15.12.2009
Die Minarettabstimmung als Demokratiedebatte
Von Radu Golban
Man sollte das Thema und den Ausgang einer Abstimmung nicht höher stufen als die Achtung vor einem demokratischen Institut.
Weil heute bei einigen Europäern der materielle und spirituelle Lebensmittel-punkt zu kollabieren droht, drängt sich unweigerlich die Frage nach deren Integration auf. Nach gängiger Auffassung haben diese Menschen, bei aller Sympathie für Toleranz, sich vorbehaltlos zu integrieren. Eine indirekte Bewertung des Integrationsergebnisses hingegen, etwa durch ein Referendum, wird zur Demokratiedebatte wider Willen. Doch welche unangenehmen Berührungspunkte ergeben sich zwischen dem Politinstrument „Referendum“ und den parlamentarischen Demokratien? Könnte vermutlich erst eine gemeinsame Sorge oder Angst vor Überfremdung aller Europäer in der Art und Weise, wie sie von der Schweiz basisdemokratisch artikuliert wird, den Berührungspunkt ausmachen und die Achillesferse der parlamentarischen Ordnung treffen? Seit Bestehen demokratischer Ordnungen unterliegen Referenden stets einem Vorbehalt. Woher rührt dieses Misstrauen, welches älter ist als die Minarett-vorlage selbst.
Die Ballade der Loreley anknüpfend am antiken Echo-Mythos, kann sowohl dank des Vorzugs zugänglicher Versform in Heinrich Heines Gedicht „Das Lied der Loreley“ als auch der Vertonung durch Friedrich Silcher die Gefahr von Verführbarkeit und Sentimentalität leicht vermitteln. Ergänzend könnte auch die zeitgemässe Akzeptanz der Androgynität in modernen Gesellschaften zum besseren Verständnis von Volksentscheide beitragen, würde man die holde Schönheit am Rhein weniger im eros-, als im plebiszitär-sentimentalen Lichte erblicken. Die Figur der Loreley zeigt unzählige Analogien zu Plebisziten auf, ausgehend von der uralten Frage der Stellung von Plebisziten in demokratischen Gesellschaften, als Märchen, welches nicht aus dem Sinn kommt, über die Brisanz dieses Politinstruments, als Funkeln im Abendschein, ist die sentimentale Anfälligkeit von Volksentscheiden beim Durchkämmen der politischen Mehrheitsverhältnisse eine gewaltige „Melodei“, auf die Schiffer alias Politiker schauen und dabei von Wellen verschlungen werden.
Die Universalisierbarkeit dieser gefürchteten demokratischen Versuchung lässt sich auch an der Frage erkennen, was Franzosen, Dänen, Schweizer, Iren und Deutsche diesbezüglich gemeinsam haben könnten: Während Iren, Franzosen und Dänen so lange zur Referendumsurne müssen, bis das erwünschte Ergebnis sich einpendelt, haben die Deutschen basisdemokratische Ansätze eher auf-grund von zu viel Erfahrung mit Plebisziten während der Weimarer Republik abgeschafft, dafür aber Unterschriftenaktionen instrumentalisiert. Eine der größten Unterschriftenaktionen Deutschlands. gegen die doppelte Staatsangehörigkeit 1999 ist aufgrund der thematischen Nähe zum Minarettverbot besonders interessant, führt die Frage des einst für das Wirtschaftswachstum am Standort Deutschland importierten Arbeitervolkes oder im Zuge der Balkankriege in die Schweiz geflüchteten Muslime auf ein und denselben Integrationstatbestand zurück. Gerade mit einem halb so hohen prozentualen Ausländeranteil wie die Schweiz und einem gleich hohen, vierprozentigen muslimischen Bevölkerungsanteil sollte es gerade Deutschland doch leicht fallen - auch aufgrund der eigenen „Das Boot ist voll“-Debatte – dem kleinen Nachbarn mehr Verständnis entgegenzubringen.
Vermutlich sehnten sich 1999 Roland Koch, Wolfgang Schäuble und Edmund Stoiber nach helvetischen Verhältnissen, ihren Unmut über die Tolerierung der doppelten Staatsangehörigkeit an der Urne leichter zu artikulieren als über eine Unterschriftenaktion. Wenn schon Plebiszite in Deutschland tabu sind, bedient man sich dieser auf plebiszitären Unterstützung hin ausgerichteten CDU/CSU Kampagne, gegen die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts. Immerhin schafften sie es, mithilfe von fünf Millionen Unterschriften politischen Druck auf den SPD-Grünen Gesetzesentwurf auszuüben. Glücklicherweise ist der Abstimmungskampf in der Schweiz bis auf weniger schöne Plakate parolenfrei ausgefallen als unter der Federführung von Edmund Stoiber 1999, der die verstärkte Einbürgerung von Ausländern als eine größere Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands einstufte als den Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) in den 70er-Jahren.
Friedlicher, pragmatischer hingegen ist das Verhalten der Eidgenossen, haben sie doch in den letzten 60 Jahren über knapp 200 Vorlagen abgestimmt, ohne dabei weder die Demokratie abzuschaffen noch Rechtspopulisten den Weg in die Politik zu ebnen. In den letzten Jahren haben sie sich differenziert zu Integrationsthemen in diversen Referenden geäussert, und dabei sich gegen eine schärfere Einbürgerungspraxis entschieden, Grenzkontrollen nahezu abgeschafft wie auch die Personenfreizügigkeit mit der EU angenommen. Folgt man den kritischen Stimmen zum Thema „Minarett“ in der westlichen Hemisphäre, so hat die Schweiz eher mit der Minarettvorlage anscheinend über mehr abgestimmt als nur über den Turm als Ergänzungsbau einer Moschee: Fundamentalismus, fehlende Toleranz und Verletzung der Menschenrechte lautet das vernichtende Urteil. Vermutlich hat der Eidgenosse noch nicht erkannt, wie die Demokratie heute durch die meinungsbildende, globale Wertedebatte einer neuen Form der technokratischen Freiheitsverwaltung, weichen muss. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, basisdemokrati-sche Abstimmung dienten weniger der Einhaltung demokratischer Grundsätze als dem Wertekatalog der erleuchteten Eliten. Im Trend ist die banale basisde-mokratische Zustimmung einer elitär beherrschten pax socialis, sind abweichende Abstimmungsergebnisse unerwünscht. Das zweite EU-Referendum in Irland in jüngster Zeit scheint diese Vermutung zu bestätigen, dass diese neuen Formen der Demokratieauslegung bestimmte Wahlausgänge schlichtweg abverlangen.
Ein großer Graben jedoch scheint die kulturellen und sprachlichen Gemein-samkeiten zwischen Deutschland und der Schweiz zu durchziehen. Dieser Graben könnte heute eher im unterschiedlichen Staatsverständnis und der Angst vor dem Wähler begründet sein als im medial propagierten Toleranz-gefälle zwischen dem Rest der Welt und Helvetia. Im Gegensatz zu anderen Rechtsstaaten mag das schweizerische Staatsverständnis tief in der Geschichte der Versammlungsdemokratie begründet sein, die Tradition der Selbstbestimmung der Gemeinde in nahezu allen politischen und fiskalischen Belangen als die besondere Form der Vertretung etabliert zu haben. Die indi-viduelle Autonomie ist die Vorstufe der kollektiven Selbstbestimmung und ein tragendes Strukturelemente direktdemokratischer Ordnung. Besonders eindrucksvoll ist Hans Kelsens Metamorphose des Freiheitsbegriffs, unter den Bedingungen eines gesellschaftlichen Miteinanders, muss die vorstaatliche Freiheit von jeder Ordnung zur stets beschränkten Freiheit in der staatlichen Ordnung wandeln. Demnach kann nach Kelsen in einem Staat als sozialer Verband nur gelten „wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, keinem frem-den Willen untertan ist“, und Demokratie nur als Herrschaft des Volkes über das Volk, als Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft funktionieren. Wenn demnach Mehrheitsverhältnisse und daraus abgeleitete Herrschaft statt politischer Wahrheit regiert, dann mag dieser Aspekt eine weitere Nuance liberaler Prägung der Schweiz darstellen: Autoritas non veritas facit legem.
Der gefährliche Hang zur Identitätsromantik bei der rein parlamentarischen Demokratie im europäischen Ausland, welche den direktdemokratischen Elementen tief misstraut, ist die Vorstufe zum totalitären, ideologischen Gemeinwohlstaat. Je stärker eine Gesellschaft die Frage nach der Gerechtigkeit mit der im Volk herrschenden Weltanschauung beantwortet, Kraft der Ideologie, das Recht an Sitte und Rechtsgefühl des Volkes knüpft, desto mehr distanziert sie sich von der bürgerlich-liberalen Grundhaltung. Der fehlende ideologische Gemeinwohlzwang in der Schweiz könnte im historisch gewachsenen Integrationsversuch, mehrere Kulturen unter dem Dach der Eidgenossenschaft zu verbinden, angesiedelt werden. Dabei könnte vermutlich die Schweiz durch den liberalen Staatsbegriff, bestimmte Bereiche der öffentlichen Meinung wertfrei gelassen und somit keinen allgemeinen Gemeinwohlzwang formuliert haben. Erst die Würdigung des bürgerlich-liberalen Staates und der rechtsstaatliche Schutz von Einzelinteressen, könnten die Fehlinterpretationen der liberalen Ortung entlang des ausgebliebenen Minarettfreibriefs ablösen und das liberale Destillat als Rechtssicherheit und Berechenbarkeit für die Menschen in der Schweiz präsentieren. Die Form der positiven Rechtssetzung, d.h. von Menschen gesetzte und durch menschliche Willensakte geschaffene Rechtsordnung, welche die Verbindlichkeiten und Verpflichtungen vorschreibt und nicht auf höhere Ideen der Gerechtigkeit und Moral abstellt, könnte hilfreich sein, um den liberalen Kern etwas besser herausarbeiten, den die Parti-kularität der Schweiz ausmacht.
Erst die romantische Vorstellung der politischen Willensidentität von Regie-renden und Regierten im französischen oder deutschen Parlamentarismus hat die Bildung eines homogenen Gesamtwillens in einer heteronomen Gesellschaft und den sozialen Bevormundungsstaats des 20. Jahrhunderts als Verwirklichung des theoretischen Gemeinwohls begründet. Hierbei bedient sich das System der ständigen Bevormundung des einzelnen Individuums wie auch des Dogmas als Instrument der Erziehung. Darunter fallen sowohl das Umverteilungsdogma der Hochsteuerländer als auch das Sicherheitsdogma der Hochsicherheitsländer usw. Solche Systeme im Gegensatz zur Schweiz, welche auf dem Gebiet der Ethik die moralische Richtigkeit – unabhängig davon, ob in Steuerfragen, zu kulturellen Angelegenheiten oder zur Toleranz - beanspruchen und prinzipiell dem Bürger misstrauen, finden sich auch heute in den öffentlichen Debatten zum Minarettstreit wieder. Dieser Weg ist gefährlich und führt unweigerlich zur dogmatischen Erziehungsdiktatur. Nach Auffassung der auf das fiktive Gemeinwohl verpflichteten Politiker, ob durch den sozialen Ausgleichsmythos motiviert, oder durch Toleranzbekenntnisse, könnten solche Referenden eine Bedrohung ihrer Herrschaft darstellen, sind Mehrheiten in Zeiten der Wirtschaftskrise doch zu besänftigen.
Der jahrhundertealte Integrationsprozess hierzulande hat eher über ideologi-sche Enthaltsamkeit die Prägung einer kulturellen Gemeinschaftsidee erzielt und die Rechtsordnung vor jener gefährlichen ethisch-moralischen Rechtsidee gestellt. Ein offener Konflikt anlässlich der Minarettdebatte zeigt auch die Normkollision der Systeme, zwischen der positiven Rechtsordnung und einem auf nahezu völkischem Gemeinschaftserlebnisses errichteten System, das mit der individuellen Freiheitsidee grosse Mühe hat. Ideologische Mäßigung, welche die politische Kompromissbildung abverlangt, verbunden mit der Tradition der direkten Demokratie, als Ausdruck politischer Selbstbestimmung, könnten die einzigartige liberale Atmosphäre geprägt haben, welche die Schweiz als Entfaltungsort liberalen Denkens ausmacht. Jedenfalls sollte man das Thema und den Ausgang einer Abstimmung nicht höher stufen als die Achtung vor einem demokratischen Institut.