01.11.2004
Die Lähmung der Politik
Analyse von Wolfgang Müller-El Abd
Wo ist der Fehler im System? Eine Spurensuche.
I. Wer ist gerissener, die Bürger oder der Staat? Das ist die heimliche Grundfrage, die hinter dem Gewürge an Reformen steht, das die politische Diskussion dieser Jahre beherrscht?
Gerissen sind die Bürger, indem sie jede Lücke im System mit geradezu perfektem Spürsinn erkennen und ausnutzen. Sie finden das sogar in Ordnung und entlasten ihr Gewissen mit dem Argument, an anderer Stelle werde ihnen ohnehin zu viel aus der Tasche gezogen. Gerissen ist auf der anderen Seite auch die Politik, die alles daran setzt, diese Manöver auf eine Weise zu beantworten, bei der das ganze Hakenschlagen nichts mehr nützt und praktisch alle ins Netz gehen, siehe Praxisgebühr. Wobei die politische Taktik sich im Wesentlichen darauf konzentriert, die Verantwortung für die unpopulären Eingriffe so geschickt zu verteilen, dass sie nicht der eigenen Partei anzulasten sind. Daher der Hang zu großen Kungelrunden, an denen alle irgendwie beteiligt sind und es danach doch keiner wirklich gewesen ist.
Dass Staat und Bürger sich in so intensiver Weise ineinander verhaken, ist typisch für ein Staatsverständnis, wie es sich in dieser Form nur in Europa, besonders in Deutschland ausgebildet hat: der Staat als fürsorgliche Einrichtung, als Sozialstaat, der sich in verantwortungsvoller Weise um seine Bürger kümmert – so die Grundidee. Allerdings hat diese Idee ihre Tücken: Sie fördert ein passives Warten auf den Staat; zugleich fesselt sie ihn von Kopf bis Fuß, weil jeder politische Vorstoß sogleich mit Schmerzensschreien aus den Tiefen der Gesellschaft beantwortet wird. „Vater Staat“, wie es im Deutschen so schön heißt, wird dann seine unmündigen Kinder nicht mehr los.
Ganz anders das Staatsverständnis in einem Land wie den USA. Vergleichbare Erwartungshaltungen haben sich hier gar nicht erst ausgebildet. Genauer gesagt, die Erwartungen gehen in eine andere Richtung: Nicht soziale Segnungen erwartet der US-Bürger von seiner Regierung, sondern eine Politik, die die Wirtschaft in Schwung hält. Denn wenn sie funktioniert, so die Logik, wirft sie allemal genug ab, dass die Einzelnen sich in sozialer Hinsicht selbst helfen können. Zumindest diejenigen, die in den Wirtschaftsprozess integriert sind. Die anderen stranden an den Rändern der Gesellschaft.
„Weder der europäische Sozialstaat noch der amerikanische Wirtschaftsstaat bringt eine Lösung. Letztlich sind beide Formen der Verfilzung, die soziale und die wirtschaftliche, verhängnisvoll. Eine Lösung könnte nur in einem Modell liegen, das die Rolle des Staates neu definiert; das die Politik aus solchen Abhängigkeiten befreit, ihr neuen Atem verschafft.“
Stellt man die beiden Modelle gegenüber, kann man sagen: In Europa ist der Staat zutiefst ins Soziale verstrickt, er versucht, mit unzähligen Gesetzen und Bestimmungen die soziale Wirklichkeit so zu regulieren, dass keine Klagen kommen. Im Grunde gilt hier die Politik als generalverantwortlich für den Zustand der Gesellschaft. In den USA dagegen wird die gesellschaftliche Wirklichkeit weitgehend sich selbst überlassen bzw. privaten Wohltätern ans Herz gelegt. Entsprechend ist die Politik annähernd frei von sozialen Verpflichtungen. Umso intensiver steht sie unter ökonomischem Druck. Die Querverbindungen aus der Wirtschaft in die Politik sind hier von einer ungeheuren Kraft und Selbstverständlichkeit. Bis in die Außenpolitik hinein agiert die Regierung als Protektor amerikanischer Wirtschaftsinteressen.
Zugespitzt formuliert: In Europa halten die sozialen Interessen den Staat als Geisel, in den USA die wirtschaftlichen.
Natürlich gibt es hier wie dort Kritiker der jeweiligen Systeme. In Europa wenden sie sich vor allem gegen die Lähmung der Politik im sozialen Netzwerk; und sie träumen davon, dass die Politik auch hier so unbeschwert dem Standort und der Ökonomie dienen könne wie in den USA. Dort wiederum, fast spiegelbildlich, kritisiert die Linke eben dieses Kartell aus Wirtschaft und Politik; und sie fordert, angesichts des millionenfachen Elends, Anleihen beim europäischen Sozialstaat.
Indes – das ist unsere These – brächte weder das eine noch das andere eine Lösung. Letztlich sind beide Formen der Verfilzung, die soziale und die wirtschaftliche, verhängnisvoll. Eine Lösung könnte nur in einem Modell liegen, das die Rolle des Staates neu definiert; das die Politik aus solchen Abhängigkeiten befreit, ihr neuen Atem verschafft.
II. Was also soll der Staat? – Um das zu erkennen, muss man einen Moment Luft holen, vielleicht auch ein paar Schritte zurücktreten, denn gelegentlich ist man zu nah dran, um das Wesentliche zu erkennen.
Vielleicht könnte man mit dem Satz beginnen: Politik sollte die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen sich entfalten können. Das heißt: dass sie ihre Potenziale frei ausbilden können, ihre Orientierung in den geistigen und wirtschaftlichen Räumen finden können.
Wie wichtig das ist, wird deutlich, wenn wir an Verhältnisse denken, in denen diese Voraussetzungen fehlen. Zum Beispiel an Regime, die ihre Bürger in bestimmter Weise indoktrinieren und sie vom freien Informationsaustausch abschneiden; oder wenn wir an wirtschaftliche Verhältnisse denken, in denen die Menschen ums schiere Überleben kämpfen. Aber wir sollten das Übel nicht nur in fernen Ländern wähnen. Wenn bei uns Jugendliche mit der Frage aufwachen, wie sie angesichts schlechter Chancen überhaupt in diese Gesellschaft hineinfinden können, dann führt auch das zu Deformationen. Es fördert eine ungesunde Anpassung an die gegebenen Abläufe, und es verstellt von Beginn an das Entscheidende: eine selbstbewusste, kreative Exploration der Welt.
Zugleich wird hier sichtbar, dass außer der Freiheit noch ein zweites Moment entwicklungsnotwendig ist. Dieses zweite Moment hat mit Sorglosigkeit zu tun, mit einer Art Gewähr, dass ein mögliches Scheitern nicht die Vernichtung bedeutet, nicht den Absturz ins Bodenlose. Man ist versucht, darin eine Analogie zur familiären Erziehung zu sehen. Auch in ihr hängt alles Wesentliche an diesen beiden Faktoren: Freiheit und Geborgenheit. Denn nur ein Kind, das sich geliebt fühlt, wird die innere Ruhe haben, um kraftvoll seinen Weg zu gehen.
Nun ist die Gesellschaft keine Familie, und diese Prinzipien lassen sich nicht naiv ins Große übertragen. Aber sie schärfen den Blick für das, was auch hier notwendig wäre. Freiheit, das heißt auf der gesellschaftlichen Ebene: Eigenverantwortung. Angesichts der überregulierten deutschen Wirklichkeit bedeutet das, die staatliche Bevormundung radikal zu reduzieren. Es erfordert einen Abbau der tausend Regelungen, die den Menschen umstellen und seine Aufmerksamkeit permanent ins Marginale ziehen. Es wird einem ganz schlecht, wenn man daran denkt, wie viel geistige Energie hierzulande in Steuererklärungen fließt und wie wenig in echte inhaltliche Projekte. Hier gilt es, gründlich aufzuräumen - und darüber wenigstens herrscht inzwischen Einigkeit.
Das ist die eine Seite, die der Freiheit. Aber auch die andere, die der „Geborgenheit“, sollte ihren gesellschaftlichen Ausdruck finden. Allerdings nicht in Form der elenden Überbehütung, die wir heute haben, wenn uns auf Schritt und Tritt irgendeine staatliche Stelle reinredet, sondern in Form einer einfachen Grundsicherung für alle Bürger. Das heißt in Form einer bedingungslosen materiellen Basisversorgung. In ihr läge die Zusage: Es gibt in dieser Gesellschaft eine grundlegende Art von Solidarität, die letztlich jeden trägt, unabhängig von Leistung und Lebensweg. Nicht mehr und nicht weniger. Der Staat kann nicht versäumte Liebe ersetzen, aber er kann garantieren: Uns geht hier keiner verloren. Hier hat jeder seinen Platz.
Haben wir nicht eine solche Grundsicherung?
Wir haben sie, aber auf die falsche Weise. Die Sozialhilfe ist ja nur die unterste Masche in einem sozialen Netz, das einen solchen Wust an Anträgen, Verordnungen, Berechtigungen und Ausnahmen produziert, dass sein Wesen und sein Wert fast unsichtbar geworden sind. Die Sozialhilfe erscheint da nur noch als der letzte Topf, aus dem man sich mit doppelter Energie bedienen muss, um auch da noch etwas herauszuholen. Mit anderen Worten: Auch diese an sich kostbare Einrichtung, die unserer Gesellschaft zur Ehre gereichen könnte, wird noch verhunzt und gerupft und zeigt sich am Ende nur noch von ihrer erbärmlichen Seite. Was ein starkes Signal, ein Zeichen der Humanität sein könnte, geht in einer sozialen Katzenmusik unter.
Das alles lässt sich nicht dadurch aufhalten, dass noch tausend weitere Sperren aufgebaut werden, noch tausend weitere Hürden den Zugang zum Topf erschweren – so wie es die heutige Politik versucht. Die einzige Chance liegt vielmehr darin, diese politisch-soziale Verfilzung schrittweise aufzulösen; sie liegt in einer grundlegenden Klarstellung dessen, was des Bürgers und was des Staates ist.
„Dieser staatliche Anspruch, auch noch dem letzten Einzelschicksal und Wechselfall des Lebens gerecht zu werden, ist nicht nur unerfüllbar. Er ist auch – und das ist das Entscheidende – im Ansatz verfehlt.“
Das heißt zum einen: Der Großteil der sozialen Belange bleibt einzig und allein beim Bürger! Der Anschein einer Rundum-Zuständigkeit des Staates, der in den heutigen Diskussionen ständig mitschwingt, muss radikal zurückgewiesen werden. Das Wagnis des Lebens liegt beim Einzelnen. Ihm oder ihr sollten wir es zumuten, oder besser: zutrauen, dieses Leben zu meistern, es mit all seinen Chancen und Risiken zu bewältigen, mit der Aussicht auf ungeahnte Erfolge und – mit der Möglichkeit des Scheiterns.
Es heißt zum anderen: Nur in diesem letzten Fall, in existentiellen Notlagen, hilft die öffentliche Hand, mit Grundsicherung und Krankenbehandlung. Nur auf dieser elementaren Ebene ist tatsächlich eine öffentliche Fürsorge sinnvoll. Alles andere hingegen, von der Arbeitslosen- bis zur Rentenversicherung, sollte der Einzelne im eigenen Ermessen regeln.
Ein solches Modell mag hart erscheinen. Zumindest vor dem europäischen Hintergrund; denn gemessen an den amerikanischen Verhältnissen, in denen Millionen ohne Krankenversicherung leben, wäre es ein Fortschritt. Im Übrigen wirkt es vor allem dadurch hart, dass offen sichtbar wird, was jetzt nur eine versteckte Wahrheit ist: Denn auch der Sozialstaat kann die Sicherheit, die er suggeriert, längst nicht mehr bieten. Im Gegenteil hat er sich in einem solchen Ausmaß in zweitrangige Fragen verheddert, dass er Gefahr läuft, an den entscheidenden Stellen tatsächlich zu versagen. Es ist geradezu seine Lebenslüge, dass es möglich sei, auch noch dem letzten Einzelschicksal und Wechselfall des Lebens gerecht zu werden. Dieser staatliche Anspruch ist nicht nur unerfüllbar. Er ist auch – und das ist das Entscheidende – im Ansatz verfehlt. Er ist der Ursprung der mentalen Verwirrung, in der alle alles Mögliche von der Politik erwarten und diese eben im Netz dieser Ansprüche gefesselt ist.
Demgegenüber hätte das scheinbar härtere Modell den überwältigenden Vorzug der Einfachheit. Für die Einzelheiten des Lebens, so das Prinzip, sind auch die Einzelnen zuständig. Die Politik hat in diesen Geflechten der sozialen Wirklichkeit nichts verloren. Sie hat allein gewisse grundlegende Voraussetzungen zu garantieren, damit sich dieses Leben möglichst frei entfalten kann.
Gegenüber der heutigen begrifflichen Konfusion brächte ein solches Modell eine geradezu befreiende Klärung. Plötzlich versteht man, warum Konfuzius als Grundlage einer politischen Erneuerung eine „Richtigstellung der Begriffe“ forderte.
„So wenig der Staat als sozialer Übervater taugt, so wenig taugt er als Wirtschaftsagentur.“
III. Eine Richtigstellung ist noch in einer anderen Beziehung notwendig – und das ist der zweite Bereich, in dem ein modernes Politikverständnis für Klarheit sorgen müsste. Es müsste klären, wie sich die Politik zum Einfluss wirtschaftlicher Mächte stellt, vor allem zu dem der großen Industrie- und Finanzkonzerne.
Das ist ein Thema, bei dem die Diskussion leicht in die ideologischen Fallen der Vergangenheit läuft. Am Ende stehen sich dann einmal mehr die alten Bekannten aus dem 20. Jahrhundert gegenüber: Auf der einen Seite diejenigen, die die Macht der „Konzerne“ per se für verderblich halten. Auf der anderen diejenigen, die das bestehende Wirtschaftssystem im Prinzip für alternativlos halten und sich ganz auf die Frage konzentrieren, wie man es am besten in Schwung halten kann. Die einen würden die Konzerne am liebsten abschaffen, die anderen behandeln sie im Gegenteil höchst zuvorkommend, betrachten sie als Säulen der Wirtschaft, die es nach Kräften zu stützen gelte.
Doch das ist die falsche Alternative. Die politische Zukunft gehört einem anderen Modell: dieses würde die wirtschaftlichen Mächte und Großmächte akzeptieren, aber sie mit größter Distanz behandeln. Es würde auf einen deutlichen Abstand zwischen Politik und Wirtschaft hinarbeiten.
An dieser Stelle stöhnt ein großer Teil unserer politischen Klasse auf. Denn das klingt nach dem Gegenteil dessen, was sie unter einer modernen Wirtschaftspolitik versteht: nämlich die unermüdliche Förderung von Investitionen, eine allzeit „wirtschaftsfreundliche“ Miene, ein ständiges Tête-à-tête der großen Politik mit der großen Wirtschaft. Im Grunde also doch ein Schwenk zum amerikanischen Vorbild. (Aus dieser Sicht wird auch mit größtem Wohlgefallen verfolgt, wie wirtschaftliche Sichtweisen in immer weitere Bereiche vordringen: etwa ins Kulturleben, das mehr und mehr von der Gunst der Sponsoren abhängt; oder in die Wissenschaft, die sich krumm macht, um die begehrten Drittmittel aus der Wirtschaft zu erlangen. All das, so heißt es, diene dem „Standort“. Und dessen Erfolg, so hören wir weiter, diene letztlich auch der sozialen Wohlfahrt und den einheimischen Arbeitsplätzen. Gerade die großen Betriebe suchten sich sonst einen besseren Standort, im Ausland.) Politik, das ist nach diesem Verständnis eine Art Dienstleistung an der Wirtschaft, von der am Ende alle profitieren.
Doch das ist ein schweres Missverständnis. So wenig der Staat als sozialer Übervater taugt, so wenig taugt er als Wirtschaftsagentur.
Dies zunächst einmal aus ganz pragmatischen Gründen. Es ist schlicht falsch, dass sich Arbeitsplätze am ehesten durch Förderung von Großbetrieben schaffen ließen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade hier sind die Rationalisierungspotenziale am größten, während die mittleren und kleinen Betriebe auf den Menschen und seine besonderen Fähigkeiten angewiesen sind. Und gerade sie sind am stärksten lokal verankert.
Viel wichtiger ist allerdings ein grundsätzliches Argument. Denn diese Allianz mit der Wirtschaft beeinflusst auch die Politik selbst – und nicht zu ihrem Besten. Sie gerät unter einen dauernden Druck, stützend und steuernd ins Wirtschaftsleben einzugreifen. Damit ist dem Lobbyismus Tür und Tor geöffnet. So wie die Politik angesichts der sozialen Probleme dem ständigen Ruf ausgesetzt ist, endlich „etwas zu tun“, so sieht sie sich hier einem Standort-Gebettel gegenüber, das alle möglichen Formen der Protektion verlangt und meist auch erreicht; als Druckmittel genügt in der Regel die bewährte Sonst-gehen-wir-Erpressung.
Hinter all dem steht ein Politikverständnis, das sich in Begriffen wie dem von der „Deutschland AG“ selbst entlarvt – so, als sei dies das Ideal: einen politisch-ökonomischen Großkomplex zu schaffen, als dessen Geschäftsführer dann der Kanzler durch die Welt zieht.
Das aber ist der Tod der Politik. Denn eine Politik, die mit Haut und Haaren in einem solchen Netz an Interessen untergeht, hat diesen Namen nicht mehr verdient. Sie degeneriert zu einem taktischen Spiel auf engstem Raum, mit gefesselten Händen und getrübtem Blick, zwischen sozialen und ökonomischen Zwängen hin- und hergezogen – also zu dem, was wir heute erleben.
„Politik soll nicht den Ball umständlich vor sich hertreiben, sondern ihn beherzt zurück ins Feld spielen. Politik soll Politik sein, sie soll den Rahmen setzen und Abseits pfeifen. Aber das Spiel müssen die Bürger machen.“
IV. In der Konsequenz heißt das: Die politische Handlungsfähigkeit ist nur zu gewinnen, wenn sich die Politik schrittweise aus den beschriebenen Netzen befreit; wenn sie eine Art Resistenz gegen die sozialen und ökonomischen Erpressungsversuche ausbildet.
Das hat nichts mit Arroganz zu tun. Es würde nicht – wie man zunächst meinen könnte – den Abstand zwischen Politik und Bürgern weiter vergrößern. Im Gegenteil, es würde den Bürgern sozusagen ihre Politiker zurückgeben, die jetzt an der Leine der Interessengruppen laufen. Dabei geht es nicht um das Phantom einer jungfräulichen, interesselosen Politik. Es geht aber um eine Politik, von der die Bürger sagen können, dass sie – wenigstens in groben Zügen – ihren Interessen folgt, also mehr ist als die Schnittmenge bestimmter Lobby-Einflüsse.
Solche neuen politischen Weichenstellungen können gewiss nur in einem langen, schmerzlichen Prozess gelingen. Im Ganzen allerdings wären sie ein Segen. Und das nicht nur im Sinne politischer Handlungsfähigkeit. Die politisch-soziale Verfilzung hat ja nicht nur die Politik verdorben, sondern auch die Bürger. Im Lauf von Jahrzehnten sind sie zu einem behäbigen Publikum degeneriert, dessen Lamento kein Ende findet, das aber selbst kaum noch einen Finger rührt, solange nicht irgendein Schnäppchen zu machen ist. Ein solches Volk lässt sich in der Tat kaum noch aus den Sesseln locken, da helfen auch keine Innovationsrunden im Kanzleramt. Im Grunde wäre auch genau das Gegenteil gefragt: dass nämlich nicht die Politik diesen Ball umständlich vor sich hertreibt, sondern ihn beherzt zurück ins Feld spielt. Denn da gehört er hin. Politik soll Politik sein, sie soll den Rahmen setzen und Abseits pfeifen. Aber das Spiel müssen die Bürger machen. Nur durch ihre Initiative kann eine Gesellschaft kreativ und beweglich sein.
Ein solcher Wandel der gesellschaftlichen Atmosphäre würde mehr bewirken als die tausend Prämien und Sanktionen, mit denen man zurzeit versucht, das lethargische Land auf Trab zu bringen. Womöglich würde, oh Wunder, das Spiel von allein wieder in Gang kommen – aus Lust an der Bewegung und der schönen Kombination, und nicht weil von außen beschwörend hineingerufen wird.
Solche Aussichten wirken heute beinahe utopisch. Fast hat man sich schon mit den traurigen Zuständen abgefunden, fast scheint man davon auszugehen, dass die Menschen ohne staatliche Anreize am liebsten im Bett liegen blieben. Dem ist aber nicht so.