01.05.2007

Die Kosmopolitik des Risikos

Analyse von Sabine Reul

Über Ulrich Becks Weltrisikogesellschaft und seine verengte Sicht der Spielräume für die Gestaltung unserer Welt.

In den Abendnachrichten am 6. April schlug die Bombe ein: Der gerade verabschiedete neue Klimabericht des International Panel on Climate Change (IPCC) – dieses Mal zu den Folgen des Klimawandels [1] – sei noch um einiges düsterer als der vorangegangene im Februar, erfuhr man. Schon in absehbarer Zukunft seien „Milliarden“ Menschen gefährdet, und es drohten weltweit Überschwemmungen, Wirbelstürme und Dürrekatastrophen. Noch am gleichen Abend forderte der französische Staatspräsident Jacques Chirac eine „Revolution“ zur Rettung der Erde und die Verabschiedung einer „universellen Erklärung der Umweltrechte und Umweltpflichten“.


Es war eine jener sich häufenden Inszenierungen globaler Risiken, die Menschen erschrecken. Doch genau darin glaubt der deutsche Gesellschaftstheoretiker Ulrich Beck die Geburtswehen einer neuen kosmopolitischen Ordnung zu erkennen. In seinem jüngst erschienenen Werk Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit schreibt der Münchener Soziologieprofessor: „Weltrisikogesellschaft bringt eine neue, historische Schlüssellogik zur Geltung: Keine Nation kann ihre Probleme allein bewältigen. Dies ist nicht länger ein idealistisches Prinzip des utopischen Internationalismus oder einer sozialwissenschaftlichen Elfenbeinturm-Philosophie, sondern eine Einsicht der Realpolitik. Es ist das Grundgesetz des kosmopolitischen Realismus.“ [2] Im Mittelpunkt stünden dann „nicht die ‚Souveränität‘ oder die ‚Autonomie‘ des Staates, sondern seine Handlungsfähigkeiten …, also die Fähigkeiten der Staaten, zur kooperativen Lösung globaler Probleme beizutragen“. [3]


Man muss zunächst ohne jede Einschränkung anerkennen: Wieder einmal hat Beck, wie schon vor 21 Jahren mit Risikogesellschaft [4], ein fulminantes Werk vorgelegt. Kein anderer deutscher Sozialtheoretiker bringt auch nur vergleichbar umfassende Deutungen aktueller sozialer Tendenzen zustande. Becks Stärke liegt in der Fähigkeit zur übergreifenden Beschreibung sozialer Wirklichkeit. Irritierend dagegen ist zum einen, dass er das, was er schildert, als etwas noch zu Erringendes präsentiert – ganz so, als gäbe es diese Wirklichkeit nicht schon, sondern müsse unter Zuhilfenahme seines Deutungsapparats erst noch geschaffen werden.


Das ist befremdlich, denn der Übergang zu einer post-nationalen Politik ist seit den 90er-Jahren in vollem Gange. Die politische Macht diffundiert nicht erst seit heute munter über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg in internationale Organisationen, die sich dem globalen Management sozialer, politischer und ökologischer Risiken widmen – wofür nicht nur die enorme Erweiterung der Kompetenzen der EU-Organe in den letzten 15 Jahren spricht, sondern u. a. auch der schon 1988 vom Umweltausschuss der Vereinten Nationen ins Leben gerufene IPCC.


Mit der Forderung, der Umgang mit globalen Risiken habe vorrangige Aufgabe der Politik zu werden, beschreibt Beck ebenfalls nur, was schon der Fall ist. Die US-Regierung hat nach dem 11. September 2001 die Bekämpfung des globalen Terrorrisikos in den Mittelpunkt ihrer Weltpolitik gestellt – mit den bekannten unerbaulichen Ergebnissen. Der Klimaschutz hat in Europa derart hohe Priorität erlangt, dass in England Premierminister Tony Blair und Schatzkanzler Gordon Brown in seltener Einmut im vergangenen Herbst schon den „grünen Kapitalismus“ ausgerufen haben, in dem die Reduzierung des privaten und öffentlichen Energieverbrauchs und der Treibgasemissionen sowie die Entwicklung entsprechender alternativer Technologien zum Leitprinzip der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik werden sollen.


Wie Beck anmerkt, ist auch Unternehmen inzwischen klar geworden, dass der Klimaschutzkonsens neue Märkte schafft und selbst Ölmultis dazu bringt, Wege aus der Kohlendioxidwirtschaft zu suchen: „In einem ‚grünen Kapitalismus‘“, so Beck, „steht die Ökologie der Ökonomie nicht länger im Wege. Vielmehr gilt umgekehrt: Ökologie und Klimaschutz könnten schon bald ein Königsweg zum Gewinn sein.“ [5] So ist es – schon jetzt.


Und unter der deutschen Ratspräsidentschaft ist der Klimaschutz seit Beginn dieses Jahres auch höchstes Anliegen der EU-Politik. In Deutschland selbst hat sich die Ökologisierung der Politik auch in Union und FDP so weitgehend durchgesetzt, dass den Grünen der Umweltschutz als Alleinstellungsmerkmal längst abhanden gekommen ist. Selbst in den „klimaskeptischeren“ USA wird erwartet, dass – einerlei, ob 2008 ein Republikaner oder ein Demokrat ins Weiße Haus zieht – die nächste Regierung dem Umwelt- und Klimaschutz hohe Priorität einräumen werde. Damit könnte der von Beck beobachtete „Zusammenprall der Risikokulturen“ zumindest im transatlantischen Verhältnis möglicherweise schon wieder abebben, sodass fraglich wird, ob dieser wirklich, wie Beck meint, zum „Grundproblem der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“ werden muss. [6]


Denn die Lösung der Politik aus den Strukturen der Nationalstaatlichkeit und den mit ihnen verbundenen kulturellen Differenzen ist in Wirklichkeit schon weit vorangekommen. Die „Weltinnenpolitik“, die Beck bereits 1986 propagierte, hat sich inzwischen voll entfaltet. Schon seit Jahren erleben wir die Entstehung einer neuen politischen Elite, deren Beziehungsgeflecht im internationalen Raum im gleichen Maße zu wachsen scheint, wie ihre Beziehung zur nationalen Bürger- und Wählerbasis erodiert. Und darin einbezogen ist nicht nur die Politik im engeren Sinne, denn auch in der Wissenschaft hat sich der Trend zur Internationalisierung – in Deutschland in jüngster Zeit noch forciert durch die staatlich verordnete Angleichung an das US-Universitätssystem – stark beschleunigt.


Insbesondere in Europa entwickelt sich zurzeit ein grenzüberschreitendes Beziehungsgeflecht zwischen Politikern, Wissenschaftlern, Experten und – nicht zuletzt – Nichtregierungsorganisationen, sodass auch Becks Konzept einer Kosmopolitik, in der neben Staaten und Experten das, was er noch immer als „soziale Bewegungen“ beschreibt, Risikoprobleme verhandeln, keine Vision, sondern nackte Wirklichkeit ist. Und die Ausbreitung dieser globalen Expertokratie beschleunigt sich aktuell im Zeichen des Klimaschutzes – aber auch der Ausrichtung auf andere Risikothemen wie Migration und Demografie – rasant.

„Beck degradiert das Individuum zum Träger von Risikoangst und zum Rädchen im Prozess der Risikoverarbeitung.“


„Weltprobleme schaffen transnationale Gemeinsamkeiten“, meint Beck [7] – und so sieht es in der Tat aus. Nur fragt sich, ob das so emphatisch positiv zu bewerten ist, wie er es tut. Beck behauptet, die Sozialwissenschaft sei den in disziplinärer Binnensicht befangenen Naturwissenschaften in der Beurteilung der gesellschaftlichen Neben- und Langzeitfolgen planetarer Risiken überlegen. Das wäre ja schön. Doch jede noch so begrenzte naturwissenschaftliche Entdeckung eröffnet neue Spielräume für die Optimierung des Umgangs zwischen Mensch und Natur – von der Ernährung, Gesundheit und Energieversorgung bis zum effizienteren und schonenderen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Das lässt sich von Becks Soziologie des Risikos in Hinblick auf gesellschaftliche und politische Risiken dagegen nicht behaupten. Sie propagiert eine deterministisch verengte Sicht der Spielräume für die Gestaltung unserer Welt.


Beck verabsolutiert „Riskanz“. Er degradiert damit das Individuum zum Träger von Risikoangst und zum Rädchen im Prozess der Risikoverarbeitung. Im Unterschied zu Risikogesellschaft von 1986 beschreibt Beck in seinem neuen Werk zwar die „Wahrnehmung“ und „Inszenierung“ des Risikos als eigentlich treibenden Faktor der Weltrisikogesellschaft. Hier greift er die inzwischen unbestrittene Erkenntnis auf, dass der Terrorismus seit dem 11. September 2001 seine Dynamik erst in dem Augenblick entfaltet hat, in dem er durch mediale Inszenierung und Überreaktionen seitens der Politik zum beherrschenden Thema der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft wurde.


Doch zieht Beck daraus seltsamerweise nicht die nahe liegende Schlussfolgerung, etwas mehr Distanz und Sachlichkeit in der Risikowahrnehmung seien möglicherweise von Vorteil. Ganz im Gegenteil folgert er: „Es ist unwesentlich, ob wir in einer Welt leben, die ‚objektiv‘ sicherer ist als alle vorangegangenen – die inszenierte Antizipation von Zerstörungen und Katastrophen verpflichtet zu vorbeugendem Handeln.“ [8] Und dies postuliert Beck, obwohl er zugleich einräumt: „Die Risiken, die wir zu erkennen glauben und die uns Furcht einflößen, sind das Spiegelbild unserer selbst, unserer kulturellen Wahrnehmungen.“ [9] Laut Beck sind wir also nicht nur von natürlichen, technischen und sozialen Risiken umstellt, die eine politische Transformation erzwingen – wir sind zugleich auch auf unsere „kulturellen Wahrnehmungen“ zurückgeworfen, die die Welt des Risikos erst Wirklichkeit werden lassen.


Folglich werden in seiner Vision die Angst selbst zum Motor der Geschichte und die Verwaltung der Angst zum Primat der Politik. Auch hier schildert Beck – allerdings emphatisch affirmativ – nur, was ohnehin schon der Fall ist. In der Tat leben wir inzwischen in einer Risikokultur, einer Welt also, die die Selbstwahrnehmung der Menschen als Opfer unkontrollierbarer Gefahren kultiviert und in der die Politik sich zunehmend als Verwaltung des so bestimmten Gefühlshaushalts der Gesellschaft versteht. Nur fragt sich, ob das so sein muss und man es obendrein auch noch für gut zu befinden hat.


Beck affirmiert diese Kultur und meint, das Faktum der Riskanz schreibe vor, die Welt so und nicht anders zu sehen und politisch zu strukturieren. Dagegen wäre in Wirklichkeit zu fragen, warum Angst und Unsicherheit unsere Selbstwahrnehmung und politischen Institutionen heute so stark bestimmen.


Beck meint, Umwelt- und andere Risiken seien seit den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins Zentrum der sozialen Vorstellungswelt getreten, weil erst mit der „zweiten“ Moderne die Folgewirkungen des industriell-technologischen Fortschritts und globaler Marktdynamiken spürbar geworden seien. Doch das ist angesichts der dramatischen Umweltprobleme des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als beispielsweise ganz England pausenlos dichter, kohlenstaubgesättigter Nebel verhüllte, nicht plausibel – von den gewaltigen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts ganz zu schweigen.


Die Kultur des Risikos ist kein subjektiver Reflex auf objektiv erhöhte Risiken, sondern Ausdruck geminderten Vertrauens der Menschen in sich selbst. „Die Welt erscheint in der Tat gefährlicher, wenn das Selbst als machtlos und verwundbar wahrgenommen wird“, so der britische Soziologe Frank Furedi. [10] Dass es sich so wahrnimmt, ist der Sachverhalt, den eine humanistische Sozialtheorie überhaupt erst zu ergründen hat.


Man soll den Einfluss der Sozialtheorie gewiss nicht überschätzen. Doch die Popularisierung des Zweifels an Wissen und Rationalität durch die ökologisierten Sozialwissenschaften in den letzten 20 Jahren, an der Beck nicht unbeteiligt gewesen ist, hat der Entstehung dieser Kultur der Angst – und der entsprechenden Neuausrichtung der Politik – zumindest ein starkes geistiges Fundament geliefert. „Grundlage meiner Theorie der Weltrisikogesellschaft“ sei, so schreibt er, der „Gedanke, gerade das Ungesehene, Ungewisse, Ungewollte, Unkalkulierbare, Unerwartete, Ungewisse, das durch das Risiko auf Dauer gestellt wird, könnte zum Quellpunkt von nicht-antizipierbaren Möglichkeiten und Gefahren werden“. [11] Beck will sich die Risikogesellschaft als Sprung aus dem Gehäuse der durchrationalisierten Welt schönreden. Doch wenn wir nichts wissen, antizipieren, erwarten und wollen könnten, wäre das Leben in der Tat genau so, wie er es beschreibt: ein unkalkulierbarer Prozess, in dem die Nichtwissenden sich von mächtigeren Nichtwissenden lenken lassen.

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