durch die Lieferung eines hoch entwickelten Flugobjektentdeckungssystems bezichtigt hatte.

Klar ist, dass beiden Staaten immer noch das Image des Außenseiters anhaftet. Und ihr Ehrgeiz, an UNO-Missionen teilzunehmen, scheint vor allem durch den Wunsch auf Reintegration in die „Internationale Gemeinschaft“ motiviert zu sein. So rechtfertigte der ukrainische Verteidigungsminister Yevhen Marchuk die Stationierung von Truppen im Irak mit dem Hinweis, die Ukraine sei „ein wichtiges europäisches Land“ und könne „nicht abseits von internationalen Entwicklungen stehen“. Kurzum: „Ordentliche Staaten“ stationieren Friedenstruppen.

Es stellt sich die Frage, warum die Teilnahme an Friedenseinsätzen zu einem wesentlichen Element staatlicher Rehabilitation auf der internationalen Bühne geworden ist. In der Vergangenheit bezog sich der Begriff Friedenseinsatz generell auf Operationen im Stile der UNEF: Eine bewaffnete Intervention beschränkte sich auf die Überwachung der Einhaltung von Waffenstillständen und auf die Trennung feindlicher Armeen. Entwicklungsländern kam dabei eine besondere Rolle zu, denn sie teilten in aller Regel die Feindschaft gegenüber dem Kolonialismus und bezogen in der internationalen Politik häufig Positionen, die nicht unmittelbar von US-amerikanischen und sowjetischen Interessen geleitet waren. So hatten sie eine moralische Autorität, bewaffnete Intervention in anderen Ländern ins Auge zu fassen, ohne den Verdacht zu erwecken, sich in fremde Angelegenheiten ungebührlich einzumischen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die verstärkte Berufung auf humanitäre Gründe für militärische Interventionen die Erwartungshaltung gegenüber den Vereinten Nationen stark erhöht. Verlangt wird nunmehr nicht mehr nur die bloße Überwachung von Waffenstillständen, sondern auch die Verteidigung und, wenn nötig, die gewaltsame Durchsetzung von Menschenrechten. Im Gegenzug drängt die UNO aufgrund der gewachsenen Anforderungen, die mit einem solchen „Staatenaufbau“ verbunden sind, auf größere militärische Ressourcen und erhöhte Waffenstärke. Zudem hat die UNO verstärkt „Koalitionen der Willigen“ ins Leben gerufen und zur Durchführung ihrer Operationen autorisiert.

Zahlreiche kleine Länder haben sich bereitwillig diesen Koalitionen angeschlossen. In der Praxis werden diese Koalitionen aber immer noch von einigen wenigen mächtigen Staaten dominiert, denn über die nötige Waffenstärke, um die Bevölkerung im Notfall zu verteidigen, verfügen nur wenige Armeen. So ist zum Beispiel Nigeria, das gegenwärtig die von der UNO autorisierte Koalition in Liberia anführt, der mächtigste Staat in Westafrika. Hieran wird deutlich, dass diese moderne Form von Friedenseinsätzen von militärischen Machtpotenzialen bestimmt werden. Noch wichtiger erscheint, dass ihre Definition als politisch neutrale Aktionen, die während des Kalten Krieges galt, längst nicht mehr zutrifft. Man sieht dies sowohl bei UNO-Einsätzen als auch bei Einsätzen von „Koalitionen der Willigen“.

"Die Bestrebungen der Entwicklungsländer, an diesem Spiel teilzunehmen, sind bezeichnend für die mitunter miserable Lage, in der sie sich befinden."

Am 1. September 2003 erhielt beispielsweise die 2500 Personen starke UNO-Beobachtungsmission für den Kongo (MONUC) die Autorität, unter Kapitel VII der UNO-Charta Gewalt nicht nur zur Selbstverteidigung (wie es für solche Koalitionen bisher üblich war) anwenden zu können. MONUC, die ausschließlich von Truppen aus Staaten der Dritten Welt (Bangladesh, Pakistan, Nepal, Indien, Uruguay) gebildet wird, hat sogleich die Möglichkeit der mit Kapitel VII verbundenen Autorität genutzt und Kampfhubschrauber stationiert, um „Milizen, die im Buschgebiet noch aktiv sind ..., einzuschüchtern“. Der Begriff Friedenseinsatz ist inzwischen ein Allgemeinbegriff geworden, der jede militärische Intervention, gleichgültig, ob sie von Nigeria, den USA oder der UNO ausgeführt wird, bezeichnen kann. Der Begriff hat Orwellsche Dimensionen angenommen.

Diese Transformation des Verständnisses von Friedenseinsätzen hat dazu geführt, dass heute hoher Wert auf die Bereitstellung von Friedenstruppen als ein de-facto-Kriterium „ordentlicher“ Staatlichkeit gelegt wird. Die Anforderungen dieser Einsätze sind an militärischer Stärke statt an politischer Neutralität ausgerichtet, und dementsprechend ist das internationale Gewicht von Staaten zunehmend verbunden mit einer neuen Form des Militarismus.

Die Bestrebungen der Entwicklungsländer, an diesem Spiel teilzunehmen, sind bezeichnend für die mitunter miserable Lage, in der sie sich befinden. Sie offenbaren aber auch Veränderungen im politischen Denken westlicher Regierungschefs. Mit dem Eifer der Regierungen minder entwickelter Länder, an Friedenseinsätzen teilzunehmen, halten sie nämlich dem Westen einen Spiegel vor. Sie lenken den Blick auf die unheilvolle Neudefinition des Kriteriums „ordentlicher“ Staatlichkeit: die bereitwillige militärische Besatzung fremder Länder. Um heute in die Internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden, reicht es nicht mehr, eine Armee, die Staatsgrenzen verteidigen kann, zu besitzen und im Lande für einigermaßen demokratische Verhältnisse und soziale Stabilität zu sorgen. Die eigene Armee muss nun auch jederzeit dafür gerüstet sein, an „Koalitionen der Willigen“ für humanitäre Zwecke und dergleichen mitzuwirken.

Indem Regierungschefs in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa die ihnen neu zugedachte Rolle übernehmen, agieren sie quasi wie moderne Janissaren. Am deutlichsten wird dies an den Republiken des ehemaligen Jugoslawien. Zu einer Zeit, als der Begriff „Dritte Welt“ mehr mit Antikolonialismus und politischer Neutralität als mit Rückständigkeit assoziiert wurde, bildeten sie einen prominenten Vorzeigestaat im Ostblock, die Föderale Sozialistische Republik Jugoslawien. Heutzutage rivalisieren die Überbleibsel dieses Staates darum, andere Länder zu besetzen. Gleichzeitig stehen sie entweder selbst unter militärischer Besatzung, oder sie sind zu NATO-Anhängseln geworden.

Man mag zu Recht einwenden, dass die heutigen Entwicklungsländer dem alten Anti-Interventionismus der Bewegung der Blockfreien Staaten nicht mehr verpflichtet sind. Marc Lacey erinnerte in der New York Times an „eine Zeit, in der Afrika [die nigerianische Intervention in] Liberia ... als unangemessene Einflussnahme von außen verurteilt hätte“. Aber letztlich können sich die modernen Janissaren nur eigenen Schaden zufügen, weil sie ihre Unabhängigkeit einbüßen und in ein neues internationales Geflecht von wachsenden Militäreinsätzen hereingezogen werden. Welche Erleichterung sie sich auch von der Aufmerksamkeit der großen Staaten versprechen mögen, sie wird immer nur kurzfristig und sehr pragmatisch motiviert sein.

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