06.07.2009

Die Freizeit-Dienstleister

Von Nora S. Stampfl

Die breite Masse der Internetnutzer wird zum Dienstleister: ob einfache Aufgaben oder Spitzenforschung – für beinahe jedermann findet sich etwas zu tun. Unternehmen freuen sich über Kostenvorteile und flexibilisieren so ihre Produktionsabläufe.

10.000 Schafe tummeln sich auf der Webseite „The Sheep Market“ (http://www.thesheepmarket.com). Entstanden ist diese digitale Schafherde innerhalb von vierzig Tagen, jedes einzelne gezeichnet von einem von Tausenden über den Erdball verstreuten Menschen – für zwei US-Cent pro Stück. Ermöglicht hat dieses ungewöhnliche Projekt der vom Internethändler Amazon betriebene internetbasierte Marktplatz “Mechanical Turk” (https://www.mturk.com/mturk/welcome). Dieser Internetservice ermöglicht es Unternehmen, Arbeitskräfte zu finden, die simple Tätigkeiten verrichten, welche nicht automatisierbar sind: etwa die Identifikation von Objekten auf Fotos, Zuordnung von Produkten zu Warenkategorien, Anfertigen kurzer Produktbeschreibungen, Verfassen von Textzusammenfassungen, die Niederschrift von Podcasts – oder eben das Zeichnen von Schafen. „Draw a sheep facing to the left“ lautete der leicht nachvollziehbare Arbeitsauftrag. Beinahe jeder kann bei „Mechanical Turk“ etwas Passendes zu tun finden. Zur Ausführung der Aufgaben sind keine besonderen Fähigkeiten notwendig – Computer allerdings sind im Allgemeinen ziemlich schlecht darin, die dort bereitgestellten Aufgaben zu lösen.

Amazon stellt mit seinem „Mechanical Turk“ das bekannte Prinzip der Mensch-Maschine-Zusammenarbeit, dass nämlich der Mensch die Anweisungen gibt und die Maschine dabei hilft diese abzuarbeiten, auf den Kopf: Hier bekommen Computer Hilfe von Menschen bei der Lösung der gestellten Aufgaben. Bei der Namensgebung stand der vom österreichischen Erfinder, Schriftsteller und Beamten am Hofe Maria Theresias, Wolfgang von Kempelen, 1769 konstruierte „Schach- und Trick-Türke“ Pate. Dieser ist eine vorgebliche Schachmaschine, die einem in türkische Tracht gekleideten Mann nachempfunden ist, der vor einem Tisch mit Schachbrett saß. Der Schachtürke war ein großer Erfolg, und so namhafte historische Persönlichkeiten wie etwa Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte oder Edgar Allen Poe forderten ihn heraus. Jedoch: Das Gerät war eine Täuschung. In seinem Inneren war ein menschlicher Schachspieler verborgen, der mittels einer mechanischen Vorrichtung die Schachzüge der Puppe steuerte. Nach dieser „Maschine“ also benannte Amazon seinen Webservice, weil hinter dem System ebenfalls Menschen stecken, die wie eine Maschine funktionieren.

Tatsächlich bewirken Internetmarktplätze á la „Mechanical Turk“, dass seit einiger Zeit eine gesichtslose Heerschar von Dienstleistern bereitsteht, ausgerüstet lediglich mit einem Computer, um einfache Arbeiten für verschiedenste Unternehmen – völlig flexibel ohne Arbeitsvertrag – zu verrichten. Richteten Unternehmen bislang auf der Suche nach billigen Arbeitskräften ihren Blick Richtung China oder Indien zur Auslagerung von Arbeitsprozessen, so werden sie heute unter Umständen schon in der unmittelbaren Nachbarschaft fündig – solange die Arbeitswilligen nur über eine Verbindung zum Internet verfügen. Das „verteilte Arbeiten“ macht sich das Internet zunutze, um brachliegende Denkleistung von Millionen menschlicher Gehirne anzuzapfen. Dieses Prinzip wurde schon erfolgreich in der Computerwelt angewandt: Distributed Computing-Projekte fassen ungenutzte Rechnerleistung von Millionen einzelner Computer zusammen und nutzen diese zur Bewältigung großer Projekte. Zum Beispiel befasst sich das seit 1999 durchgeführte Projekt SETI@home (Search for extraterrestrial intelligence at home, http://setiathome.ssl.berkeley.edu) der Universität von Kalifornien, Berkeley, mit der Suche nach außerirdischem intelligenten Leben, indem es zur Analyse großer Mengen von Daten über das Internet verbundene Computer nutzt. Durch die immense Anzahl beteiligter Computer kommt eine Rechenleistung zustande, die ansonsten unbezahlbar wäre. Ebenso zerstückeln Unternehmen ihre Aufgaben in winzige Portionen und lassen sie über „Mechanical Turk“ von einer Heerschar von Arbeitern lösen. Im Unternehmen fügt sich alles wieder zu einem Ganzen zusammen.

Es ist wohl eine Ironie der Geschichte – und eine Ungenauigkeit in Amazons Namensgebung –, dass die unglaublichen Fähigkeiten des Schachtürken, der zur Geburtsstunde der industriellen Revolution präsentiert wurde, in der Öffentlichkeit Ängste hervorriefen, dass Maschinen menschliche Arbeitskräfte verdrängen würden. Amazons „Mechanical Turk“ aber bewirkt genau das Gegenteil: Glaubte sich die Menschheit durch die rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der Informationstechnologie auf dem besten Wege dahin, immer mehr sinnentleerte, stupide Tätigkeiten auf Maschinen und Computer abzuwälzen, holt das Konzept des „Mechanical Turk“ Menschen dahin zurück, genau diese Tätigkeiten selbst auszuführen.

Dementsprechend ist „Mechanical Turk“ auch Kämpfern gegen die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten ein Dorn im Auge: Sie sehen in dieser Art von Arbeit nichts anderes als digitale Fließbandfertigung zu Hungerlöhnen. Auch für Aaron Koblin, den Initiator von „The Sheep Market“, bedeutete sein Projekt eine kritische Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt der Zukunft. Trotz dieser Bedenken sind alle Beteiligten glücklich: die Unternehmen ohnehin, sparen sie auf diese Art und Weise der Auftragsvergabe doch Unmengen von Geld. Auch werden Aufträge gewöhnlich viel schneller erledigt, hat man doch Hunderte „Turkers“ für sich arbeiten, was bei herkömmlicher Auftragsvergabe kaum der Fall sein dürfte. Amazon sieht das Projekt als großartig gelungenes Beispiel dafür, wie man eine Unmenge von Menschen dazu bringen kann, schnell, ohne großen Aufwand und billig Aufträge zu erfüllen. Und auch vonseiten der Arbeiter kommen keine Klagen – auch nicht, was die geringe Entlohnung betrifft. Viel spricht ohnehin dafür, dass kaum jemand die Aufgaben des Geldes wegen löst. Aus welchen Gründen auch sollten Menschen erhebliche Zeit aufwenden, um Schafe zu zeichnen – für einen Stundenlohn von ungefähr 0,69 US-Dollar? Nachdem „The Sheep Market“ geschlossen wurde und keine weiteren Schafe mehr annahm, fuhren die Zeichner fort, Schafe einzusenden, schlicht, um sie als Teil der Herde zu sehen. Viele Menschen sehen das Lösen der Aufgaben als Zeitvertreib gleichsam dem Daddeln am Computer, andere betrachten es als Möglichkeit, kleine Summen hinzuzuverdienen, um ungenutzte Zeit lukrativer zu machen. „Turkers“ haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, Aufgaben müssen zwischendurch erledigt werden können: Daher stört sich auch niemand an der modernen Art der Fließbandfertigung, der Zerlegung des Gesamtprozesses in kleinste, für den Einzelnen keinen Sinn mehr ergebende Portionen.

Aber nicht nur unqualifizierte Arbeit, sondern auch solche, die einiges an Wissen erfordert, wird nach diesem Prinzip ausgeführt. Open Source Softwareprojekte etwa zeigen, dass Menschen in ihrer Freizeit – auch ohne Bezahlung – Programme schreiben, die jenen hochbezahlter Entwickler großer Firmen um nichts nachstehen. Die Motivation ist hier eine andere: Menschen wollen zeigen, was sie können. Auch kann hier der Entfremdungsvorwurf nicht gelten: Selbstverwirklichung sowie Spaß an der Sache und Herausforderung sind die wesentlichen Antriebsfedern. Auch die unzähligen Stockfotografie-Plattformen, auf denen (Hobby-)Fotografen für geringste Summen Fotos anbieten, haben sich bereits so erfolgreich im Markt etabliert, dass sie vielen professionellen Fotografen den Schlaf und letztlich den Job rauben. Auch dabei profitieren Fotoanbieter und Käufer gleichermaßen: Der Fotograf verdient sich mit seinem Hobby ein kleines Taschengeld und sieht seine Fotos in der Öffentlichkeit präsentiert, während diese vormals in einer Schublade oder auf der Festplatte verstaubten, und die Fotokäufer bekommen Fotos zu einem Bruchteil dessen, was sie bei herkömmlichen Fotoagenturen bezahlen würden. Diese Beispiele zeigen, dass das Internet zunehmend zu einem Raum wird, in dem Menschen nicht nur kommunizieren und konsumieren, sondern ihren Interessen nachgehen, sich verwirklichen, sich aktiv beteiligen wollen.

Und sogar Spezialwissen steht im Internet zur Verfügung und wartet nur darauf, von Unternehmen abgerufen zu werden. Die Zukunft von Forschung und Entwicklung wird stark von der breiten Masse der freiwillig arbeitenden Freizeit-Dienstleister bestimmt. Unternehmen gehen vermehrt dazu über, zur Lösung von Problemen, die sich im Rahmen der Forschung ergeben, das in den unzähligen Köpfen schlummernde Wissen der durch das Internet verbundenen Laienforscher anzuzapfen: private Küchen und Hobbykeller werden zu Chemielaboren. Was Amazons „Mechanical Turk“ für einfache Arbeiten ist, ist „InnoCentive“ (http://www.innocentive.com) für Spezialwissen. Diese von der Pharmafirma Eli Lilly finanzierte Web-Plattform schafft ein Netzwerk von Wissenschaftlern, die von Firmen dort bekanntgemachte Probleme lösen. Unternehmen („Solution Seekers“) beschreiben wissenschaftliche Probleme, auf die sie in ihrer Forschung stoßen, auf der Webseite von „InnoCentive“ und bezahlen für deren Lösung fünf- bis sechsstellige Dollarbeträge an die Freizeit- Wissenschaftler („Problem Solvers“) sowie eine Gebühr an „InnoCentive“. Genau wie der „Turker“ auf „Mechanical Turk“ erfährt auch der „Solver“ auf „InnoCentive“ oft nicht, für wen er arbeitet oder wofür genau das Unternehmen die erarbeitete Lösung am Ende verwendet. Viele Unternehmen veröffentlichen schon aus dem Grund lediglich exakt abgegrenzte Teilprobleme, um der Konkurrenz nicht allzu viel von der Forschungsrichtung preiszugeben. Erst wenn die einzelnen Mosaiksteinchen von Lösungen zusammengefügt werden, ergibt sich ein neues Produktfeature oder gar ein völlig neues Marktangebot.

Bemerkenswert ist, dass zu den „Solution Seekers“ nicht nur kleine Firmen zählen, die sich eine eigene Forschungsabteilung sparen möchten, sondern namhafte Unternehmen wie etwa Boeing, DuPont, oder Procter & Gamble, die sicherlich gut ausgestattete Forschungslabore ihr Eigen nennen. Weil die Aufgaben von einer Unmenge von Leuten mit den verschiedensten Fähigkeiten gelesen werden, wird sich auf „InnoCentive“ für jedes Problem ein geeigneter Kopf finden, der die Lösung parat hat, so hofft man, wenn die Topforscher in den Entwicklungsabteilungen mit ihrem Latein am Ende sind. Die Erfahrung zeigt: Die Chancen, eine Nuss zu knacken, sind größer, wenn der „Solver“ nicht vom Fach ist. Oft sehen die Wissenschaftler im Unternehmenslabor den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, ein völlig unverbrauchter Blick auf die Dinge kann dann manchmal Wunder wirken. Eben durch die Vielfalt an hoch spezialisiertem Nischenwissen, die in diesem Netzwerk vereint ist, wurden bereits viele Forschungsprobleme gelöst – und das zu einem Bruchteil der Kosten, die dafür intern angefallen wären. Heute stellt sich für viele Unternehmen in forschungsintensiven Branchen das gegenwärtige Modell, Forschung und Entwicklung zu betreiben, als nicht zukunftsfähig heraus, da die Kosten dafür schneller ansteigen als die Umsätze. Sich bei der Lösung von Einzelproblemen an externe Wissenschaftler zu wenden, könnte hier durchaus Abhilfe schaffen.

Der Vormarsch der Freizeit-Dienstleister wird ermöglicht durch das Internet, das einen schnellen, globalen Austausch von Daten und Ideen erlaubt, und folgt dem Trend, dass flexible Produktionsformen immer stärker den traditionellen Industriebetrieb ablösen, wodurch eine vielfältige Vernetzung von Unternehmen mit Akteuren außerhalb der Organisationsgrenzen zu beobachten ist. Ein Netz von Netzwerken spannt sich auf – innerhalb von einzelnen Unternehmen, zwischen verschiedenen Unternehmen, zwischen Unternehmen und Einzelpersonen. Getrieben wird diese Entwicklung vom Ruf nach Flexibilität, weil es für Unternehmen heute lebensnotwendig ist, auf Änderungen in der Umwelt schnell zu reagieren und den Konkurrenten immer eine Nasenlänge voraus zu sein: die Transparenz auf den Märkten steigt, der Konkurrenzkampf muss global ausgetragen werden und Produktlebenszyklen werden immer kürzer. Um den Innovationswettlauf zu bestehen, ist ein hohes Reaktionspotential heute der allerwichtigste Wettbewerbsvorteil. Wie aber schaffen es Unternehmen, immer und überall am Ball zu bleiben und auf jede Chance oder Gefahr schnellstens in geeigneter Weise zu reagieren? Kein Zweifel: die alten schwerfälligen Organisationsstrukturen und Gepflogenheiten des Wirtschaftens werden mit dieser Mammutaufgabe überfordert sein.

Wirtschaften erfolgt immer stärker projektgetrieben. Nicht mehr die Unternehmenshülle gibt den Rahmen der Aufgabenerledigung vor, sondern einzig und allein die jeweilige Aufgabe selbst. Zu diesem Zweck bilden sich von Fall zu Fall jeweils geeignete Einheiten, die sich nach Erledigung ihrer Aufgaben und Projekte wieder auflösen, um sich in einer neuen Einheit neuen Aufgaben zu widmen. Leistungserstellung wird immer weniger zur Gänze innerhalb eines einzigen Unternehmens zustande kommen, sondern gleicht eher einem Puzzle aus vielfältigen Dienstleistungen, die zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Akteure in der modernen Wirtschaft werden daher zunehmend auf einen bestimmten Teil der Wertschöpfungsstufen oder auf Funktionen, die klassische Unternehmen in die eigene Organisation integriert haben, spezialisiert sein. So bildet sich eine breite Palette von Nischenanbietern heraus, die eine Vielzahl unternehmensbezogener Dienstleistungen anbietet, die die traditionellen Inhouse-Funktionen ersetzen. Aufgrund der hohen Spezialisierung dieser Anbieter werden diese immer öfter auch Einzelpersonen sein. Wer auch immer über freie Zeit verfügt und sich durch die Aufgaben des „Mechanical Turk“ klicken oder sich als Freizeiterfinder betätigen möchte, kann heute auf dem globalen Markt zum Dienstleister der Weltkonzerne werden.

Nora S. Stampfl studierte Wirtschaftswissenschaften in Österreich (Mag.rer.soc.oec.) und in den USA (MBA). Sie arbeitet als Unternehmensberaterin und lebt in Berlin. Den Interessenschwerpunkten Strategische Unternehmensführung und Zukunftsfragen widmet sie sich auch als freie Autorin.

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