10.06.2009

Der Wähler spricht – und keiner will’s hören

Kommentar von Sabine Reul

Nach den Europawahlen herrscht Konsens in Medien und Politik. Der Wähler ist dumm und wählt die falschen Parteien.

Nach der Lektüre mancher Kommentare zum Ausgang der Europawahlen fragt man sich, auf welchem Planten die Urheber wohl weilen. Oh, wie schrecklich, heißt es da: Die Leute gehen nicht wählen; und wenn, dann wählen sie Nationalisten und Euroskeptiker, die unsere schöne Europäische Union zerstören. Kurz gesagt: Der Wähler ist dumm. So lautet in weiten Teilen das Fazit zur Wahl aus Politik und Medien.

Weit gefehlt, kann man dazu nur sagen. Die Wähler in den 27 Staaten der Europäischen Union haben eine überaus deutliche Sprache gesprochen. Sie sind zu fast 60 Prozent den Urnen ferngeblieben und haben von England über die Niederlande und Österreich bis nach Ungarn, Bulgarien und Rumänien bis zu 30 Prozent ihrer Stimmen europakritischen bis nationalistischen Parteien gegeben. Rein arithmetisch bedeutet das, dass europaweit im Durchschnitt bestenfalls etwa 30 Prozent der Wahlbürger für Parteien stimmten, die – und auch das beispielsweise im Fall der deutschen CSU nur mit Abstrichen – als Befürworter der EU gelten können. Nicht umsonst haben europaweit gerade die Sozialdemokraten die empfindlichsten Verluste hinnehmen müssen: sie sind von allen Parteien die uneingeschränkt fanatischsten Anhänger des EU-Apparatesystems.

Wie viel deutlicher soll der Souverän sich denn noch ausdrücken? Nach den Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland seit 2005 haben die Wahlbürger Europas erneut unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass die Verfasstheit des politischen Prozesses auf dem Kontinent ihnen entweder nicht behagt oder sie nicht von seiner Relevanz zu überzeugen vermag. Nun liegt es an den Entscheidungsträgern, dieses Votum ernst zu nehmen und ihr Handeln entsprechend auszurichten. Dass ihnen dieses Votum missfällt, ist nachvollziehbar. Aber das ist eben der Sinn der Übung. Die Wähler sind ja nicht dazu da, ihren politischen Repräsentanten zu gefallen oder den jeweils gegebenen institutionellen Arrangements zu applaudieren, sondern sie kritisch zu beobachten, zu beurteilen und zu wählen oder abzuwählen. Das nennt man parlamentarische Demokratie, und die Veranstaltung dient dazu, die Gesellschaft über sich selbst, ihre Missstände und Möglichkeiten aufzuklären und dem Handeln des politischen Führungspersonals entsprechend Richtung zu geben.

Die Mehrheit der Wähler ist nicht gegen eine Europäische Union, sondern gegen diese, nicht gegen ein vereintes Europa, sondern gegen die Art, in der es über ihre Köpfe hinweg veranstaltet wird. Wollte man beispielsweise in Deutschland an der Wahlurne eine wie auch immer motivierte prinzipielle Kritik der Verfasstheit der EU zur Geltung bringen,  blieb einem gar nichts übrig, als seine Stimme recht obskuren Außenseiterformationen zu geben. Es ist daher nicht nur unlauter, die Wähler europakritischer Kandidaten, die auch nationalistische oder islamfeindliche Positionen vertreten, pauschal als Rechtsextremisten abzuqualifizieren, oder, wie dies jetzt ebenfalls routinemäßig erfolgt, europaskeptische Wahlplattformen mit nationalistischen in einen Topf zu werfen. Es ist obendrein dumm. Wie viele Wahlbürger möchte man noch aus dem politischen Mainstream ausgrenzen – vielleicht 60 Prozent? Die wirkliche Frage ist doch, wieso die EU überhaupt zum Fokus reaktiver Mobilisierungen geworden ist, statt progressiven, vorwärts weisenden Kräften Schwung zu geben. Bei aller Komplexität der Motive und Hintergründe, die den Wahlergebnissen in der nun fast eine halbe Milliarde Menschen umfassenden Europäischen Union im Einzelnen zugrunde liegen, eines ist klar: Die europäische Politik hat erneut einen schweren Legitimitätsverlust erlitten. So wird es nicht mehr lange weitergehen können.

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