01.03.2004
Der Tod ist keine Lösung
Analyse von Kevin Yuill
Über die wachsende Aufgeschlossenheit gegenüber Selbstmord und Sterbehilfe.
Der Fall des querschnittsgelähmten 22-jährigen Vincent Humbert, der von seiner Mutter am dritten Jahrestag seines Autounfalls eine Überdosis Beruhigungsmittel in den Tropf, mit dem er intravenös versorgt wurde, gegeben bekam, verursachte eine lebhafte Kontroverse in Frankreich und ganz Europa.
Marie Humberts Versuch, das Leben ihres Sohns zu beenden, missglückte. Er fiel ins Koma. Am 26. September 2003 stellte der Arzt Frederic Chaussoy die lebenserhaltenden Systeme ab. Einen Tag zuvor war Vincents Buch Je vous demande le droit de mourir (Ich fordere das Recht zu sterben) veröffentlicht worden. Er hatte es Buchstabe für Buchstabe „diktiert“, indem er den Daumen gegen die Hand seiner Mutter drückte. Im Jahr 2002 hatte Vincent erfolglos an Präsident Jacques Chirac geschrieben, um sein Recht zu sterben einzufordern.
Marie Humbert wurde festgenommen und in die Psychiatrie eingewiesen. Nach dem Gesetz ist Euthanasie absichtliche Tötung oder Mord und Beihilfe zum Selbstmord unterlassene Hilfeleistung. Umfragen zufolge befürworten jedoch 88 Prozent der Franzosen eine Änderung des Gesetzes. Und es ist erkennbar, dass diese neue Offenheit gegenüber Beihilfe zu Freitod und Euthanasie nicht auf Frankreich beschränkt ist.
In ganz Europa ist die Euthanasie ein großes Thema. Seit April 2002 ist Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid in den Niederlanden legal. Ärzte, die die tödliche Injektion verabreichen, müssen sicherstellen, dass der Freitod freiwillig und „wohl bedacht“ erfolgt und ein unerträgliches Leiden ohne Aussicht auf Besserung gegeben ist. Jugendliche zwischen 12 und 18 können getötet werden, wenn die Eltern in den Entscheidungsprozess einbezogen sind. Bei Kindern unter 16 müssen die Eltern zustimmen.
In Deutschland lebte die Euthanasiedebatte wieder auf, als die 53-jährige Krebsärztin Mechthild Bach in Verdacht geriet, 76 Patienten getötet zu haben, indem sie ihnen Überdosen Morphium gegeben hatte. Auch in Spanien ist die Euthanasie verboten, doch jeder sechste Arzt gibt an, Menschen beim Sterben geholfen zu haben. Einer sagte: „Wir alle wissen, was wirklich passiert. Normalerweise handelt es sich um sehr eindeutige Fälle, aber es wäre besser für Patient und Arzt, wenn es offizielle Regelungen gäbe.“
In Belgien wurde die Sterbehilfe im September 2002 mit breiter Zustimmung der Bevölkerung legalisiert. 200 Fälle wurden im ersten Jahr registriert. Der erste, der auf diese Weise starb, der MS-Patient Mario Verstraete, ließ seinen Tod live im Fernsehen übertragen. Seine Krankheit war noch nicht im letzten Stadium, doch er war einer der eifrigsten Verfechter der Sterbehilfe. In der Schweiz ist Sterbehilfe verboten, doch ist Beihilfe zum Suizid „aus nicht-egoistischen Gründen“ erlaubt.
Auf den ersten Blick handelt es sich beim Tod von Vincent Humbert um einen tragischen Fall, und alle Beteiligten verdienen unsere Sympathie. Die Reaktion der französischen Behörden war wohlwollend, obwohl sie weiter gegen eine Gesetzesänderung sind. Der französische Gesundheitsminister Jean-François Mattei lehnte eine Regulierung ab, da er befürchtete, dass kein Gesetz die Problematik, die immer eine „des Gewissens“ bleiben wird, lösen kann. Die wachsende Offenheit gegenüber einer liberalen Gesetzgebung in ganz Europa ist die Folge einer unkritischen Haltung, die man analysieren und der man widersprechen sollte.
Zunächst ist zu fragen, seit wann die Überzeugung eines deprimierten jungen Mannes als außergewöhnliche Weisheit gilt? Vincent Humbert hatte gewiss mehr Grund, sich schlecht zu fühlen, als andere. Doch wie in den meisten Fällen von Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid waren nicht Krankheit und Schmerz die Basis für die Entscheidung, sondern tiefe Niedergeschlagenheit. Die Tatsache, dass er in der Lage war, ein viel gelesenes Buch zu schreiben, zeigt, wozu ihn der Rest Leben, der in ihm war, noch befähigte. Er hätte – mit viel Hilfe – mit seiner Situation zurechtkommen können. Verschiedene Studien haben nachgewiesen, dass Schmerzen fast nie der Hauptgrund sind, wenn der Wunsch nach Sterbehilfe geäußert wird. Bei Humbert waren sie seinem Buch zufolge nur ein nachgeordnetes Motiv.
Es wird immer deutlicher, dass, wenn die Beihilfe zum Selbstmord erst erlaubt ist, es unmöglich wird, entsprechende Wünsche abzuschlagen. Das holländische Gesetz schreibt vor, dass die Patienten nur noch „unerträgliches und nicht verhinderbares Leiden“ zu erwarten haben dürfen und dass Arzt und Patient überzeugt sein müssen, dass es keine andere Lösung gibt.[1] Aber wie messen die holländischen Behörden Leiden? Die Wahrheit ist, dass weder sie noch sonst jemand das kann.
Dr. Philip Sutorius wurde in Holland angeklagt, nachdem er dem 86-jährigen ehemaligen Mitglied der holländischen Regierung Edward Brongersma tödliche Medikamente überlassen hatte, die der Patient dann selbst einnahm. Brongersma, der körperlich in guter Verfassung war, hatte gesagt, er sei das Leben leid. Die Angst, die Selbstständigkeit einzubüßen, und die schwindende Fähigkeit, Dinge zu tun, die einem Befriedigung und Erfüllung bringen, sind die am häufigsten berichteten Gründe von Menschen, die in Oregon im Jahre 2002 Beihilfe zum Selbstmord verlangten. Wenn ein Patient entschlossen genug ist, findet er in der Regel einen Arzt, der kooperiert.
„Den Kämpfern für das Recht auf Sterbehilfe geht es um die Legitimierung ihrer eigenen kurzsichtigen Hoffnungslosigkeit und ihres persönlichen Haderns mit der Zukunft.“
Die meisten, die die Legalisierung der passiven Sterbehilfe befürworten, sind nicht der Auffassung, dass jeder Selbstmord unterstützt werden sollte. Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die breite Legalisierung der Sterbehilfe zu einer Legitimierung jeder Art von Selbstmord führen wird und damit ein Tabu fällt, das bisher in allen Kulturen existiert hat.
Ein von manchen befürchteter großer Dammbruch, wonach die Legalisierung passiver Sterbehilfe letztlich zu Euthanasieprogrammen führen werde, wie sie von den Nazis bekannt sind, ist nicht plausibel. Doch die Gefahr einer nicht ausdrücklich gewünschten und dennoch erfolgenden Tötung ist beim gegenwärtigen starken Kostensenkungsdruck in der Gesundheitsversorgung nicht von der Hand zu weisen. Helene Gefflot beschrieb in der französischen Tageszeitung Libération, wie Ärzte auf die Tötung ihrer gelähmten und tauben Tochter drängten: „Fünf Jahre lang haben wir, die Eltern und Freunde, gegen die im Krankenhaus gekämpft, die unsere Tochter euthanasieren wollten.“ Die Gefahr einer Regulation der Sterbehilfe liegt darin, dass zunehmend Vertreter irgendwelcher Institutionen darüber urteilen werden, wer noch über Lebensqualität verfügt und wer nicht.
Wenn Mediziner in der Lage sind zu definieren, was Lebensqualität ausmacht, würden sie unausweichlich von dieser klinischen Definition Gebrauch machen, um zu entscheiden, wer es wert ist, gerettet zu werden, und wer nicht. Dies ist die Sorge von Behindertenaktivisten der Gruppe Not Dead Yet[2] und anderer Gruppen, die bestreiten, dass Lebensqualität klinisch definiert werden kann. Das ist genauso wenig möglich, wie es – wie lächerlicherweise in der Schweiz vorgegeben wird – „nicht-egoistische“ Selbstmorde geben kann.
Im Zentrum des Niedergangs des Selbstmordtabus kann man eine Sinnkrise ausmachen. Früher war die Religion für die Sinnstiftung in Hinblick auf Leben und Sterben zuständig und sorgte für eine rituelle Verabschiedung, wenn unsere Zeit abgelaufen war. Den Kämpfern für das Recht auf Sterbehilfe geht es um die Legitimierung ihrer eigenen kurzsichtigen Hoffnungslosigkeit und ihres persönlichen Haderns mit der Zukunft. Sie wollen nicht einfach ruhig sterben, sondern ihren Verdruss in Hinblick auf alles menschliche Leben und ihre Botschaft der Sinnlosigkeit verbreiten.
Wir werden aufgefordert, dem sprichwörtlichen Mann auf der Brücke einen Stoß zu geben, statt nach den Motiven seiner Verzweiflung zu suchen. Wir sollten menschliches Leiden nicht klein reden, wir sollten uns aber daran erinnern, dass der Tod die Antithese zum Leben ist und nicht eine mögliche Lösung für Probleme des Lebens.