01.09.2004

Die Fruchtfliege, ein Limerick

Rezension von Hubert Markl

Hubert Markl über Christiane Nüsslein-Volhards neues Buch "Das Werden des Lebens. Wie Gene die Entwicklung steuern".

Christiane Nüsslein-Volhard, Deutschlands erste und bisher einzige Nobelpreisträgerin für Medizin, hat ein Buch geschrieben. Es geht um ihr Spezialgebiet, die Entwicklungsgenetik, doch es richtet sich an ein allgemeines Publikum, das wenig von Fruchtfliegen weiß, sich aber sehr für den Einfluss der Gene auf das eigene Leben interessiert.

Entwicklungsgenetik, was ist das denn eigentlich? Ich will einen kleinen Umweg wählen, dies zu erklären, der vielleicht zunächst sogar etwas erstaunen wird. Man stelle sich vor, man läse im biophilosophischen Feuilleton einer bedeutenden deutschen Tageszeitung folgende Meldung: Wissenschaftler hätten in einem Langfristvorhaben der deutschen Akademien die Werke von zehn der berühmtesten Dichter der Weltliteratur in deutschen Ausgaben Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort verglichen – also meinetwegen von Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Flaubert, Dostojewski, Melville, Thomas Mann, Rabindranath Tagore und natürlich des allerberühmtesten Autors aller Autoren, um nicht gar zu sagen „der Mutter aller Autoren“, der seinen prophetisch-apostolischen Ghostwritern die ganze Bibel eingegeben hat. Dabei habe man nicht nur gefunden, dass nahezu 100 Prozent der von ihnen verwendeten Buchstaben identisch waren, sondern dass sich auch in ihrem Wortschatz von mehr als 100.000 Begriffen eine ganz erstaunliche Übereinstimmung von weit mehr als 90 Prozent ergab – natürlich ein wundervoller Beleg für die große Verwandtschaftsnähe dieser erlesenen Schöpfer geistiger Originalkreationen.

Bei einer solchen Meldung würde man sich doch sogleich fragen, was denn dann bei so viel Übereinstimmung den zum Teil geradezu abgrundtief verschiedenen geistigen Gehalt dieser Werke ausmacht, wenn die bloße Korrelation ihrer Buchstaben und Wortsequenzen davon so wenig erkennbar macht? Genau darum geht es jedoch auch bei der unverkennbaren Einzigartigkeit der Millionen biologischen Spezies von Mikroben, Pflanzen und Tieren in der schier unerschöpflichen Vielfalt ihrer Formenfülle, ihrer Leistungen und ihres Verhaltens, bis hin zum überragenden Sonderfall Mensch, wenn uns der Sequenzvergleich ihrer Genome in einer anödenden Gleichförmigkeit von nur vier Nucleotidbuchstabenketten und in so frappierenden Übereinstimmungen der Repertoires an Erbanlagen bei Wurm bis Fisch, bei Fliege bis Maus, und zu guter Letzt gar bei Affe, ja sogar Ratte und Mensch entgegentritt.

"Wie werden aus oberflächlich ähnlichen Gen-Ausstattungen am Ende eine Rose oder ein Falke, eine Ameise oder ein Wolf, ein blökendes Schaf oder ein plapperndes Menschenkind, ein liebliches Mädchen oder ein rostiger Greis?"

Genau deshalb ist es auch so wenig wichtig, ob eine Tierart nun 15 oder 30.000, oder ob der Mensch nun 30, 40, 50 oder 100.000 Gene – sprich: Worte und Begriffe – besitzt. So wie mit wenigen hundert Worten, bei einem japanischen Haiku gar nur mit einem Bruchteil davon, unvergängliche Gedichte geschaffen werden können, so wie auch mit vielen Tausenden von Worten unter Umständen der größte Mist zusammengeschrieben werden kann, so kommt es auch bei den Genomen gar nicht so sehr auf die Gesamtzahl der Gene an, geschweige denn, dass sich die Höhe der Entwicklung einer Lebensform davon ablesen ließe, sondern auf das räumlich und zeitlich geordnete Ablaufgefüge des Zusammenwirkens dieser Gen-Begriffe in einem gestalteten, biologisch wohl angepassten, das heißt bedeutungsvollen Text!

So wie uns nicht die Buchstabenlawinen und auch nicht die Wortkaskaden und deren relative Häufigkeiten irgendetwas Belangvolles über Bibel oder Faust sagen, sondern erst die nach vielgestaltigen Regeln grammatikalischer Konstruktion kunstvoll gefügten Sätze und Texte, in denen der Geist der Werke zu Sprache geronnen ist, so kann erst die Aufklärung des vielfältig vernetzten, in Regelsystemen verschlungenen, zeitlich geordneten Zusammenwirkens von Zigtausenden von Genen und dem Vielfachen davon an Proteinen verständlich werden lassen, wie aus oberflächlich so ähnlichen Gen-Ausstattungen am Ende eine Rose oder ein Falke, eine Ameise oder ein Wolf, ein blökendes Schaf oder ein plapperndes Menschenkind, ein liebliches Mädchen oder ein rostiger Greis hervorgehen konnten. Genau um diese Aufklärung kümmert sich die Entwicklungsgenetik und genau für ihre grundlegenden Entdeckungen auf diesem Gebiet wurde Christiane Nüsslein-Volhard berühmt und völlig zu Recht vielfältig ausgezeichnet.

Individuen, Populationen und Spezies sind Texte, die wir im Buch der Natur vorfinden; Christiane Nüsslein-Volhard hat sie uns – wenigstens in vorläufigen Bruchstücken – lesen gelehrt. Jedenfalls war sie eine der ersten, die sich erfolgreich aufmachten, den verwinkelten Weg von der Molekularchemie der Gene zur Entfaltung der in ihr verschlüsselten Lebensbedeutung zu gehen. Ihre Pionierarbeit bestand darin, an der Fruchtfliege Drosophila aufzuklären, wie definierte Gene und deren morphogenetisch wirksame Signalmoleküle in zeitlich-räumlicher Koordination den Aufbau des Fliegenkörpers in seiner Vorn-Hinten-, Oben-unten-Polarität, seiner Symmetrie und seiner Segmentierung molekulargenetisch steuern; Erkenntnisse, die weit über die unscheinbare Fliege hinaus die Grundlagen für unser heutiges Verständnis der Körper- und Funktionsentwicklung aller Lebewesen, einschließlich von uns Menschen, gelegt haben. Dies alles und vor allem, was die Familie der HOX-Gene damit zu tun hat, kann man auf für jedermann und jedefrau zugängliche Weise aus ihrem schönen neuen Buch lernen.

Es ist ja nicht nur das Thema des Lebens von Christiane Nüsslein-Volhard; es ist auch das Thema unseres eigenen Lebens; es ist das Thema alles Lebens: wie aus ein paar Tausend Genen eine Hefezelle, aus ein paar Zehntausend Genen, aus Milliarden Nukleotidbuchstaben eine Fliege, ein Fisch, ein Mensch werden kann; das ist und bleibt – selbst wenn es bis ins atomare Detail aufgeklärt sein wird – genauso ein Wunder wie jenes, dass aus Tausenden oder Millionen Buchstaben ein Gedicht von Gottfried Benn, ein Hamlet oder ein Faust – oder auch nur ein Limerick hervorgehen kann. Ein Text, der genauso wunderbar bleibt, wenn wir alle linguistischen Regeln, alle Rechtschreibvorschriften, und selbst den Buchdruck im modernen Computersatz verstanden haben.

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