01.09.2006

Deutschland und die Weltpolitik

Kommentar von Sabine Reul

Die Krise im Libanon wirft ein Schlaglicht auf die Sprachlosigkeit der Politik und der Intelligenz in Deutschland.

Die Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt gestaltet sich in Deutschland provinziell, um nicht zu sagen: narzisstisch. Sie wird mit Argumenten geführt, die wenig erhellen außer der beschämenden Dürftigkeit der deutschen Auseinandersetzung mit diesem aktuellen Brennpunkt der internationalen Entwicklung. Auf der Ebene von Parteien und Regierung reduzierte sich im August anlässlich der Planungen für die UN-Friedensmission im Libanon alles auf die für das Begreifen der Lage höchst unergiebige Frage, ob der Holocaust Deutschland die Teilnahme an der UN-Streitmacht zur Überwachung der Konfliktzone eher gebiete oder eben gerade verbiete. Schließlich könne es dort, so wurde erwogen, zu Schusswechseln zwischen Juden und Deutschen kommen.


Unter Deutschlands Intellektuellen produzierte, wie Eva Menasse und Michael Kumpfmüller in der Süddeutschen Zeitung monierten, zur gleichen Zeit die „Affäre Grass“ innerhalb von drei Tagen „mehr Wortmeldungen und moralisch gefestigte Standpunkte von deutschen Dichtern und Denkern“ als der Krieg in Nordisrael und Südlibanon in den 33 Tagen davor.[1] Der Befund ist in der Tat niederschmetternd. Während anderenorts die schreibende Zunft darum rang, die Dynamik des neuen Nahostkrieges zu beleuchten, führte hier der Blick auf die Außenwelt sofort nach innen und in ewig gleiche Debatten. Deutschland ist offenbar im 21. Jahrhundert noch immer nicht angekommen.
Um sich ein Bild über die Hintergründe der jüngsten Eskalation in Nahost zu machen, blieb man folglich fast ausnahmslos auf ausländische Quellen angewiesen. Vor allem in Frankreich, England, Amerika, Israel und der arabischen Welt lieferten Presse und Medien das Material, das allein die Hinweise bietet, die notwendig sind, um sich vom unmittelbaren Schein der Ereignisse zum Begreifen vorzutasten: bald stündlich Berichte, detaillierte Hintergrundanalysen, Quellenverweise auf vertiefende Studien akademischer Experten unterschiedlichster Provenienz und immer wieder jede Menge kontroverser und pointierter, aber oft hoch informierter Stellungnahmen.
Diese lebhafte Informations- und Diskussionskultur gibt es in Deutschland nicht. Dabei geht es nicht um einen Unterschied der Qualität. Selbstverständlich sind auch in der Publizistik anderer Länder Einseitigkeit der Berichterstattung, schlampige Recherchen oder mangelnder Weitblick in der Ereignisdeutung weit verbreitet. Es geht um die Offenheit, das Interesse, den belebenden Wettstreit der Intellektuellen und Experten, insbesondere auch jüngerer, engagierter Autoren; kurzum: um jenen freien Markt der Fakten, Deutungen und Ansichten, der die offene Einsichtnahme in komplexe und strittige Sachverhalte überhaupt erst ermöglicht. Der wird zwar gerne als Ausweis einer offenen Gesellschaft beschworen, ist bei uns in Wirklichkeit aber nur vergleichsweise kümmerlich vorhanden.


Wieso debattieren wir darüber, ob deutsche Soldaten in den Libanon gehören? Warum nicht über die mehr als widersprüchliche Formulierung der UN-Resolution 1701, die die Grundlage für den Einsatz internationaler Truppen bildet? Oder über die viel sagende Ratlosigkeit der westlichen Politik angesichts einer Krise, deren Ausbruch ohne externe Einflüsse auf die Region so gewiss nicht eingetreten wäre (siehe dazu den Artikel auf S. 48 in dieser Novo-Ausgabe)? Oder warum diskutieren wir, statt über deutsche Empfindsamkeiten, nicht vielleicht tatsächlich einmal über den Libanon, dessen internes Chaos viel mit dem von außen forcierten Abzug Syriens im Frühjahr vergangenen Jahres zu tun hat?[2] Begänne man, sich mehr mit solchen realen Aspekten der Wirklichkeit außerhalb Deutschlands zu befassen, und weniger damit, wie sie uns aus interner deutscher Perspektive berührt, wäre einiges gewonnen.
Soweit hierzulande über den Konflikt zwischen Israel und Hisbollah debattiert wird, dann überwiegend unter Rückgriff auf analytisch schwach fundierte Schreckensfantasien oder gar schrille Parteilichkeit.
Der einzige intellektuell ambitionierte Beitrag zur Krise in Nahost, der in letzter Zeit in der deutschen Öffentlichkeit ein großes Echo fand, ist Hans Magnus Enzensbergers Essay Schreckens Männer, in dem der einst anregende Denker auf 50 dünn bedruckten Seiten den islamischen Fundamentalismus kurzerhand als neue Form eines damals wie heute vorgeblich von männlichen Verliererpsychosen verursachten Faschismus präsentiert und resigniert folgert: „Damit wird eine Weltgesellschaft, die von fossilen Brennstoffen abhängig ist und die fortwährend neue Verlierer produziert, leben müssen.“[3] Das sind Untergangsszenarien, die zum Verstehen der globalen Dynamik aktueller Konflikte wenig beisteuern, doch für die geistige Ermattung und das introvertierte Selbstmitleid, mit dem Deutschland der neuen Welt des 21. Jahrhunderts gegenüber tritt, wohl als durchaus typisch gelten müssen.
Die hiesige Debatte über Israel verläuft noch immer in den Schützengräben linken Sektierertums. Wohl ist wahr, dass einseitig pro-palästinensische Positionen, die im Laufe des Krieges von einer Handvoll Demonstranten und linker Publikationen vertreten wurden, die prekäre Lage Israels im Nahen Osten ausblenden. Wahr ist auch, dass „Betroffenheitspazifismus“[4] keine Antwort auf die Frage liefert, wie Israel im Nahen Osten überleben kann. Aber das tun jene, die solchen Minderheitspositionen unverdiente Aufmerksamkeit schenken, auch nicht. Und das schon gar nicht, wenn sie sich eine nicht minder einseitige und teils schon bellizistische Parteinahme für die Militärpolitik Israels zu eigen machen, die nicht zuletzt in Israel selbst, wo man schließlich weiß, worum es geht, stark umstritten ist.
Während die USA ihre innere Krise in Form des globalen „Krieges gegen den Terror“ in den Nahen Osten exportiert haben, projiziert Deutschland seine noch immer unverstandene Vergangenheit auf die Außenwelt. Beides ist dem Geschehen gleichermaßen unzuträglich. Da wird sich an Identifikationen mit Kombattanten hochgezogen, statt das zu tun, was von außerhalb das einzig Richtige ist: mit offenem Blick auf die komplizierte Wirklichkeit so etwas wie freies Denken zu betreiben, was in der Kriegszone selbst nur schwer möglich ist.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!