01.01.2006

Die Große Fusion

Analyse von Sabine Reul

Über die schwarz-rote Koalition der Sozialtherapeuten.

Der Amtsantritt der Großen Koalition hat in der deutschen Öffentlichkeit ein seltsam verhaltenes Echo gefunden. Über Stimmung und Personen im neuen Regierungsbündnis wird zwar reichlich berichtet, doch was die politische Bewertung der neuen Konstellation betrifft, herrscht deutliche Zurückhaltung. Das mag damit zusammenhängen, dass alles noch etwas ungewohnt ist. Es liegt sicher aber auch daran, dass sich die rot-schwarze Koalition in einer Weise geriert, die nach konventionellen Maßstäben eben auch unpolitisch erscheint. Und das könnte das Markenzeichen dieser Regierung werden.

Union und SPD haben sich auf ein Regierungsprogramm geeinigt, das trotz Unionsmehrheit ausgesprochen sozialdemokratische Züge trägt. Die geplanten Maßnahmen der neuen Regierung – von der Einführung staatlicher Investitionsprogramme über die Vertagung der Haushaltssanierung und des Subventionsabbaus, bis zu den für 2007 vorgesehenen Steuererhöhungen – widersprechen allerdings nicht nur den Positionen, für die die Union bislang stets stand. Sie sind ein Rückfall selbst hinter Gerhard Schröders Reformagenda 2010, die rückblickend nun vergleichsweise radikal erscheint.

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass das konservative Parteienbündnis CDU/CSU seine pro-marktwirtschaftliche Programmatik nun auch formal zu den Akten legt. Zwar war Angela Merkel noch nie „neoliberal“, wie plötzlich gerne behauptet wird. Und bekanntlich war schon unter Helmut Kohl das Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft für die praktische Politik der Union nur von marginaler Bedeutung. Doch nun steht Angela Merkel an der Spitze einer unionsgeführten Regierung, in der die traditionellen wirtschaftspolitischen Positionen der Union auch formal überhaupt keinen Niederschlag mehr finden.

Was hat das alles zu bedeuten? In informierten Kreisen erklärt man diesen Umstand mit der Notwendigkeit der Kompromissfindung zwischen den ehemals feindlichen Bündnispartnern. Andere meinen, in den Koalitionsverhandlungen habe die „linke“ SPD die „rechte“ Union über den Tisch gezogen. Und aus Unionskreisen verlautet, all das sei nur temporär, und man werde gewiss bald wieder mit ureigenen Positionen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf den Plan treten.

Ganz ausschließen kann man das natürlich nicht, doch spricht wenig dafür. Angela Merkels „Kuschelkurs“ (Der Spiegel) gegenüber dem Koalitionspartner signalisiert eher, dass die inhaltlichen Differenzen zwischen den Parteien bedeutungslos geworden sind. Hier geht es längst nicht mehr um „rechts“ oder „links“. Die konträren gesellschaftlichen Überzeugungen, um derenthalben es einst verschiedene Parteien gab, sind für alle praktischen politischen Zwecke heute offenbar belanglos.

Insofern hat der Antritt der schwarz-roten Koalition auf jeden Fall eines erreicht: Die Lage ist geklärt. Parteien im gewohnten Sinn des Wortes gibt es nicht mehr. Nach einem turbulenten Wahljahr, in dem sich der Sinn- und Orientierungsverlust bei SPD und CDU/CSU lagerübergreifend zum latenten Zerfallsprozess zuspitzte, haben sie aus dieser ominösen Erfahrung offenbar die Lehre gezogen, weiteren Zerfallstendenzen vorzubeugen. Konsens und Befriedung sind folglich das Kernprinzip der Strategie der neuen Regierung. Und eben deshalb sind geradezu harmoniesüchtig anmutende Einigkeit nach innen und eine betont sozialfreundliche Haltung nach außen die prägenden Merkmale der schwarz-roten Koalition.
Dabei sind die Haltungen so täuschend ähnlich, dass der stellvertretende SPD-Fraktionsführer Ludwig Stiegler nach Angela Merkels Regierungserklärung verdutzt feststellen konnte: „Das war fast so sozial, wie wenn Franz Müntefering die Rede gehalten hätte.“ Doch das stimmt nicht ganz.

 

„Mit der schwarz-roten Koalition scheint nun auch in Deutschland das therapeutische Ethos verstärkt Einzug in die Politik zu halten.“


Angela Merkel hat nicht, wie Stiegler sich gefreut haben mag, klassisch sozialdemokratische Positionen übernommen. Die soziale „Sensibilität“ der neuen Kanzlerin ist von besonderer Qualität. Sie entspricht nicht dem alten sozialreformerischen Ethos der Sozialdemokratie. Sie entspricht allerdings auch nicht dem klassischen robusten Konservatismus, für den die Unionsparteien einmal standen. Die sozialfreundliche Aura der neuen Regierung korrespondiert vielmehr mit dem therapeutischen Ethos, den in der deutschen Politik bislang in erster Linie die Grünen verkörpert haben.
Hier liegt wohl die Originalität der neuen politischen Konstellation. Mit Angela Merkel vollzieht sich in der Union die Abkehr von klassischen Leitbildern des Konservatismus und der Übergang zu einer neuen Politik, die ihre Legitimation auf neue Weise zu begründen sucht. Sie begründet sie nicht mehr positiv aus einer Vision des guten Lebens, sondern aus der Verantwortung der Eliten für die angeblich Schwachen. Dieser therapeutische Ethos, der in den angelsächsischen Ländern schon erheblich länger in der Politik den Ton angibt, scheint mit der schwarz-roten Koalition nun auch in Deutschland verstärkt Einzug zu halten.

Sowohl in ihrer Regierungserklärung als auch im Rahmen der innerparteilichen Debatte über den vergangenen Unionswahlkampf bediente sich die Kanzlerin einer Sprache, die den Übergang zum therapeutischen Ethos deutlich markiert.
Da war die Rede von „Politik am Menschen“, von den „Schwachen“, denen man Vertrauen geben müsse, „nicht alleine gelassen“ zu sein, und davon, „tiefer zu begreifen, was die Wähler bewegt“. Hier war nicht mehr in klassisch politischem Sinn von Projekten, Maßnahmenkatalogen oder Programmen die Rede. Deutlich wurde vielmehr das Streben der Kanzlerin, ihrer Regierung durch die therapeutische Definition der Aufgaben der Politik wieder die Legitimität zu verleihen, die ihr in den letzten Jahren sichtlich abhanden gekommen ist.
Und dabei handelt es sich um eine Legitimität, die sich aus der Schwäche und Schutzbedürftigkeit der Regierten ableitet. Es ist folglich irrelevant, Berechnungen darüber anzustellen, ob in der neuen Regierung nun eher die ‚Rechten’ oder die ‚Linken’ Oberwasser haben. Denn hier handelt es sich um eine neue politische Konzeption, die mit diesen alten Schlagworten nicht zu fassen ist.

In ganz Europa sind zurzeit sehr ähnliche Prozesse zu beobachten. Bis Ende der 90er-Jahre wurde die Politik maßgeblich durch das Streben sozialdemokratischer Parteien – so auch der SPD unter Gerhard Schröder – geprägt, sich neu pro-marktwirtschaftlich auszurichten. Dieser Trend war, so wird nun rückblickend deutlich, temporärer Natur. Bedingt wurde er durch das kurzfristige Aufleben pro-marktwirtschaftlicher Impulse nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Er gab auch dem schon damals moribunden konservativen Lager – von Reagans Amerika über Thatchers England bis zu Deutschland unter Helmut Kohl – vorübergehend neuen Auftrieb. Die Politik des „Dritten Weges“ entstand aus dem Versuch der SPD ebenso wie der Labour Party in England, Anschluss an diesen Moment einer scheinbaren Renaissance der Ideologie des freien Markts zu finden.
Diese Etappe ist inzwischen längst Geschichte. Wie sehr, wurde jüngst in Frankreich deutlich. Dort beschloss der Kongress der Sozialistischen Partei Frankreichs (PSF), angesichts der Niederlage im Referendum über die europäische Verfassung und sonstiger Anzeichen verbreiteter sozialer Malaise (darunter die jüngsten Unruhen in den französischen Banlieues), sich in Vorbereitung auf die Präsidentschaftswahlen 2007 den Wählern mit einem sozialfreundlichen Programm zu präsentieren, das unter anderem die Erhöhung der Mindestlöhne vorsieht. Offenbar möchte auch die PSF, die unter dem inzwischen verstorbenen Präsidenten Mitterand schon Mitte der 80er-Jahre einen deutlich pro-marktwirtschaftlichen Kurs eingeleitet hatte, wieder ein „sozialeres“ Profil gewinnen.
 

„Die politische Fantasie hat sich von Visionen abgewendet. Sie kreist stattdessen um die Furcht vor einer als übermäßig komplex wahrgenommenen Welt.“


Auch das wurde von den meisten Beobachtern als „Linksruck“ des PSF gedeutet. Aber so lassen sich auch die französischen Ereignisse nicht einordnen. Es geht nicht um eine Renaissance sozialistischer Bestrebungen, sondern – wie übrigens auch in England, wo sich Premier Blair ebenfalls von innerparteilichen Forderungen nach einer sozialeren Politik umstellt sieht – um Furcht vor den destabilisierenden Folgen eines scheinbar keiner Kontrolle mehr zugänglichen globalisierten Umbruchsprozesses.
Das ist inzwischen der dominante Trend in der europäischen Politik. Und daher haben wir nun eben auch in Deutschland eine Situation, in der sich selbst die CDU/CSU als Partei der Fürsorge neu erfinden möchte.

Heute gibt es weder das eine noch das andere: weder politische Kräfte, die Alternativen zum Kapitalismus propagieren, noch begeisterte Anhänger der Marktwirtschaft. Die politische Fantasie hat sich von solchen Visionen abgewendet. Sie kreist stattdessen um die Furcht vor einer als übermäßig komplex wahrgenommenen Welt. Das Wirken des Marktes gilt als alternativloses und zugleich bedrohliches Schicksal. Folglich dreht sich Politik nur noch um die Abwehr von Krisen und Gefahren. Sie gestaltet nicht mehr, sondern reagiert bloß noch.

In seinem neuen Buch Politics of Fear. Beyond Left and Right schreibt der britische Soziologe Frank Furedi (s. auch S. 32 in diesem Heft): „Seit den 80er-Jahren glaubt die politische Elite, dass wirtschaftliche Realitäten immer über politische Ambitionen siegen werden. Folglich sind politische Maßnahmen nicht mehr das Ergebnis informierter Auseinandersetzungen, sondern Reaktionen auf globale Kräfte, die keiner mehr kontrollieren zu können glaubt.“ In einer solchen Konstellation, in der politisches Handeln als ohnehin aussichtslos gilt, werden politische Differenzen in der Tat irrelevant.

Vor diesem Hintergrund ist es müßig, wie in den letzten Wochen vielfach geschehen, Vergleiche zwischen der neuen Bundesregierung und der Großen Koalition Ende der 60er-Jahre zu ziehen. Damals war Fatalismus in der Politik noch völlig unbekannt. Willy Brandt als charismatischer Außen- und Karl Schiller als Wirtschaftsminister der damaligen Großen Koalition führten die junge Bundesrepublik aus der erstarrten Adenauer-Ära. Und sie setzten äußerst kontroverse und ambitionierte Konzepte durch: an erster Stelle die Politik der Öffnung gegenüber dem Sowjetblock und eine keynesianistische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Im Parlament flogen damals, befeuert durch scharfzüngige Redner wie Herbert Wehner, trotz Koalition zwischen Union und SPD die Fetzen.
Der Unterschied zu heute könnte größer kaum sein. Die Koalition war zu jener Zeit Mittel zum Zweck – des Machtgewinns und der Umsetzung einer von anspruchsvollen gesellschaftlichen Erwartungen getragenen Agenda. Heute haben wir eine politische Elite, die mit Macht wenig Sinnvolles anzufangen weiß und daher als Therapeut der Gesellschaft eine neue Rolle sucht.

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