01.05.2007

Der Zusammenstoß von Biotechnologie und post-christlicher Religiosität

Essay von Lee M. Silver

Christliche Fundamentalisten und radikale Gentechnikgegner scheinen auf den ersten Blick recht unterschiedliche Menschen zu sein. Aber ihre Weltsicht basiert auf derselben Grundüberzeugung: auf der Furcht, eine transzendente göttliche Autorität zu verletzen.

Biotechnologie und die „natürliche“ Welt
Die lange Geschichte, das Erbe und der überwältigende Einfluss, den die Biotechnologie auf uns Menschen und die gesamte Biosphäre hat, wird selbst von gebildeten Menschen nicht in vollem Maße erfasst und gewürdigt. Nach vorherrschender Sichtweise ist sie eine Erfindung des 20. und 21. Jahrhunderts und hat ihren Ursprung in Hightech-Labors. Tatsächlich jedoch entstand die Biotechnologie – definiert als „jegliche technologische Anwendung, die biologische Systeme, lebende Organismen oder Bestandteile davon nutzt, um Produkte oder Prozesse für spezielle Zwecke herzustellen oder zu modifizieren“ [1] – bereits am Ende der letzten Eiszeit.
Zu jener Zeit wuchsen die menschlichen Populationen rasch an und dehnten sich in den subtropischen und gemäßigten Klimazonen Amerikas und Eurasiens aus. Viele Säugetierarten (darunter Mammuts, Mastodonten, Riesenfaultiere und Säbelzahntiger) wurden ausgerottet, und essbare Pflanzen wurden dezimiert.
Früher, als der globale Fußabdruck der Menschheit noch kleiner war, konnte ein Stamm von einem Gebiet, das er ausgebeutet hatte, in ein neues, jungfräuliches Habitat weiterziehen. Doch nun wurden die noch nicht besetzten, bewohnbaren Gebiete der Erde immer rarer. Eine andere Spezies wäre unter der Last des eigenen unstillbaren Appetits zusammengebrochen. Doch die menschlichen Gene hatten den Menschen die Fähigkeit verliehen, einen revolutionär neuen Lebensstil zu entwickeln, der das überkommene Gleichgewicht von Anpassung und Überleben zerstörte. Anstatt sich – wie jedes andere Lebewesen zuvor – so gut es ging an eine Welt von Wildpflanzen und wilden Tieren anzupassen, nahmen die Menschen die Evolution in die eigene Hand und erfanden die Landwirtschaft.

„Die Biotechnologie entstand am Ende der letzten Eiszeit. Ihre Erfindung stellt einen fundamentalen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit dar und eröffnete uns den Weg in die Zivilisation.“


Das landwirtschaftliche Denken entstand durch die Entdeckung dessen, was wir heute als Gene bezeichnen: jenen unsichtbaren Bestandteilen von Samen, die dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Eigenschaften von Pflanze oder Tier weitergegeben werden. In mindestens vier weit voneinander entfernten menschlichen Gemeinschaften gelang es, durch ein Verständnis der Vererbung neuartige Organismen mit immer vorteilhafteren Eigenschaften zu erschaffen. Genetische Überlegenheit wurde nicht als etwas gesehen, das für das Überleben der Pflanzen in der Wildnis am besten gewesen wäre, sondern als etwas, das einen kleinen Vorteil für den Bauer und den Verbraucher bot. In Mittelamerika wurde der dürftige, Samen tragende Stängel einer Gräserart namens Teosinte in einen Kolben mit dem Hundertfachen an nicht abfallenden Samenkörnern verwandelt. [2] In Südamerika wurden Sträucher aus der Familie der giftigen Nachtschattengewächse (Solanaceae) mit knolligen Wurzeln, stachligen Ästen und bitteren, beerengroßen Früchten in saftige rote Tomaten, Kartoffeln, Süßkartoffeln und Paprika verwandelt. Geringwertige wilde Pflanzen in anderen Teilen der Welt wurden entsprechend zu Reis, Gerste, Weizen und anderen hochwertigen Getreidesorten. [3]
Auch Tiere wurden genetisch verändert, um ihren Wert zu erhöhen. Haarige Ziegen wurden zu Schafen, die einen unnatürlichen Wollmantel tragen. Aus dem Auerochsen wurde ein Wesen, das 40 Liter Milch pro Tag produziert, deren Aminosäurezusammensetzung unbewusst so verändert wurde, dass sie zur menschlichen Ernährung besser geeignet ist. [4] In diesen und anderen Fällen wurden neue Eigenschaften erzeugt, indem verschiedene Arten durch Kreuzung kombiniert wurden. [5] Das Lama wurde in den Anden erzeugt, indem Tiere verschiedener Gattungen gekreuzt wurden. In fast allen Fällen ging die Domestizierung auch mit der Veränderung der Gene einher, die das Verhalten steuern. So wurden die Tiere zahm und scheuten die Anwesenheit von Menschen nicht.
Die Bedeutung der Biotechnologie ist kaum zu überschätzen. Ihre Erfindung stellt einen fundamentalen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit dar und eröffnete uns den Weg in die Zivilisation. Wenn man ein Stück Wildnis in ein Korn- oder Reisfeld umwandelte, vergrößerte sich der Ertrag an Essbarem um ein Vielfaches. Der Ackerbau erlaubte es einem Stamm, sesshaft zu werden. Das ausreichende Nahrungsangebot ermöglichte das Entstehen der Arbeitsteilung. Aus Siedlungen wurden Städte und schließlich Nationen. Domestizierte Lebewesen wurden gehandelt und quer durch Amerika, Europa, Asien und Afrika transportiert.
Domestizierte Tiere unterschieden sich so stark von wilden Tieren, dass die Autoren des Alten Testaments annahmen, Gott müsse sie separat erschaffen haben. [6] Entsprechend glauben heute Bauern in Mittelamerika, Mais sei ihnen von den Göttern gegeben worden und nicht durch das Geschick ihrer Vorfahren entstanden. Sie sind mit ihrem Mangel an Wissen nicht allein: Nur wenige der akademisch gebildeten Bürger westlicher Länder wissen, dass die meisten Dinge, die wir essen, nur sehr geringe Ähnlichkeit mit ihren wilden Vorfahren aufweisen. Den meisten fällt nicht auf, dass man Maispflanzen nie außerhalb von Maisfeldern findet. Heute werden 38 Prozent der globalen Landfläche für die Landwirtschaft genutzt, weitere 15 Prozent sind Siedlungsgebiete, und überall finden wir domestizierte Pflanzen und Tiere, die ihren Ursprung an einem weit entfernten Ort auf der Erde haben. [7] Überall in Europa, Afrika und Asien werden genetisch veränderte Nachfahren der mexikanischen Teosinte, von Reis und Schweinen aus Ostasien und Kühen und Weizen aus dem Nahen Osten gezüchtet bzw. angebaut.


Ein Gefühl für das Ausmaß, in dem die Europäische Landschaft schon in der Antike runderneuert worden war, bekommt man bei der Lektüre des Römers Tertullian, der im Jahre 180 schrieb: „Es ist ohne Zweifel hinreichend deutlich, wenn man sich die Welt betrachtet, dass sie von Tag zu Tag kultivierter und dichter bevölkert wird als früher. Alle Orte sind nun zugänglich … Felder haben Wälder ersetzt, Herden von Haustieren haben die wilden Tiere verdrängt. In die Sande wurde gesät, Felsen sind urbar gemacht, die Sümpfe trockengelegt … Überall sind Häuser und ihre Bewohner.“
Reist man heute mit dem Zug durch Europa, bietet sich dem Betrachter in stetem Wechsel Feld und Weideland, unterbrochen von Hainen und hübschen Dörfern mit mittelalterlichen Kirchen. Nicht der kleinste Winkel sieht so aus wie vor 10.000 Jahren. Die großen Wildtiere sind komplett verschwunden und durch Milchkühe ersetzt, die wiederkäuend herumstehen. In Europa gibt es auch einige größere, unter Naturschutz stehende Wälder und Nationalparks, wo dem Wildwuchs freies Spiel gelassen wird. Doch DNA-Analysen von prähistorischem Pollen zeigen, dass die Artenzusammensetzung von heutigen Naturschutzflächen mit Fauna und Flora aus der Zeit vor der landwirtschaftlichen Revolution kaum etwas gemein hat. Tatsächlich sind seit dem Anbruch der Zivilisation nur sehr wenige, wenn überhaupt irgendwelche Ökosysteme der Erde der direkten Um- bzw. indirekten Verwandlung entgangen.


Vitalismus in der modernen Welt
Der wesentliche Unterschied zwischen Nutz- und Wildpflanzen besteht darin, dass Erstere mit der Ernte vom Feld genommen werden, um gegessen oder an Tiere verfüttert zu werden. Somit werden große Mengen fixierten Stickstoffs und anderer wichtiger Mineralien vom Acker entfernt. In der vorwissenschaftlichen Zeit erschien es, als ob der Boden seine „Lebenskraft“ verliere. Obwohl die Fruchtbarkeit durch das Ausbringen von Mist und anderer organischer Abfälle wieder erhöht werden konnte, war die landwirtschaftliche Produktivität durch die Geschwindigkeit, mit der diese natürlichen Ressourcen produziert werden konnten, begrenzt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese maßgebliche Begrenzung durch die Erfindung einer Methode zur Gewinnung von Stickstoff aus der Luft überwunden. Heute werden jährlich 70 Mio. Tonnen synthetisch hergestellten Düngers eingesetzt, um Nahrungsmittel für 40 Prozent der Menschheit zu produzieren. [8] Wenn diese Methode abgeschafft würde, müssten entweder zwei Mrd. Menschen verhungern, oder die verbleibenden Wälder der Welt müssten gerodet und in Ackerfläche umgewandelt werden, was ebenfalls für unser Wohlergehen nicht förderlich wäre.
Die europäische Landbevölkerung sah diesen wissenschaftlichen Durchbruch in einemanderem Licht. Sie war mit der Behauptung, dass man die „Lebenskraft“ aus anorganischer Materie (Luft) gewinnen konnte, konfrontiert und darob ernsthaft verwirrt. Gleichzeitig stellten Kunstdünger und andere synthetische Produkte sowie Maschinen eine enorme Bedrohung für die traditionelle ländliche Lebensweise dar. Im Jahr 1924 kam der österreichische Philosoph und Mystiker Rudolf Steiner mit der wissenschaftlich klingenden Behauptung der Überlegenheit einer, wie er es nannte, „biodynamischen“ Landwirtschaft zur Hilfe. [9] Biodynamik bedeutet so viel wie Lebenskraft. Noch heute halten sich Öko-Bauern an Steiners Regeln und richten sich bei Aussaat und Ernte danach, wo Sonne, Mond, Sterne und Planeten gerade stehen. Haustiere sind ein wichtiger Bestandteil des Systems, weil sie durch ihren Mist „Lebenskräfte bewahren und recyceln“. Des Weiteren wird jeder Bauernhof als individueller selbstgenügsamer Organismus innerhalb des größeren Organismus „Mutter Erde“ betrachtet. Da kleine Bauernhöfe dann doch nicht genug hergeben, dürfen biodynamische Zubereitungen gekauft werden, die die kosmischen Kräfte bündeln.

„Viele Verbraucher glauben, in der ‚organischen‘ Landwirtschaft würden keine giftigen Chemikalien eingesetzt. Dies ist jedoch schlicht falsch.“


Vor dem 18. Jahrhundert nahmen die meisten Gelehrten an, dass die Substanz, aus der Lebewesen bestehen, sich von der nicht lebender Dinge fundamental unterscheide. Organismen und ihre Produkte wurden als „organisch“ betrachtet, nicht lebende Dinge waren mineralisch oder „anorganisch“. Mit der Erfindung der Chemie entdeckten die Wissenschaftler die Inkohärenz dieser traditionellen Trennung, und Chemiker begannen damit, das Wort „organisch“ zur Bezeichnung komplexer Kohlenstoffverbindungen zu nutzen, egal ob diese von Lebewesen stammten oder nicht. Diese wissenschaftlichen Fortschritte ignorierte der amerikanische Publizist J. I. Rodale und nutzte die vorwissenschaftliche, vitalistische Definition von „organisch“ für den Titel seiner Zeitschrift Organic Farming & Gardening, die es noch heute gibt. Inspiriert von Steiners biodynamischer Überzeugung, dass wir uns an „Mutter Erde, unserer großen nährenden Mutter“ orientieren müssten, lehnen Rodale – und mit ihm alle Ökobauern bis zum heutigen Tage – den Einsatz von Stoffen, die im Labor entstanden sind, bei der Erzeugung „organischer“ Lebensmittel ab. Und sie sind felsenfest davon überzeugt, dass es so besser für Umwelt und Gesundheit der Verbraucher sei. Mithilfe starker Lobbyorganisationen haben sie es geschafft, dass ausschließlich Öko-Kennzeichnungen benutzt werden, die weder etwas über die Qualität des Produkts aussagen, die sich von der anderer Lebensmittel nicht unterscheiden lässt, noch über die Umweltverträglichkeit der Produktion, sondern sich nur auf die Herstellungsmethoden beziehen.


Das Marketing für Öko-Produkte ist sehr erfolgreich. Mittlerweile glauben die meisten Verbraucher in den westlichen Ländern, in der „organischen“ Landwirtschaft würden keine giftigen Chemikalien eingesetzt. Dies ist jedoch schlicht falsch. Zu den von Öko-Landwirten häufig und bis zum Tag der Ernte genutzten Pestiziden im Obstbau zählt beispielsweise Pyrethin (mit der chemischen Formel C21H28O3). Ein weiteres, in den USA, der Schweiz und einigen anderen Ländern zugelassenes Mittel ist Rotenon (C23H22O6), ein starkes Nervengift, das lange zum Töten von Fischen genutzt worden war und inzwischen mit dem Entstehen der Parkinsonkrankheit in Verbindung gebracht wird. [10]
Wie können die Öko-Landwirte den Einsatz solcher Pestizide rechtfertigen? Die Antwort ergibt sich aus dem Irrglauben, dass Stoffe, die von Lebewesen produziert werden, keine „echten“ Chemikalien seien. Da Pyrethin aus Chrysanthemen und Rotenon aus den Wurzeln von Barbasco, einem Strauch aus der Familie der Schmetterlingsblütler, gewonnen werden, gelten die Mittel als „organisch“. Doch die gefährlichsten unter den uns bekannten Giften, etwa Rizin und Strychnin, sind vollkommen natürlich und „organisch“. Tatsächlich werden alle heute zugelassenen Pestizide, ob natürlichen Ursprungs oder synthetisch hergestellt, sehr schnell abgebaut und stellen ein vernachlässigbares Risiko für den Verbraucher dar.


Das Gottvertrauen in das Gute der Natur kann zumindest für einige Kinder böse enden. Rund fünf Prozent entwickeln schwere allergische Reaktionen auf natürliche Lebensmittel, und jedes Jahr kommt es in Hunderttausenden von Fällen zu einem anaphylaktischen Schock, der für einige Hundert tödlich endet. Auslöser ist eine kleine Zahl gut bekannter Proteine in bestimmten Nahrungsmitteln – insbesondere in Erdnüssen, Sojabohnen, Nüssen, Eiern, in Milch und in Schalentieren –, die von den Verdauungssäften nicht zerstört werden. Kein Land hat sich bisher dafür entschieden, diese Substanzen in verarbeiteten Lebensmitteln zu verbieten, obwohl dadurch viele Todesfälle verhindert und viel Leiden vermieden werden könnte. Die Gentechnik könnte eine noch bessere Lösung bieten: die Nutzung von gezielten RNA-Technologien zur Stummschaltung von Genen, die für die Produktion dieser Stoffe in der Pflanze verantwortlich sind. Auf diese Weise haben Wissenschaftler bereits allergiearme Sojabohnen entwickelt, und auch bei Erdnüssen und Shrimps gibt es vielversprechende Ansätze. [11] Irgendwann werden konventionelle Soja- und Erdnussbauern vielleicht auf gentechnisch veränderte, allergiefreie Sorten umstellen. Wenn dieser Tag gekommen ist, werden ökologisch erzeugte, gentechnikfreie Sojabohnen und Erdnüsse nachweislich gefährlicher für die menschliche Gesundheit sein als vergleichbare nichtökologische Produkte. Leider gibt es für Landwirte keinerlei Anreiz zum Anbau allergenarmer Sorten, solange es für die konventionellen Sorten keine Verkaufsbeschränkungen gibt und große Teile der Öffentlichkeit weiter dem Glauben anhängen, jede genetische Veränderung stelle ein Risiko dar. Im gegenwärtigen Klima wird ein Großteil der Forschung, die für solche verbesserten Produkte notwendig wäre, einfach nicht durchgeführt. So sind Gentechnikgegner indirekt dafür verantwortlich, wenn in einigen Jahren immer noch Kinder an schweren allergischen Reaktionen sterben, die sich hätten vermeiden lassen.


Post-christliche Religiosität
Bei wachsender Weltbevölkerung werden traditionelle „organische“ Methoden in Ackerbau und Viehzucht immer mehr Land benötigen, um mehr Menschen zu ernähren. Die Kosten hierfür sind der Verlust von Wäldern, eine stärkere Umweltbelastung und der Rückgang der Artenvielfalt. Gleichzeitig verhindert eine tief greifende Angst vor der modernen Biotechnologie jedes öffentliche Engagement zur Erreichung ökologischer und humanitärer Ziele, einschließlich der Verkleinerung des globalen Fußabdrucks des Menschen. Die Landwirtschaftsorganisation FAO der Vereinten Nationen schrieb in ihrem Bericht für das Jahr 2004: „Der Großteil der biotechnologischen Agrarforschung erfolgt in Privatunternehmen, die vorwiegend in Industrieländern angesiedelt sind. Dies ist eine dramatische Abkehr von der grünen Revolution, in der die Regierungen eine starke Rolle gespielt haben, um die Möglichkeiten der Agrarforschung zur Bekämpfung von Hunger und Armut in den Entwicklungsländern einzusetzen.“ [12]


Das halsstarrige Festhalten an irrationalen Überzeugungen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen und empirischen Beweisen widersprechen, kann meist auf religiöse Indoktrination zurückgeführt werden. In der westlichen Welt sind christliche Dogmen zumeist die ersten Verdächtigen. Doch gebildete traditionelle Christen zeigen sich durchaus gewillt, gentechnisch veränderte (GV-)Pflanzen auf der Basis einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung zu beurteilen. So ist es nicht verwunderlich, dass sechs der zehn Länder mit den größten GV-Anbauflächen (in 2004) in der christlich dominierten, nicht-europäischen westlichen Welt liegen. [13] Die christliche Akzeptanz der Biotechnologie hat ihre Wurzeln in der Bibel. Nach Gottes Bild geschaffen, soll der Mensch über Tiere und Pflanzen herrschen. [14]
Doch wenn der christliche Glaube nicht für die Anti-Gentech-Ideologie und die historische Ignoranz verantwortlich ist, wer dann? Ich glaube – und führe das in meinem neuen Buch Challenging Nature weiter aus –, dass wir es mit einem post-christlichen Glaubenssystem zu tun haben, das aus dem Christentum mit komplett anderen Werten hervorgegangen ist. [15] Die Säkularisierung der westlichen Erziehung hat die Menschen in Scharen von den Lehren der Kirche entfernt, insbesondere in Europa, wo in vielen Ländern weniger als die Hälfte der Menschen an einen persönlichen Gott glauben. [16] Einige werden Atheisten oder Agnostiker, aber ebenso viele (einschließlich einem Viertel der Bevölkerung Schwedens, der Schweiz, Österreichs, Norwegens und Westdeutschlands) bekennen sich heute zum Glauben an „eine höhere Macht“.

„Die post-christliche Mutter-Natur-Spiritualität ist noch verderblicher als der christliche Fundamentalismus. Sie bleibt oft unerkannt, da sie verneint, überhaupt religiös zu sein.“


Es scheint, als ob die Zurückweisung des männlichen Gottes der Bibel bei vielen Menschen mit dem Bedürfnis einhergeht, die entstehende spirituelle Leere mit einem Ersatz zu füllen. Da die westliche Kultur von hartnäckigem judäo-christlichem Monotheismus und Eschatologie durchdrungen ist, scheint der einfachste Ersatz durch eine Transformation traditionellen christlichen Glaubens in eine post-christliche Religiosität zu bewerkstelligen zu sein. Die Heiligkeit des materiellen menschlichen Körpers – symbolisiert in Jesus – verwandelt sich in die Heiligkeit einer materiellen Mutter Natur. Gottes Masterplan für die Menschheit wird zu Mutter Naturs Masterplan für die die Biosphäre der Erde. Die irdischen Kreaturen werden nun als Teile des Körpers von Mutter Natur betrachtet, und ihr gemeinsamer Genpool wird zur modernen Entsprechung des Heiligen Geistes. Aus dieser Perspektive stellt die gentechnische Veränderung von Pflanzen einen Akt des Ungehorsams gegenüber der „höheren Macht“ dar, die dafür Rache am Menschen nehmen werde.


Eine anonyme Umfrage, bei der ich rund 400 Studenten befragte, die an der Universität von Princeton ihr Grundstudium absolvierten, deutet an, in welchem Ausmaß auch hochgebildete junge Amerikaner vom Mutter-Natur-Glauben infiziert sind. Ich fragte unter anderem: „Kann eine Spezies, ein Ökosystem oder eine andere Gruppierung von mehreren Lebewesen eine einheitliche, immaterielle Seele haben?“ Mögliche Antworten waren „Ja“, „Nein“ und „Vielleicht“. Obwohl der Glaube an einen multiorganismischen Geist nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar ist, zu dem sich 85 Prozent der Studenten in Princeton selbst bekennen, waren sich nur 48 Prozent der Studentinnen und 61 Prozent der männlichen Studenten so sicher, dass sie die Frage klar verneinten. Unter den Studentinnen der Geisteswissenschaften waren es sogar nur 36 Prozent. Die Ergebnisse legen nahe, dass selbst in den christlich dominierten USA die post-christliche Religiosität eine starke Kraft geworden ist, mit der man rechnen muss.


Die post-christliche Mutter-Natur-Spiritualität ist vielleicht noch verderblicher als der christliche Fundamentalismus. Denn sie bleibt oft unerkannt. Post-christliche Gläubige verneinen typischerweise, dass sie überhaupt religiös sind. Selbst wenn sie unerschütterlich an ihrer Überzeugung festhalten, „natürlich“ sei gut und „künstlich“ schlecht.
Ich sage nicht, dass alle Ausdrücke von Spiritualität gefährlich oder schlecht sind. Auch denke ich nicht, dass alle Anwendungen der Biotechnologie per se gut, ethisch oder risikofrei sind. Tatsächlich erfordert die Entscheidung für oder gegen bestimmte Anwendungen der Biotechnologie schwierige Abwägungen zwischen verschiedenen ethischen Werten, etwa der Selbstbestimmung des Menschen, der Bewahrung kultureller Traditionen, dem gesellschaftlichen Wohlergehen und dem Umweltschutz. Aber ein rationales Verständnis, dass es hier tatsächlich um Abwägungen geht, ist unverzichtbar für einen guten politischen Prozess in einer demokratischen Gesellschaft. Und der erste Schritt hin zu mehr Rationalität ist die Enttarnung unterschwelliger Glaubenssysteme jedweder Art.

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